Eine Kulturform, die sich nicht mehr weiterentwickelt, ist Geschichte. Auch deshalb legt die Deutsche UNESCO-Kommission bei der Ernennung eines Immateriellen Kulturerbes großen Wert darauf, dass es aktiv von Menschen gelebt und weiterentwickelt wird. Das gilt ganz besonders für die Friedhofskultur, die seit vier Jahre im Kulturerbe-Verzeichnis steht. Die Art und Weise, wie wir bestatten, trauern und gedenken, hat sich im Laufe der Zeit stets verändert. Seit mehreren Jahren ist dies beispielsweise bei Trauerfeiern erfahrbar: Häufig sind Popsongs statt klassischer Musik zu hören, Menschen tragen nicht mehr nur Schwarz, und neben klassischer Trauerfloristik werden bunte Blumen als letzter Gruß niedergelegt. Zurzeit erfahren die Veränderungsprozesse auf dem Friedhof eine besondere Dynamik. Unsere Gesellschaft ist bunter und vielfältiger geworden – und das spiegelt sich auch bei den Trauer- und Erinnerungsritualen.
Zu den spannenden Fragen zählt, wie wir vor allem mit muslimischen Bestattungen in unserer christlich-abendländisch gewachsenen Trauertradition umgehen. Hier erweist sich die Friedhofskultur als besonders integrativ, denn im Trauern und Erinnern zeigen sich Menschen auch jenseits von Herkunft und Religion, Alter oder sozialem Status geeint. Ein herausragendes Beispiel dafür ist der Hauptfriedhof in Hanau, ein klassischer deutscher Parkfriedhof, wie er Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen deutschen Städten entstand. Auf dem schönen, gut 14 Hektar großen Areal mit seinem alten Baumbestand, den historischen Grabstellen und einem Ehrenfriedhof finden bereits seit 2001 auch muslimische Bestattungen statt. Dafür hatte man zunächst ein weitläufiges Grabfeld mit 200 Wahl- und 80 Reihengräbern ausgewiesen, das bereits um gut 100 weitere Bestattungsplätze erweitert wurde. Sie ermöglichen, die Toten so auf der rechten Körperseite abzulegen, dass ihr Kopf Richtung Mekka ausgerichtet ist. Längst gehören muslimische Beisetzungsrituale zum Alltag auf dem Hauptfriedhof der Brüder-Grimm-Stadt, und die Vorschriften wurden so angepasst, dass die Angehörigen ihre Verstorbenen selbst auf den Schultern zum Grab tragen und dort in die Erde legen können. Das muslimische Grabfeld ist auf den ersten Blick kaum von anderen Grabfeldern zu unterscheiden. Viele Muslime gestalten und pflegen ihre Gräber nach hiesigen Traditionen, mit ähnlichen, zumeist schwarzen Grabsteinen und saisonalem Blumenschmuck.
Was den Hanauer Hauptfriedhof so bedeutsam macht, ist die weiß strahlende, äußerst gepflegte Gedenkstätte, die an die Opfer des rassistischen Mordanschlags am 19. Februar 2020 erinnert. Ihm fielen neun zumeist junge Menschen zum Opfer, drei von ihnen liegen hier nebeneinander begraben: Ferhat Unvar, Hamza Kurtović und Said Nesar. An die weiteren sechs Opfer erinnern flache, in den Boden eingelassene Gedenksteine. Es ist ein ungemein berührender Ort, an dem große Schautafeln an jede einzelne Persönlichkeit in lebendigen Geschichten erinnern. Die Texte führen eindrucksvoll vor Augen, dass die Ermordeten friedlich lebende Bürgerinnen und Bürger Hanaus und selbstverständlicher Bestandteil unserer Gesellschaft waren. Und dem entspricht auch die von den Angehörigen gepflegte Grabanlage: Sie fügt sich auf gewisse Weise wie selbstverständlich in diesen historisch gewachsenen, geschichtsträchtigen Friedhof ein.
Der Hanauer Friedhof erweist sich als Seismograf unserer Gesellschaft – und das nicht nur in Bezug auf die Gedenkstätte. Hier lässt sich vieles zum Thema Integration sinnbildlich lesen: So hat es sicher eine eigene Ausdruckskraft, dass das muslimische Grabfeld nicht etwa in der Mitte des Friedhofs zu finden ist, sondern am Rand, genauer gesagt sogar am äußersten Ende (vom Haupteingang aus gesehen). Das Andenken an eines der Opfer, an Gökhan Gültekin, hält dessen Bruder Çetin mit großem Engagement wach. Er hat dazu auch einen Spiegel-Bestseller geschrieben: »Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland«. Aber nicht beigesetzt, möchte man fast unwillkürlich ergänzen in Anbetracht der Tatsache, dass Gökhan nicht in seiner Heimatstadt Hanau die letzte Ruhe gefunden hat, sondern in der Heimatstadt seines Vaters, im türkischen Ağrı. Und das ist eben auch Realität: Viele, vor allem türkisch eingewanderte Familien lassen ihre Verstorbenen immer noch im Land ihrer Vorfahren beisetzen und nicht hier, wo sie seit Jahrzehnten leben.
Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass die Stadt Hanau 2022 beschlossen hat, für die Opfer ein Mahnmal des Künstlers Heiko Hünnerkopf zu errichten. Bislang allerdings hat man dafür noch keinen passenden Ort gefunden. Einen festen Platz hat die Erinnerung dennoch: die Gedenkstätte auf dem Friedhof. Das unterstreicht ein-mal mehr die enorme Bedeutung dieses Kulturraums für die Stadtgeschichte – nicht nur in Hanau. Die Angehörigen wünschen sich, dass das Mahnmal zentral in der Innenstadt errichtet wird, um ein deutliches Zeichen gegen rechten Terror zu setzen. Auch deshalb haben sie durchgesetzt, dass am Gedenktag des Anschlags auf dem Friedhof keine politischen Reden mehr gehalten werden. So kam es, dass im letzten Jahr auch hochrangige Politikerinnen und Politiker wie Innenministerin Nancy Faeser zum stillen Andenken auf dem Hauptfriedhof zusammenkamen, um eben genau das zu tun, wofür Friedhöfe so unverzichtbar sind: Trauern und Erinnern.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2024.