Reichs­po­grom­nacht – nie wieder!

Gegen Ter­ror, Hass und Antisemitismus

Am 9. Novem­ber die­ses Jah­res, wenige Tage nach Erschei­nen die­ser Aus­gabe, jährt sich zum 85. Mal die Reichs­po­grom­nacht. In jener Nacht vom 9. auf den 10. Novem­ber wur­den in Deutsch­land und Öster­reich mehr als 7.000 Geschäfte von Jüdin­nen und Juden ange­grif­fen, beraubt und zer­stört, 1.400 Syn­ago­gen wur­den geplün­dert und in Brand gesetzt, Jüdin­nen und Juden gede­mü­tigt, beraubt oder miss­han­delt. Mehr als 1.300 Men­schen star­ben. Über 30.000 Juden wur­den in Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger ver­schleppt. Der Mob von SA und SS wurde von der Leine gelas­sen. Die Reichs­po­grom­nacht war eine nächste bru­tale Stufe der Ent­rech­tung Deut­scher jüdi­schen Glau­bens, die mit der „Macht­er­grei­fung“ 1933 begann.

Am 9. Novem­ber die­ses Jah­res wird zu Recht an die­ses Ereig­nis erin­nert wer­den. Es wird wie­der die Ver­si­che­rung des „Nie wie­der“ zu hören sein. Doch was heißt die­ses „Nie wie­der“ ange­sichts der aktu­el­len Ereig­nisse in Deutsch­land, die seit dem 7. Okto­ber die­ses Jah­res, dem Angriff der Hamas auf Israel, geschehen?

Die Hamas hat bei ihrem Angriff mehr als 1.400 Men­schen getö­tet und min­des­tens 200 Men­schen, dar­un­ter teil­weise Kin­der und Greise, in den Gaza­strei­fen ent­führt. Der Angriff traf den Staat Israel zunächst unvor­be­rei­tet, inzwi­schen wur­den Reser­vis­ten ein­ge­zo­gen, und Israel ver­tei­digt sich gegen­über den Rake­ten­an­grif­fen aus dem Gaza­strei­fen sowie Angrif­fen der His­bol­lah aus dem Liba­non. Hamas-Kämp­fer ver­schan­zen sich in der Nähe von Woh­nun­gen, Kran­ken­häu­sern und Schu­len. Sie neh­men damit bewusst das Leben von Zivi­lis­ten im Gaza­strei­fen in Kauf und nut­zen sie teil­weise als mensch­li­che Schutz­schilde. Tag­täg­lich bom­bar­die­ren sie israe­li­sche Städte und Ort­schaf­ten. Tag­täg­lich wer­den Men­schen ver­letzt. Viele Men­schen im Gaza­strei­fen wur­den und wer­den bei der Gegen­wehr der israe­li­schen Streit­kräfte ver­letzt oder getö­tet, auch das ist furchtbar.

Der Krieg führt zu einer Welle der Ent­rüs­tung in der isla­mi­schen Welt. Demons­tra­tio­nen, teils gewalt­tä­tig, in Ägyp­ten, im Liba­non, im Jemen, in Jor­da­nien, im Iran und in ande­ren Län­dern sowie gewalt­same Pro­teste im West­jor­dan­land fin­den statt. Eine große Wut auf den Staat Israel ent­lädt sich.

Ebenso gibt es Demons­tra­tio­nen pro Paläs­tina in Deutsch­land und ande­ren euro­päi­schen Län­dern. In nächt­li­chen Demons­tra­tio­nen in Ber­lin und ande­ren deut­schen Städ­ten wird „Free Pal­es­tine“ skan­diert, die Ter­ror­an­griffe der Hamas auf Israel wer­den jubelnd gefei­ert, Süßig­kei­ten auf deut­schen Stra­ßen ver­teilt. Hass auf Israel, auf Jüdin­nen und Juden wird laut­hals herausgebrüllt.

Selbst­ver­ständ­lich kann in Deutsch­land demons­triert wer­den, das sichert unser Grund­ge­setz den Bür­ge­rin­nen und Bür­gern zu. In Deutsch­land leben viele Men­schen mit paläs­ti­nen­si­schen Wur­zeln, und kei­nes­wegs alle sind mit dem Han­deln der Hamas ein­ver­stan­den. Viele sind berech­tig­ter­weise in Sorge um ihre Ver­wand­ten und Freunde, die unter dem Ter­ror der Hamas im Gaza­strei­fen leiden.

