Dže­vad Karaha­san: Ein­übung ins Schweben

Mir ist nicht ein­mal der Krieg pas­siert, mir ist auch nicht die Bela­ge­rung Sara­je­vos pas­siert. Mir ist nur der Ver­lust mei­ner Stadt pas­siert, und der ist mir wirk­lich pas­siert.Es ist 1992 in Bos­nien und Her­ze­go­wina, die Haupt­stadt wird von Ber­gen und bos­nisch ser­bi­schen Sol­da­ten ein­ge­kes­selt. Rajko Šurup, aus des­sen Sicht „Ein­übung ins Schwe­ben“ erzählt, arbei­tet als freier Poet und Über­set­zer des wali­si­schen Intel­lek­tu­el­len Peter Hurd, sein Freund und Leh­rer. Als sich Peter nach einem Besuch in Sara­jevo am Bus­bahn­hof plötz­lich dazu ent­schei­det, zu blei­ben, schwin­det seine Bewun­de­rung schlei­chend. Peter sieht die begin­nende Bela­ge­rung als Chance, sich in einer Grenz­si­tua­tion und da mit ein­her­ge­hen­den Frei­heit wahr­haft ken­nen­zu­ler­nen sowie die mensch­li­chen Abgründe zu erfor­schen – ange­fan­gen bei Raj­kos Fami­lien und Bekann­ten­kreis. Wäh­rend die Men­schen in Sara­jevo Bewäl­ti­gungs­stra­te­gien ent­wi­ckeln und Rajko im Schwe­be­zu­stand des All­tag gewor­de­nen Krie­ges aus­harrt, sieht er Peter immer sel­te­ner, der sich auf sei­nem Selbst­fin­dungs­trip in der Stadt her­um­treibt, sich Män­ner fan­ta­sien und Dro­gen hin­gibt und lang sam sich selbst und sei­nen Ver­stand ver­liert. Scho­nungs­los und poe­tisch er zählt Dže­vad Karaha­san von den Grauen der Bela­ge­rung, der mensch­li­chen Psy­che und absur­den Situa­tio­nen, die sich aus dem Leben in einer von Scharf­schüt­zen und mit Gra­na­ten atta­ckier­ten Stadt erge­ben sowie den lan­gen Pha­sen des Abwar­tens, Nichts­tuns und Phi­lo­so­phie­rens: Wel­che Erfah­run­gen machen das Leben aus, und wie weit dür­fen Men­schen für diese gehen? Die fik­tio­nale Geschichte stützt sich auf Karahasans eigene Erleb­nisse wäh­rend des Bos­ni­en­kriegs. Krieg in Europa liegt nicht allein in der Ver­gan­gen­heit. Der mehr­fach aus­ge­zeich­nete und bedeu­tende Autor der euro­päi­schen Gegen­warts­li­te­ra­tur starb 2023 im Alter von 70 Jah­ren, zuvor gelang ihm mit „Ein­übung ins Schwe­ben“ eine wei­tere Meisterleistung.

Sina Rothert

Dže­vad Karaha­san. Ein­übung ins Schwe­ben. Aus dem Bos­ni­schen von Katha­rina Wolf-Grieß­ha­ber. Ber­lin 2023

Von |2023-12-07T10:19:30+01:00November 24th, 2023|Rezension|Kommentare deaktiviert für Dže­vad Karaha­san: Ein­übung ins Schweben