Es geht ums Überleben

Die jah­re­lange Dele­gi­ti­mie­rung Isra­els trägt sicht­bare anti­se­mi­ti­sche Früchte

„Es ist ein Alb­traum, aber das ist nun mal der Platz, an dem wir leben, und wir wer­den gewin­nen. Schon Golda sagte: Wir wer­den nie­mals ver­lie­ren, denn wir haben eine Geheim­waffe. Wir haben kei­nen ande­ren Platz, an den wir gehen kön­nen.“ Diese Nach­richt hat mir Tuvi, ein Ver­wand­ter, geschickt, wenige Stun­den nach­dem das Mas­sa­ker paläs­ti­nen­si­scher Ter­ro­ris­ten begon­nen hatte.

Das Echo die­ses Sat­zes klingt mir in den Ohren, wenn ich die hass­erfüll­ten Demons­tra­tio­nen gegen Israel und gegen Juden welt­weit sehe. Jen­seits der so wich­ti­gen Staats­rä­son fühle ich mich auch hier zuneh­mend miss­trau­isch beäugt. „Sprich nicht Ivrith“, bat mich meine Schwes­ter ein­dring­lich, als sie merkt, dass ich auf der Straße mit ihr tele­fo­niere. Panik? Kei­nes­wegs! Nach dem grau­en­vol­len Pogrom, bei dem so viele Juden wie nie seit dem Ende der Shoah getö­tet wur­den, müs­sen die Ver­wand­ten, Freun­din­nen und Freunde der Opfer über­all um ihre Sicher­heit fürch­ten. Ver­kehrte Welt.

Wäh­rend nach dem bru­ta­len Über­fall Russ­lands auf die Ukraine eine wär­mende und laute Welle der Soli­da­ri­tät durch Deutsch­land ging und sich die Men­schen in Blau und Gelb hüll­ten, wer­den nun selbst offi­zi­ell gehisste Israel-Flag­gen her­un­ter­ge­ris­sen. Häu­ser, in denen Juden woh­nen, wer­den mit einem David­stern mar­kiert, und jüdi­sche Schu­len schlie­ßen vor­sichts­hal­ber. Über 1.400 Men­schen wer­den an einem ein­zi­gen Tag mas­sa­kriert. Umge­rech­net auf die Bevöl­ke­rungs­zahl hier wären das 14.000 Men­schen. Die Schil­de­run­gen des Pogroms, die ich gele­sen und gehört habe, die Videos, die die Ter­ro­ris­ten von ihrem Mas­sen­mord ins Netz gestellt haben, sind uner­träg­lich, und jeden Tag kom­men neue grau­same Details, furcht­bare Geschich­ten hinzu, die sich mir ins Herz ein­bren­nen und mich im Schlaf verfolgen.

Seit dem 7. Okto­ber bin ich unab­läs­sig online und schreibe, nach­dem ich zunächst starr vor Schock war, gegen das Grauen an und suche den Kon­takt zu Men­schen, die sich, genau wie ich, um Freunde und Fami­lie in Israel sor­gen. Poli­ti­sche Unter­schiede, die eben noch wich­tig schie­nen, sind plötz­lich bedeu­tungs­los. Die Hamas hat erreicht, was zuneh­mend undenk­bar schien. Sie hat den jüdi­schen Staat und Juden welt­weit vereint.

Regie­rung und Oppo­si­tion, die so mäch­tige Demo­kra­tie­be­we­gung und Anhän­ger der Regie­rung, Säku­lare und Reli­giöse – alle wis­sen, unse­ren Fein­den ist es egal, wo wir poli­tisch ste­hen. „Wenn Du als Jude ange­grif­fen wirst, dann musst Du dich als Jude ver­tei­di­gen“, sagte Han­nah Arendt.

Nie zuvor in der Geschichte Isra­els sind mehr Men­schen an einem Tag getö­tet wor­den. Die­ser 7. Okto­ber ist aber nicht nur des­halb eine Zäsur. Im Süden Isra­els leben viele Men­schen, die soli­da­risch sind mit den paläs­ti­nen­si­schen Nach­barn und vom Frie­den träu­men, genau wie die jun­gen Leute, die zur gro­ßen Rave-Party in die Wüste Negev kamen, um das Leben zu fei­ern. Das Mas­sa­ker scheint auf grau­same Weise nun jenen Recht zu geben, die allen Nai­vi­tät vor­wer­fen, die für Aus­söh­nung, Räu­mung der Sied­lun­gen und einen Staat Paläs­tina ein­tre­ten. Men­schen wie Vivian Sil­ver. Die pro­mi­nente Frie­dens­ak­ti­vis­tin kennt Gaza gut und spricht Ara­bisch. Sie ist Grün­de­rin einer israe­lisch-paläs­ti­nen­si­schen Frau­en­frie­dens­gruppe und hilft seit Jah­ren Men­schen in Gaza, mit medi­zi­ni­scher Hilfe aus Israel. Das letzte Lebens­zei­chen hat ihr Sohn von ihr aus dem Schutz­raum ihres Kib­buz gehört, als die über­zeugte Pazi­fis­tin noch scherz­haft sagte, dass sie lei­der ver­ges­sen habe, sich mit einem Mes­ser zu bewaff­nen. Rund 1.000 Men­schen wohn­ten in ihrem Kib­buz Be’eri. Min­des­tens 108 wur­den getö­tet, eine unbe­kannte Zahl ver­schleppt, ver­mut­lich auch die 74-jäh­rige Vivian Silver.