Den­noch, das Demons­tra­ti­ons­recht sichert kei­nen Hass zu. Das Demons­tra­ti­ons­recht ist kein Frei­fahrt­schein für Anti­se­mi­tis­mus und für das Fei­ern von bar­ba­ri­schem Terror.

Es wer­den in Deutsch­land Syn­ago­gen und jüdi­sche Gemein­de­häu­ser ange­grif­fen. Häu­ser, in denen Jüdin­nen und Juden leben, wer­den mit dem David­stern mar­kiert. Eltern wagen es kaum, ihre Kin­der in die ohne­hin stark bewach­ten jüdi­schen Kin­der­gär­ten oder Schu­len zu schi­cken. Eine Kippa oder einen David­stern zu tra­gen ist gefähr­lich. In Ber­lin-Neu­kölln trauen sich Israe­lis nicht, in ihrer Mut­ter­spra­che, Hebrä­isch, zu spre­chen. Die Sicher­heits­vor­keh­run­gen vor dem Holo­caust-Mahn­mal in Ber­lin muss­ten ver­stärkt wer­den. Poli­zis­tin­nen und Poli­zis­ten ste­hen wie auf einer Per­len­schnur auf­ge­reiht, weil Sorge vor wei­te­ren Schmie­re­reien und anti­se­mi­ti­schem Hass an die­ser natio­na­len Gedenk­stätte besteht. Der Schutz jüdi­scher Ein­rich­tun­gen und von Per­sön­lich­kei­ten des jüdi­schen Lebens in Deutsch­land musste ver­stärkt wer­den. Gut, dass bei den Schutz­maß­nah­men so schnell gehan­delt wird, scho­ckie­rend, dass es erfor­der­lich ist.

Es ist bedrü­ckend und beschä­mend, es ist empö­rend und uner­träg­lich, dass 85 Jahre nach der Reichs­po­grom­nacht Jüdin­nen und Juden in Deutsch­land nicht sicher leben kön­nen. Viele von ihnen sind in Sorge um Ver­wandte und Freunde in Israel, haben Freunde oder Ver­wandte beim Ter­ror­an­griff ver­lo­ren. Trotz des schon lange bestehen­den teils laten­ten, teils offe­nen Anti­se­mi­tis­mus galt Deutsch­land als ein rela­tiv siche­res Land. Viele Israe­lis, auch viele israe­li­sche Künst­le­rin­nen und Künst­ler sind in den letz­ten Jah­ren nach Deutsch­land, gerade nach Ber­lin, gezo­gen. Doch noch nie haben wir so oft von so vie­len Jüdin­nen und Juden gehört, dass sie sich fra­gen, wohin sie gehen sol­len. Ins­be­son­dere von jenen, die mit der aktu­el­len rechts­ge­rich­te­ten bzw. rechts­extre­mis­ti­schen Regie­rung in Israel nicht ein­ver­stan­den sind und in Israel genau des­halb nicht leben wollen.

Anti­se­mi­tis­mus ist in Deutsch­land ein Pro­blem. Der rechts­extre­mis­ti­sche Anschlag auf die Syn­agoge in Halle/Saale am 7. Okto­ber 2019 hat dies offen­ge­legt. Die Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion, ein brei­tes Bünd­nis von vier Bun­des­mi­nis­te­rien, Län­dern, kom­mu­na­len Spit­zen­ver­bän­den, Sozi­al­part­nern, Kir­chen und Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, Medien und zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen wie dem Deut­schen Kul­tur­rat, will die­sem Anschlag ein posi­ti­ves Bild ent­ge­gen­set­zen. Sie führt Wett­be­werbe und Ver­an­stal­tun­gen durch, um die Viel­schich­tig­keit und Unter­schied­lich­keit des jüdi­schen Lebens in Deutsch­land zu zei­gen. An die­sen Akti­vi­tä­ten betei­li­gen sich neben vie­len Jüdin­nen und Juden auch Men­schen nicht jüdi­schen Glau­bens, weil sie an Begeg­nung, an Zusam­men­halt in Viel­falt inter­es­siert sind, weil sie sagen, dass jüdi­sches Leben zu Deutsch­land gehört!

Ebenso gibt es ver­schie­dene jüdisch-mus­li­mi­sche Initia­ti­ven und Pro­jekte, die gerade die Gemein­sam­kei­ten die­ser bei­den abra­ha­mi­ti­schen Reli­gio­nen beto­nen. Kin­der und Jugend­li­che ler­nen sich ken­nen, tau­schen sich auch dar­über aus, wie Reli­gion in einem weit­ge­hend säku­la­ren Land wie Deutsch­land gelebt wer­den kann, wie „Ankom­men“ und „Mit­ma­chen“ in der deut­schen Mehr­heits­ge­sell­schaft gelingt.

