Gedächt­nis­land­schaft im Zei­chen der Integration

Der Haupt­fried­hof in Hanau mit der Gedenk- und Grab­stätte für die Opfer rech­ten Ter­rors vom 19. Februar 2020

Eine Kul­tur­form, die sich nicht mehr wei­ter­ent­wi­ckelt, ist Geschichte. Auch des­halb legt die Deut­sche UNESCO-Kom­mis­sion bei der Ernen­nung eines Imma­te­ri­el­len Kul­tur­er­bes gro­ßen Wert dar­auf, dass es aktiv von Men­schen gelebt und wei­ter­ent­wi­ckelt wird. Das gilt ganz beson­ders für die Fried­hofs­kul­tur, die seit vier Jahre im Kul­tur­erbe-Ver­zeich­nis steht. Die Art und Weise, wie wir bestat­ten, trau­ern und geden­ken, hat sich im Laufe der Zeit stets ver­än­dert. Seit meh­re­ren Jah­ren ist dies bei­spiels­weise bei Trau­er­fei­ern erfahr­bar: Häu­fig sind Pop­songs statt klas­si­scher Musik zu hören, Men­schen tra­gen nicht mehr nur Schwarz, und neben klas­si­scher Trau­er­flo­ris­tik wer­den bunte Blu­men als letz­ter Gruß nie­der­ge­legt. Zur­zeit erfah­ren die Ver­än­de­rungs­pro­zesse auf dem Fried­hof eine beson­dere Dyna­mik. Unsere Gesell­schaft ist bun­ter und viel­fäl­ti­ger gewor­den – und das spie­gelt sich auch bei den Trauer- und Erinnerungsritualen.

Zu den span­nen­den Fra­gen zählt, wie wir vor allem mit mus­li­mi­schen Bestat­tun­gen in unse­rer christ­lich-abend­län­disch gewach­se­nen Trau­er­tra­di­tion umge­hen. Hier erweist sich die Fried­hofs­kul­tur als beson­ders inte­gra­tiv, denn im Trau­ern und Erin­nern zei­gen sich Men­schen auch jen­seits von Her­kunft und Reli­gion, Alter oder sozia­lem Sta­tus geeint. Ein her­aus­ra­gen­des Bei­spiel dafür ist der Haupt­fried­hof in Hanau, ein klas­si­scher deut­scher Park­fried­hof, wie er Mitte des 19. Jahr­hun­derts in vie­len deut­schen Städ­ten ent­stand. Auf dem schö­nen, gut 14 Hektar gro­ßen Areal mit sei­nem alten Baum­be­stand, den his­to­ri­schen Grab­stel­len und einem Ehren­fried­hof fin­den bereits seit 2001 auch mus­li­mi­sche Bestat­tun­gen statt. Dafür hatte man zunächst ein weit­läu­fi­ges Grab­feld mit 200 Wahl- und 80 Rei­hen­grä­bern aus­ge­wie­sen, das bereits um gut 100 wei­tere Bestat­tungs­plätze erwei­tert wurde. Sie ermög­li­chen, die Toten so auf der rech­ten Kör­per­seite abzu­le­gen, dass ihr Kopf Rich­tung Mekka aus­ge­rich­tet ist. Längst gehö­ren mus­li­mi­sche Bei­set­zungs­ri­tuale zum All­tag auf dem Haupt­fried­hof der Brü­der-Grimm-Stadt, und die Vor­schrif­ten wur­den so ange­passt, dass die Ange­hö­ri­gen ihre Ver­stor­be­nen selbst auf den Schul­tern zum Grab tra­gen und dort in die Erde legen kön­nen. Das mus­li­mi­sche Grab­feld ist auf den ers­ten Blick kaum von ande­ren Grab­fel­dern zu unter­schei­den. Viele Mus­lime gestal­ten und pfle­gen ihre Grä­ber nach hie­si­gen Tra­di­tio­nen, mit ähn­li­chen, zumeist schwar­zen Grab­stei­nen und sai­so­na­lem Blumenschmuck.