„Bitte macht euch nichts vor, sie wol­len uns hier nicht haben, egal in wel­chen Gren­zen. Sie wol­len uns ver­nich­ten, und wir müs­sen stark genug sein, um sie daran zu hin­dern“, hatte unser Freund Mikki Gilead uns immer wie­der gesagt. Er ist 98 Jahre alt, hat die Hölle von Ausch­witz über­lebt, war als Poli­zei­of­fi­zier 1962 Zeuge der Hin­rich­tung Adolf Eich­manns und hat die Asche des Juden­mör­ders ins Meer gestreut. Es ist das bit­tere Fazit eines lan­gen jüdi­schen Lebens, gegen das auch ich mich inner­lich immer gewehrt habe. Und jetzt?

Es waren ja nicht einige wenige Ter­ro­ris­ten, son­dern Tau­sende, die in israe­li­sches Kern­land stürm­ten, um mög­lichst viele Juden zu töten. Über zwei Jahre dau­erte die Vor­be­rei­tung die­ses Mas­sa­kers. Zwei Jahre, in denen die Hamas mit Israel Erleich­te­run­gen für die Men­schen in Gaza aus­han­delte. Die Blo­ckade wurde gelo­ckert, die Zahl der Arbeits­er­laub­nisse erhöht. Über 18.000 Paläs­ti­nen­ser waren es schließ­lich, die täg­lich zur Arbeit über die Grenze pen­del­ten. Unter ihnen waren auch etli­che, die an die­sem 7. Okto­ber nicht zur Arbeit, son­dern zum Mor­den kamen. Das Mas­sa­ker an fried­li­chen und wehr­lo­sen Zivi­lis­ten und der wider­wär­tige Jubel über Fol­ter, Ver­ge­wal­ti­gung, Ver­schlep­pung von Babys, Kin­dern, jun­gen und alten Men­schen wird künf­tig uns allen in den Ohren gel­len, die an der Über­zeu­gung fest­hal­ten wol­len, dass eine fried­li­che Nach­bar­schaft mög­lich sein muss.

„From the river to the sea“ soll „Free Pal­es­tine“ rei­chen. Wie die­ser paläs­ti­nen­si­sche Staat aus­sieht, wenn die Hamas das Sagen hat, wis­sen wir seit dem 7. Okto­ber. Ein ein­zi­ger Alb­traum für alle, die für Frei­heit und Men­schen­rechte ein­tre­ten. Einen sol­chen Staat kann nie­mand wün­schen, der halb­wegs bei Ver­stand und Herz ist. Und doch fei­ern nicht nur Isla­mis­ten die Mör­der als Widerstandskämpfer.

Die Soli­da­ri­tät mit den jüdi­schen Opfern schmolz schnel­ler als Israel brauchte, um seine Toten zu zäh­len. Der UN waren sie keine Schwei­ge­mi­nute wert. Zur Trauer gesellte sich das Gefühl von Ver­rat, zumal für linke Juden und Israe­lis im Aus­land. Statt tröst­li­cher Soli­da­ri­tät schlug ihnen Kälte und Gemein­heit ent­ge­gen und blan­ker Juden­hass. Die jah­re­lange Dele­gi­ti­mie­rung Isra­els, wie etwa bei der docu­menta, trägt sicht­bare anti­se­mi­ti­sche Früchte. Fol­ge­rich­tig fin­det sich die vor­nehmste Vari­ante in der kul­tu­rel­len Welt, in Wis­sen­schafts­krei­sen, an Uni­ver­si­tä­ten, in NGOs, in Stif­tun­gen und in der Anti­ras­sis­mus­be­we­gung, bei „Fri­days for Future“ und bei „Que­ers for Pal­es­tine“ – eigent­lich über­all. Sie for­dert „Kon­tex­tua­li­sie­rung“ und meint „Rela­ti­vie­rung“. Sie will „ein­ord­nen“ und damit die Dimen­sion die­ses Pogroms klein­re­den. Doch nichts kann begrün­den, was am 7. Okto­ber pas­siert ist.