Der christ­lich-jüdi­sche Dia­log ist sta­bil, und viele Kir­chen­ge­mein­den ste­hen an der Seite jüdi­scher Gemein­den. Lei­tende Geist­li­che, wie der Bischof der Evan­ge­li­schen Kir­che in Ber­lin-Bran­den­burg, Chris­tian Stäb­lein, posi­tio­nie­ren sich unmiss­ver­ständ­lich gegen Antisemitismus.

Jüdi­sche Fes­ti­vals, jüdi­sche Film­tage, deutsch-israe­li­sche Lite­ra­tur­tage, dies alles gehört zu unse­rem kul­tu­rel­len Leben in Deutsch­land. Und zwar nicht als Erin­ne­rung, son­dern als Teil unse­res zeit­ge­nös­si­schen Kunst­ge­sche­hens. Gleich­wohl wird von jüdi­scher Seite beklagt, dass sich der Kul­tur­sek­tor nicht klar gegen Anti­se­mi­tis­mus stellt. Dabei geht es nicht nur um die „docu­menta fif­teen“ im ver­gan­ge­nen Jahr, die sich als ein Kul­mi­na­ti­ons­punkt dar­stellte. Es geht auch um die Erin­ne­rung an die Sin­gu­la­ri­tät der Shoah, der das Bild einer rela­tio­na­len Erin­ne­rungs­kul­tur gegen­über­ge­stellt wird, in der die Ver­fol­gung der Jüdin­nen und Juden mit dem Kolo­nia­lis­mus in einem Atem­zug genannt wird. Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­ter einer rela­tio­na­len Erin­ne­rungs­kul­tur ver­wen­den zwar viele Worte, um zu for­mu­lie­ren, wie wich­tig und inter­na­tio­nal weg­wei­send die Auf­ar­bei­tung der Shoah in Deutsch­land ist, um gleich­zei­tig eine Rela­ti­vie­rung vor­zu­neh­men, indem sie ent­lang eines inter­sek­tio­na­len Ansat­zes die Frage auf­wer­fen, ob die Shoah tat­säch­lich sin­gu­lär ist oder nicht viel­mehr mit anti­asia­ti­schem Ras­sis­mus oder anti­pa­läs­ti­nen­si­schen Vor­ur­tei­len ver­wo­ben wer­den muss. Es ist nur allzu ver­ständ­lich, dass die jüdi­sche Com­mu­nity ange­sichts sol­cher Hal­tun­gen sehr besorgt ist. Die Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion hat bereits 2017 klar for­mu­liert: „Die Aus­ein­an­der­set­zung mit der Geschichte ist nie abge­schlos­sen.“ Und wei­ter: „Die Erin­ne­rung an die Shoah wach­zu­hal­ten und wei­ter­zu­ge­ben ist eine dau­ernde Ver­pflich­tung für in Deutsch­land gebo­rene Men­schen ebenso wie für Zuge­wan­derte. Das schließt ein, sich ent­schie­den gegen jede Form des Anti­se­mi­tis­mus zu wen­den.“ Wer in Deutsch­land lebt, ob hier gebo­ren oder zuge­wan­dert, ob mit deut­scher „Täter-“ oder mit Zuwan­de­rungs­ge­schichte, ist ver­bun­den mit der Erin­ne­rung an die Shoah. Das gilt für die Nach­nach­fah­ren der Täter genauso wie für aus ara­bi­schen Län­dern nach Deutsch­land Kommende.

Am 9. Novem­ber 1938 haben die meis­ten Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in Deutsch­land weg­ge­schaut, viele waren betei­ligt und haben mit­ge­macht. Jetzt ist die Zeit, das „Nie wie­der“ nicht nur auf die Ver­gan­gen­heit zu bezie­hen, son­dern klar und unmiss­ver­ständ­lich gegen Anti­se­mi­tis­mus in Deutsch­land ein­zu­tre­ten. Der Deut­sche Kul­tur­rat hatte darum zur Demons­tra­tion am 22. Okto­ber 2023 „Soli­da­ri­tät mit Israel: Auf­ruf zur Demons­tra­tion gegen Ter­ror, Hass und Anti­se­mi­tis­mus“ zusam­men mit ande­ren zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen, mit den Kir­chen, mit dem Zen­tral­rat der Juden und den demo­kra­ti­schen Par­teien mitaufgerufen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2023.

Von |2023-11-07T10:09:33+01:00Oktober 26th, 2023|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

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Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Gabriele Schulz ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates.