Der Tag der Menschenrechte – es ist der 10. Dezember – erinnert daran, dass an diesem Tag im Jahr 1948 in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wurde. Appellierend verleiht das Europäische Parlament an diesem Tag den Sacharow-Preis, und die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ ihren Menschenrechtspreis. Auch der Friedensnobelpreis wird am 10. Dezember vom norwegischen Nobelkomitee überreicht.
Wann eigentlich war dieser Tag erstmalig für mich mit einem lebendigen Bild hinterlegt? Ich muss nicht lange überlegen. Es war 1971. Im Oktober hatte das Nobelkomitee verkündet, dass im besagten Jahr der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt den Friedensnobelpreis erhalten würde.
Sofort erinnerte ich mich an Willy Brandts Kniefall am 7. Dezember 1970 in Warschau. Ein schwerer Gang muss die Reise in die polnische Hauptstadt für den Bundeskanzler gewesen sein. Er wollte dort den Warschauer Vertrag unterzeichnen, der das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik regeln sollte. Zu tief die Wunden, die die Deutschen den Polen geschlagen hatten. In keinem anderen Land hatten die nationalsozialistischen Barbaren so gewütet wie in diesem. Auf polnischem Boden waren die Todesfabriken des Holocaust errichtet worden. Die Todeskämpfe der Juden des Warschauer Ghettos waren nicht vergessen. Sechs Millionen Opfer hatten die Polen im Zweiten Weltkrieg zu beklagen. „Jetzt gehe es darum, den Blick in die Zukunft zu richten“, so Brandt, „die Kette des Unrechts zu durchbrechen und die Moral als politische Kraft zu erkennen“.
Nach diesem Besuch ging ein Bild um die Welt. Es zeigte, wie tief den Bundeskanzler dieser Besuch bewegt hatte: Bei einer vorgesehenen Kranzniederlegung am Warschauer Ghetto-Ehrenmal ordnete er kurz die schwarz-rot-goldene Schleife, trat dann ein paar Schritte zurück und fiel plötzlich auf die Knie, verharrte etwa eine halbe Minute. Das Gesicht nahezu bewegungslos, stand er wieder auf. Er hatte stellvertretend für sein Volk unter der Last verletzter Menschenrechte seine Knie gebeugt. In seiner großen Nobelpreisrede vor der Universität Oslo am 11. Dezember 1971 mahnte Bundeskanzler Brandt: „Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen. Kein nationales Interesse lässt sich heute noch von der Gesamtverantwortung für den Frieden trennen. (…) Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio. Auch wenn das noch nicht allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche.“
„Die Gründe, sich zu empören, sind heute oft nicht so klar auszumachen – die Welt ist zu komplex geworden“, schreibt 29 Jahre später der Diplomat Stéphane Hessel, einst französischer Résistance-Kämpfer, Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald und Begleiter der Vereinten Nationen seit Beginn ihrer Gründung. In seinem schmalen Band „EMPÖRT EUCH!“, der im Oktober 2010 veröffentlicht und in nur vier Monaten mehr als eine Million Mal verkauft wurde, weist er auf zwei große Menschheitsaufgaben hin und spricht dabei als Erstes von der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen „ganz arm und ganz reich“. Ebenso dringlich für ihn sind „die Menschenrechte und der Zustand unseres Planeten“. In diesem Zusammenhang zitierte er Artikel 22 aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, deren Abstimmung er beigewohnt hatte: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit (…) in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind.“ Am 18. März 2011 im Rahmen der Leipziger Buchmesse stand für mich Hessels Auftritt ganz oben auf meinem Programm. Doch der 94-Jährige musste krankheitsbedingt kurzfristig absagen.
Wir wissen heute aus jüngster Erfahrung: Das Zugesagte, das vermeintlich Sichere ist nicht sicher. Und so lese ich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nicht nur als Mahnung, sondern einmal mehr auch als einen Auftrag an uns alle.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2022-01/2023.