Was den Hanauer Haupt­fried­hof so bedeut­sam macht, ist die weiß strah­lende, äußerst gepflegte Gedenk­stätte, die an die Opfer des ras­sis­ti­schen Mord­an­schlags am 19. Februar 2020 erin­nert. Ihm fie­len neun zumeist junge Men­schen zum Opfer, drei von ihnen lie­gen hier neben­ein­an­der begra­ben: Fer­hat Unvar, Hamza Kur­to­vić und Said Nesar. An die wei­te­ren sechs Opfer erin­nern fla­che, in den Boden ein­ge­las­sene Gedenk­steine. Es ist ein unge­mein berüh­ren­der Ort, an dem große Schau­ta­feln an jede ein­zelne Per­sön­lich­keit in leben­di­gen Geschich­ten erin­nern. Die Texte füh­ren ein­drucks­voll vor Augen, dass die Ermor­de­ten fried­lich lebende Bür­ge­rin­nen und Bür­ger Hanaus und selbst­ver­ständ­li­cher Bestand­teil unse­rer Gesell­schaft waren. Und dem ent­spricht auch die von den Ange­hö­ri­gen gepflegte Grab­an­lage: Sie fügt sich auf gewisse Weise wie selbst­ver­ständ­lich in die­sen his­to­risch gewach­se­nen, geschichts­träch­ti­gen Fried­hof ein.

Der Hanauer Fried­hof erweist sich als Seis­mo­graf unse­rer Gesell­schaft – und das nicht nur in Bezug auf die Gedenk­stätte. Hier lässt sich vie­les zum Thema Inte­gra­tion sinn­bild­lich lesen: So hat es sicher eine eigene Aus­drucks­kraft, dass das mus­li­mi­sche Grab­feld nicht etwa in der Mitte des Fried­hofs zu fin­den ist, son­dern am Rand, genauer gesagt sogar am äußers­ten Ende (vom Haupt­ein­gang aus gese­hen). Das Andenken an eines der Opfer, an Gök­han Gül­te­kin, hält des­sen Bru­der Çetin mit gro­ßem Enga­ge­ment wach. Er hat dazu auch einen Spie­gel-Best­sel­ler geschrie­ben: »Gebo­ren, auf­ge­wach­sen und ermor­det in Deutsch­land«. Aber nicht bei­gesetzt, möchte man fast unwill­kür­lich ergän­zen in Anbe­tracht der Tat­sa­che, dass Gök­han nicht in sei­ner Hei­mat­stadt Hanau die letzte Ruhe gefun­den hat, son­dern in der Hei­mat­stadt sei­nes Vaters, im tür­ki­schen Ağrı. Und das ist eben auch Rea­li­tät: Viele, vor allem tür­kisch ein­ge­wan­derte Fami­lien las­sen ihre Ver­stor­be­nen immer noch im Land ihrer Vor­fah­ren bei­set­zen und nicht hier, wo sie seit Jahr­zehn­ten leben.

Nicht uner­wähnt blei­ben sollte, dass die Stadt Hanau 2022 beschlos­sen hat, für die Opfer ein Mahn­mal des Künst­lers Heiko Hün­ner­kopf zu errich­ten. Bis­lang aller­dings hat man dafür noch kei­nen pas­sen­den Ort gefun­den. Einen fes­ten Platz hat die Erin­ne­rung den­noch: die Gedenk­stätte auf dem Fried­hof. Das unter­streicht ein-mal mehr die enorme Bedeu­tung die­ses Kul­tur­raums für die Stadt­ge­schichte – nicht nur in Hanau. Die Ange­hö­ri­gen wün­schen sich, dass das Mahn­mal zen­tral in der Innen­stadt errich­tet wird, um ein deut­li­ches Zei­chen gegen rech­ten Ter­ror zu set­zen. Auch des­halb haben sie durch­ge­setzt, dass am Gedenk­tag des Anschlags auf dem Fried­hof keine poli­ti­schen Reden mehr gehal­ten wer­den. So kam es, dass im letz­ten Jahr auch hoch­ran­gige Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker wie Innen­mi­nis­te­rin Nancy Fae­ser zum stil­len Andenken auf dem Haupt­fried­hof zusam­men­ka­men, um eben genau das zu tun, wofür Fried­höfe so unver­zicht­bar sind: Trau­ern und Erinnern.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 04/2024.

Von |2024-05-23T10:38:49+02:00März 26th, 2024|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

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Der Haupt­fried­hof in Hanau mit der Gedenk- und Grab­stätte für die Opfer rech­ten Ter­rors vom 19. Februar 2020

Tobias Pehle ist Geschäftsführer des Kuratoriums Immaterielles Erbe Friedhofskultur, dem Partner der Deutschen UNESCO-Kommission für diese Kulturform