Die Situa­tion der Paläs­ti­nen­ser ist bedrü­ckend, und die rechts­extreme israe­li­sche Regie­rung hat die Grund­lage für einen fai­ren Frie­den wei­ter durch­lö­chert. Wer dar­aus aber eine Recht­fer­ti­gung für das Mas­sa­ker an der israe­li­schen Zivil­be­völ­ke­rung ablei­tet, hat jeden mora­li­schen Kom­pass ver­lo­ren. Ihnen ist die paläs­ti­nen­si­sche Bevöl­ke­rung genauso gleich­gül­tig wie den Befehls­ha­bern des Mas­sen­mords in Gaza, die genau wuss­ten, wie die mili­tä­ri­sche Ant­wort Isra­els aus­fal­len würde und aus­fal­len muss. Ein Men­schen­le­ben spielt keine Rolle im hei­li­gen Krieg. Im Gegen­teil. Je mehr Opfer, umso bes­ser für die paläs­ti­nen­si­sche Propaganda.

Auf die Wahr­heit kommt es dabei ohne­hin nicht an. Der ver­meint­li­che israe­li­sche Beschuss des Al-Ahli-Kran­ken­hau­ses ent­puppte sich rasch als abge­stürzte Rakete des Isla­mi­schen Dschi­had, aber an der Empö­rung über das „Kriegs­ver­bre­chen“ Isra­els änderte das nichts. Die Bil­der und Erin­ne­rung an die israe­li­schen Opfer des Mas­sa­kers und das Leid der Gei­seln haben keine Chance, sich gegen die Nach­rich­ten­bil­der der lei­den­den Zivil­be­völ­ke­rung in Gaza zu behaup­ten. Bil­der, die sich nicht ver­mei­den las­sen, wenn Israel jetzt mili­tä­risch umsetzt, was „nie wie­der“ bedeu­tet. Es ist die Auf­gabe eines jeden Staa­tes, seine Bür­ger zu schüt­zen. Für Juden ist der Staat Israel immer eine Lebens­ver­si­che­rung gewe­sen, die Staat gewor­dene Erfül­lung des Ver­spre­chens „nie wie­der“. Die­ses Ver­spre­chen konnte der Staat am 7. Okto­ber nicht ein­hal­ten. Wer wollte die Legi­ti­mi­tät der mili­tä­ri­schen Logik bestrei­ten, die jetzt greift, um das Ver­spre­chen in Zukunft hal­ten zu kön­nen? Ein­mü­tig bestä­tigte der Deut­sche Bun­des­tag das Recht Isra­els auf Selbst­ver­tei­di­gung und drückte sich zugleich davor, zu Ende zu den­ken, was das heißt. Wie viele der 25.000 Men­schen, die ans Bran­den­bur­ger Tor kamen, wer­den in den nächs­ten Wochen soli­da­risch mit Israel bleiben?

„Es wird schreck­lich“, sagt mir ein ande­rer Freund schon am Mor­gen nach dem Mas­sa­ker, „aber wir haben keine Wahl. Wir müs­sen es tun! “ Und dann bricht er ab und kämpft mit den Tränen.Wir alle, die wir Fami­lie und Freunde in Israel haben, wei­nen um die Opfer des 7. Okto­ber und um die vie­len, die ihnen fol­gen wer­den. Und wir wis­sen, dass es fast aus­sichts­los ist, das tra­gi­sche Dilemma zu erklä­ren, in dem sich das Land befin­det. „Wenn es Frie­den gibt, wer­den wir mit der Zeit viel­leicht in der Lage sein, den Ara­bern zu ver­ge­ben, dass sie unsere Söhne getö­tet haben. Es wird schwe­rer für uns sein, ihnen zu ver­ge­ben, dass sie uns gezwun­gen haben, ihre Söhne zu töten“, sagte Golda Meir. Getö­tet wur­den und wer­den nun auch Frauen, Kin­der, alte Men­schen. Die­ser Krieg wird hart. Es geht um den mili­tä­ri­schen Sieg und ums mora­li­sche Über­le­ben. Es geht um die Seele Israels.

Die­ser Bei­trag ist eine aktua­li­sierte Ver­sion des Arti­kels »Es geht um die Seele Isra­els«, der am 11. Okto­ber 2023 in der Jüdi­schen All­ge­mei­nen erschie­nen ist.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2023.

Von |2023-11-06T16:10:40+01:00Oktober 26th, 2023|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

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Die jah­re­lange Dele­gi­ti­mie­rung Isra­els trägt sicht­bare anti­se­mi­ti­sche Früchte

Esther Schapira ist freie Journalistin, Publizistin und Moderatorin.