Bil­dung, Bil­dung, Bildung

Was gegen den Rechts­ruck in Poli­tik und Gesell­schaft hilft – und was nicht

„Die Demo­kra­tie steht unter Druck.“ Die­ser Satz wird der­zeit oft wie­der­holt, so oft, dass er zu einer Phrase zu ver­kom­men droht. Das sollte nicht sein, denn er ist trotz­dem wahr und steht für ein inter­es­san­tes Para­dox: Einer­seits erle­ben wir in die­sen Jah­ren das demo­kra­tischste, frei­este, libe­ralste, anti­ras­sis­tischste und viel­leicht auch resi­li­en­teste Deutsch­land aller Zei­ten; ande­rer­seits ist genau die­ser Zustand bedroht wie nie zuvor durch einen Rechts­rutsch, der in den ver­gan­ge­nen zwei Jah­ren beson­ders mess­bar und spür­bar gewor­den ist. Vie­les, was wir heute als demo­kra­ti­sche Errun­gen­schaf­ten fei­ern und wert­schät­zen, war in den letz­ten 75 Jah­ren des Gel­tungs­be­reichs des Grund­ge­set­zes kei­nes­wegs selbst­ver­ständ­lich, son­dern wurde in ver­schie­de­nen Moder­ni­sie­rungs- und Libe­ra­li­sie­rungs­wel­len erkämpft.

Wir haben es mit einer mehr­fa­chen Zan­gen­be­we­gung zu tun: Bedro­hun­gen kom­men von innen und außen, von unten und oben. Im Kon­text der Wah­len des Euro­päi­schen Par­la­ments und – das wird häu­fig über­se­hen – in Deutsch­land ins­be­son­dere auf der kom­mu­na­len Ebene steht eine mas­sive Nor­ma­li­sie­rung des Rechts­extre­mis­mus bevor, indem rechts­po­pu­lis­ti­sche bis rechts­extreme Bür­ger­meis­te­rin­nen, Bür­ger­meis­ter und Land­räte sowie Mehr­hei­ten in Stadt- und Gemein­de­par­la­men­ten dro­hen. Dies wird mas­sive Fol­gen haben für die soziale und kul­tu­relle Infra­struk­tur sowie für die poli­ti­sche Raum­kul­tur vor Ort.

Die Her­aus­for­de­run­gen kom­men von radi­ka­li­sier­ten Milieus, von den Prot­ago­nis­ten und Pro­fi­teu­ren des Rechts­extre­mis­mus. Bedroh­li­cher noch sind die unsicht­ba­ren Auf­winde dahin­ter. Was ver­ste­hen wir unter Rechts­extre­mis­mus sozio­lo­gisch? Im Kern geht es um poli­tisch radi­ka­li­sierte Ungleich­wer­tig­keits­vor­stel­lun­gen. Denen ist die Gewalt struk­tu­rell imma­nent; rechts­extreme Kon­zepte wie „Remi­gra­tion“ machen das deut­lich. Einer­seits geht es um die Bekämp­fung die­ser Radi­ka­li­sie­rungs­un­ter­neh­mer, ande­rer­seits aber ist der Rechts­extre­mis­mus auch ein Aus­druck mehr­deu­ti­ger und wider­sprüch­li­cher gesell­schaft­li­cher Ver­hält­nisse und umkämpf­ter Demo­kra­tie­ver­ständ­nisse, die viel tie­fer rei­chen als die Klauen des Rechtsextremismus.

Ers­tens exis­tie­ren extreme soziale Ungleich­hei­ten, die im Kon­text der Glo­ba­li­sie­rung und ihrer natio­na­lis­ti­schen Gegen­be­we­gun­gen immer stär­ker spür­bar und wahr­nehm­bar wer­den. Sie wer­den sicht­bar an Fol­gen von Flucht­mi­gra­tion und an den Bedro­hun­gen durch den glo­ba­len Kli­ma­wan­del mit erleb­ba­ren Fol­gen für das All­tags­le­ben der Men­schen. Bestehende soziale Ungleich­hei­ten wider­spre­chen den demo­kra­ti­schen Ansprü­chen nach Gleich­wer­tig­keit, nach Chan­cen­gleich­heit. Diese Dis­so­nanz zwi­schen den sys­te­misch erzeug­ten Ungleich­hei­ten und den demo­kra­ti­schen Ver­spre­chun­gen sind recht­fer­ti­gungs­be­dürf­tig. Sie kön­nen libe­ral gerecht­fer­tigt wer­den, sie kön­nen sozial gerecht­fer­tigt wer­den, sie kön­nen aber auch ras­sis­tisch und faschis­tisch gerecht­fer­tigt wer­den, um bei­spiels­weise zu erklä­ren, warum es legi­tim sei, dass im Bevöl­ke­rungs­durch­schnitt Deutsch­lands bei­spiels­weise die CO2-Emis­sio­nen neun- bis zehn­mal so hoch sind wie auf dem afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent. Warum ist das legi­tim? Warum erlau­ben wir uns einen Wirt­schafts- und Lebens­stil, der nur des­halb mög­lich ist, weil er exklu­siv ist und nicht für die Mehr­heit der Welt­be­völ­ke­rung mög­lich sein kann? Wenn man die his­to­ri­schen Ursa­chen und ideo­lo­gi­schen Recht­fer­ti­gun­gen hin­ter­fragt, dann lan­det man in der Regel bei Ungleich­wer­tig­keits­ideo­lo­gien und struk­tu­rel­lem Ras­sis­mus. Je offen­sicht­li­cher und spür­ba­rer Unge­rech­tig­kei­ten und Vul­nerabi­li­tä­ten der Welt wer­den, desto kom­pro­miss­lo­ser ent­wi­ckelt sich das Bedürf­nis nach Abschot­tung und nach Ent­so­li­da­ri­sie­rung. Zwei­tens exis­tie­ren Ungleich­zei­tig­kei­ten; die­sen Begriff hat eins der Phi­lo­soph Ernst Bloch geprägt. Laut Bloch sind nicht alle im sel­ben Jetzt da. Sie sind es nur äußer­lich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den ande­ren zugleich. Sie tra­gen viel mehr Frü­he­res mit. Die­ses mischt sich ein. Das Behar­ren auf über­hol­ten Vor­stel­lun­gen in der Moderne war für den Phi­lo­so­phen Bloch ein Wesens­zug, der den anti­mo­der­nen Cha­rak­ter des Natio­nal­so­zia­lis­mus für viele attrak­tiv machte. Das gilt für das diver­si­fi­zierte Deutsch­land, für die Post­mo­derne heute noch immer. Und durch die Kli­ma­krise im Beson­de­ren erhält diese Ungleich­zei­tig­keit auch eine neue Dimen­sion: Nicht nur wirt­schaf­ten Deutsch­land und andere Indus­trie­ge­sell­schaf­ten auf Kos­ten der Mehr­heit der weni­ger Pri­vi­le­gier­ten und der noch Ver­letz­li­che­ren auf der Welt, son­dern auch auf Kos­ten zukünf­ti­ger Gene­ra­tio­nen. Warum ist das legi­tim? Wie kann das mit demo­kra­ti­schen Wer­ten und mit der Gleich­wer­tig­keit in Ein­klang gebracht wer­den? Die Ant­wort von Rechts­au­ßen basiert auf Igno­ranz, Leug­nung, Ungleich­wer­tig­keits­idea­len und natio­nal­chau­vi­nis­ti­schem Autoritarismus.

Um die Repro­duk­tion des Rechts­extre­mis­mus und sei­nes Zustro­mes zu durch­bre­chen, dür­fen wir ihn nicht nur als ein iso­lier­tes Pro­blem exter­na­li­sie­ren, etwa indem wir ihn irgendwo bei ein paar ver­blen­de­ten Ost­deut­schen ver­or­ten, son­dern müs­sen ihn als die ima­gi­näre ideo­lo­gi­sche und nar­ziss­ti­sche Schein­lö­sung ver­ste­hen, die durch Abschot­tung und Ent­so­li­da­ri­sie­rung ver­spricht, gesell­schaft­li­che Kon­flikte zu ver­ein­heit­li­chen und ver­meint­lich auf­zu­lö­sen und gleich­zei­tig die Ver­tei­di­gung von unge­rech­ten Pri­vi­le­gien aufrechtzuerhalten.

Unsere Gesell­schaft ist nicht nur eine post­mi­gran­ti­sche und viel­fäl­tige, son­dern sie ist zugleich auch eine post­na­zis­ti­sche. Das heißt, es leben ideelle, kul­tu­relle wie sprach­li­che Codes und auch die Kon­tin­genz, also die Mög­lich­keit von faschis­ti­schen Ele­men­ten, wei­ter. Jüngst wurde Björn Höcke ver­ur­teilt, weil er eine SA-Parole genutzt hat. Das ist das wohl deut­lichste Zei­chen. Dem Rechts­staat sei Dank gab es nun eine ent­spre­chende Reak­tion durch die Ver­ur­tei­lung auf­grund der Nut­zung ver­fas­sungs­feind­li­cher Slogans.

Es ist sicher ver­kürzt, etwa der Ampel die allei­nige Schuld für das Erstar­ken der AfD zu geben, oder – wenn wir sehen, dass die Jugend nach rechts zu drif­ten scheint – zuerst auf das Inter­net und auf Tik­Tok zu schauen. Die Ursa­chen lie­gen tie­fer. Ernst Bloch schrieb, Kin­der wer­den dem Muff nicht ent­zo­gen, sie neh­men ihn wei­ter auf und lei­den so lange, bis sie selbst wie­der Vater sind. Die Repro­duk­tion die­ser kul­tu­rel­len Codes, natio­na­lis­ti­scher Deu­tungs­for­men gesell­schaft­li­cher Kon­flikte und Unge­rech­tig­kei­ten wir­ken ebenso fort wie Ele­mente von Ungleich­wer­tig­keits­ideo­lo­gien, Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus in der Gesellschaft.

Wie damit umge­hen? Wir wis­sen aus der natio­na­len wie aus der inter­na­tio­na­len For­schung vor allem, was alles nicht funk­tio­niert, um dem Rechts­extre­mis­mus zu begeg­nen: Igno­rie­ren. Die Hoff­nung auf Ent­zau­be­rung. Die Hoff­nung auf seine Zivi­li­sie­rung. Die Illu­sion, man könnte Rechts­extre­mis­mus allein mit sym­bo­li­schen Hand­lun­gen in den Griff bekom­men. Die Illu­sion, er würde ver­schwin­den, wenn nur die gerade vor­ran­gige aktu­elle Krise gelöst sei. Die Illu­sion, man könnte Bewe­gun­gen, deren Iden­ti­tät auf der radi­kal-affek­ti­ven Ableh­nung einer gemein­sam geteil­ten Wirk­lich­keit basiert, dadurch besie­gen, dass man sie real­po­li­tisch stellt. Die Illu­sion, rechts­extreme Par­teien ebenso zu behan­deln wie alle ande­ren auch. Nicht funk­tio­niert hat auch die Über­nahme ihrer Tal­king Points. Das bedeu­tet nicht, die Pro­blem­be­schrei­bung nicht ernst zu neh­men und in eine demo­kra­ti­sche Poli­tik zu lei­ten, son­dern vor allem die Rhe­to­rik und Poli­tik der Ent­sach­li­chung und der Ent­mensch­li­chung zu über­neh­men. Es hat nicht funk­tio­niert, Ver­spre­chun­gen zu machen oder Ansprü­che zu for­mu­lie­ren, von denen heute schon klar ist, dass sie nicht erreich­bar sein wer­den. Und auch ein poten­zi­el­les Ver­bots­ver­fah­ren der AfD, viel­leicht in eini­gen Jah­ren, wird nur einen Teil der Ursa­chen des Auf­sta­che­lungs- und Repro­duk­ti­ons­kreis­laufs des Rechts­extre­mis­mus stoppen.

Das alles ist kein Grund, die Bekämp­fung der anti­de­mo­kra­ti­schen Gefahr von Rechts­au­ßen nicht anzu­ge­hen. Nur muss man rea­lis­tisch sehen, dass die Selbst­er­hal­tungs­kräfte einer Bewe­gung, die sich aus den Wider­sprü­chen der Gesell­schaft speist, nicht allein durch Ein­zel­maß­nah­men zu bre­chen sind. Nicht funk­tio­nie­ren wird auch, Aus­ga­ben für Bil­dung, Prä­ven­tion, für gerechte Ver­tei­lung, soziale Sicher­heit, für die Kul­tur zu kür­zen und dabei wie­der Nischen zu öff­nen, die dann von Rechts­extre­men und auch von isla­mis­ti­schen Küm­me­rern genutzt wer­den kön­nen, deren Ziel die Her­stel­lung einer kul­tu­rel­len Hege­mo­nie, also einer Vor­herr­schaft der Mei­nun­gen und Deu­tun­gen im öffent­li­chen Raum als Vor­aus­set­zung für den Sys­tem­um­sturz ist.

Zum Glück wis­sen wir aber aus der For­schung auch, was hilft. Zum Bei­spiel Pro­teste. Es hat in die­sem Jahr die größ­ten Pro­teste in der Geschichte der Bun­des­re­pu­blik gege­ben. Und sie haben viel in Bewe­gung gesetzt. Der neue Fonds „Ver­eint für Demo­kra­tie“ sam­melt Spen­den von Unter­neh­men, um sehr unbü­ro­kra­tisch und unkom­pli­ziert Demo­kra­tie­pro­jekte zu för­dern. Kürz­lich hat das Gericht in Müns­ter geur­teilt, dass die Ein­stu­fung der AfD durch das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz als ein rechts­extre­mer Ver­dachts­fall rechts­staat­lich legi­tim ist. Als Mat­thias Ecke in Dres­den ange­grif­fen wurde, hat das Netz­werk Cam­pact schnell einen soge­nann­ten Bume­rang-Fonds auf­ge­setzt: Es wird Geld gesam­melt und zur Ver­fü­gung gestellt für Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker, die ange­grif­fen wer­den, und zwar unab­hän­gig von der Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit (außer der AfD), damit die Tak­tik nicht auf­geht, durch Gewalt demo­kra­ti­sche Räume zu schlie­ßen, son­dern im Gegen­teil, um die demo­kra­ti­sche Wie­der­an­eig­nung des öffent­li­chen Rau­mes zu ermöglichen.

Wir wis­sen, was hilft: Bil­dung, Bil­dung, Bil­dung. Es ist die För­de­rung sozia­ler Gerech­tig­keit und Sicher­heit. Es ist die Unter­stüt­zung post­mi­gran­ti­scher Orga­ni­sa­tio­nen. Das weite Feld der Prä­ven­tion. Es sind Kon­tex­tua­li­sie­run­gen und posi­tive Gegen­vi­sio­nen. Es sind finan­zi­elle Hand­lungs­spiel­räume für Kom­mu­nen, damit sie Demo­kra­tie erleb­bar machen kön­nen. Es ist die Stär­kung der poli­ti­schen Selbst­wirk­sam­keit, nicht nur von Jugend­li­chen, son­dern auch in Betrie­ben. Es ist die Stär­kung zivil­ge­sell­schaft­li­chen Enga­ge­ments, ein­schließ­lich der über­fäl­li­gen Ände­rung des Gemein­nüt­zig­keits­rechts. Zu den Rück­schlä­gen der letz­ten Tage gehörte, dass der sehr, sehr wir­kungs­volle Inter­net­blog „Volks­ver­pet­zer“ die Gemein­nüt­zig­keit ver­lo­ren hat, was für eine ganze Menge Pro­bleme sorgt. Der Gesetz­ge­ber muss end­lich recht­li­che Sicher­heit schaf­fen für alle, die sich für Demo­kra­tie und gegen Rechts­extre­mis­mus einsetzen.

Wir hat­ten noch nie so viel Wis­sen, wir hat­ten auch noch nie so viele Mög­lich­kei­ten. Es wäre ein his­to­ri­sches Armuts­zeug­nis son­der­glei­chen, jetzt vor dem Druck von Rechts­au­ßen zurück­zu­wei­chen und die­ses Pro­blem nicht in den Griff zu bekommen.

Vor allem braucht es dafür demo­kra­ti­sche Ant­wor­ten auf die rea­len Bedro­hun­gen, auf die wahr­ge­nom­me­nen Ver­letz­lich­kei­ten, auf die Kri­sen und die Ungleich­hei­ten die­ser Welt, die die gewalt­vol­len Phan­tom-Alter­na­ti­ven der Rechts­extre­men über­strah­len, ohne die Augen vor den Span­nun­gen und Wider­sprü­chen zu ver­schlie­ßen, die dem rechts­extre­men Back­lash welt­weit zugrunde lie­gen. Mit den Wor­ten des Sozio­lo­gen Zyg­munt Bau­man: „ ‚Frei­heit, Gleich­heit, Brü­der­lich­keit‘ war der Schlacht­ruf der Moderne. ‚Frei­heit, Ver­schie­den­heit, Tole­ranz‘ ist die Waf­fen­still­stands­for­mel der Post­mo­derne. Und wenn Tole­ranz in Soli­da­ri­tät umge­wan­delt wird, kann sich Waf­fen­still­stand sogar in Frie­den verwandeln.“

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 06/2024.

Von |2024-06-06T14:21:38+02:00Mai 31st, 2024|Grundgesetz|Kommentare deaktiviert für

Bil­dung, Bil­dung, Bildung

Was gegen den Rechts­ruck in Poli­tik und Gesell­schaft hilft – und was nicht

ist Professor für Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal und Rechtsextremismusforscher.