Das anschaulichste Porträt von Bénédicte Savoy ist bereits von ihr selbst verfasst worden. Es ist ein schmales Bändchen mit dem Titel „Museen“, erschienen im Greven Verlag Köln 2019, und beginnt mit der Schilderung einer Szene im elterlichen Wohnzimmer: „Paris 1978. Meine Eltern haben einen Fernseher. Es gehört für französische Kinder der 1970er Jahre zu den täglichen Ritualen, jeden Abend mit den Eltern die Nachrichten zu schauen, dann kommt die Werbung, dann geht man ins Bett.“ Savoy ist sich sicher, dass sie als kleines Mädchen vor dem Bildschirm gesessen haben muss, als der prominente Nachrichtensprecher Roger Gicquel vom Appell des Generaldirektors der UNESCO, Amadou-Mahtar M’Bow, sprach, in dem dieser verlangte, „für eine Rückkehr von Kunstwerken in ihre Ursprungsländer zu sorgen, die sie unter Umständen verloren haben, die man besser nicht allzu genau beschreibt“.
In dieser französischen Tagesschau ging es tatsächlich um Restitution und Kunstraub. 1978 war Bénédicte Savoy gerade mal sechs Jahre alt. Vor mehr als 40 Jahren war also das Thema Restitution bereits brandaktuell und man wundert sich mit ihr, wieso diese Debatte, die derzeit die Kunst- und Museumswelt in ihren Grundfesten erschüttert, so lange von der Agenda der Kulturpolitik verschwinden konnte.
In diesem Selbstbildnis, das sechsjährige Mädchen vor dem TV-Apparat, verortet sich die französische Kunsthistorikerin, die – zusammen mit dem senegalesischen Wissenschaftler Felwine Sarr – aufgrund ihres Engagements in der weltweiten Restitutionsdebatte vom ArtReview im Jahr 2020 zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Kunstwelt gezählt wurde. 2021 gefolgt vom Times Magazin, das beide zu den 100 einflussreichsten Personen der Welt rechnete.
Von 2012 bis 2021 war Bénédicte Savoy Mitglied der Kulturstiftung des Bundes. Im März 2015 war sie von der damaligen Kulturstaatsministerin Monika Grütters als Expertin für Translokation und Restitution afrikanischer Kulturgüter eingeladen worden, Mitglied im Beratergremium des Humboldt Forums in Berlin zu werden. Das größte und teuerste Museumsprojekt in Europa steckte in einer Krise. Wegen fachlicher Differenzen verließ Savoy bereits 2017 wieder den Expertenbeirat des Humboldt Forums. Heute ist es schon wieder drei Jahre her, dass Savoys Vorlesung „Museen“ publiziert wurde, doch die Kunstgeschichte bleibt nicht stehen. Das weiß niemand besser als unsere Protagonistin.
Dieses Porträt von Bénédicte Savoy kann als „Upgrade“ aufgefasst werden, denn am 21. September 2022 hat sie den Deutschen Kulturpolitikpreis des Deutschen Kulturrates entgegengenommen. Es ist nicht ihr erster Preis, in den vergangenen zehn Jahren waren es sage und schreibe 14 Auszeichnungen. Dennoch bedeutet Savoy der Deutsche Kulturpolitikpreis besonders viel, denn die Reaktionen der Fachwelt und der Öffentlichkeit auf ihren Einsatz für Transparenz in Museen waren bekanntermaßen heftig. „Museen sind mein Zuhause, ich bin da gerne. Museumsleute sind sehr lange meine Freunde gewesen – und viele sind es noch! Das ist mein Milieu. 2017 bin ich aus dem Beirat des Humboldt Forums ausgetreten, plötzlich gab es gerade in Berlin sehr viel Gegenwind, Aggression muss ich fast sagen. Das hat mich nicht allzu sehr gestört, weil ich das große Glück habe, einen inneren Kompass zu haben, der mir die Richtung weist. Dieser Kompass orientiert sich an historisch belegten Fakten, wie sie z. B. in Archiven dokumentiert sind. Meine Arbeit besteht lediglich darin, solche Fakten zu beleuchten. Nicht diejenige, die die Taschenlampe darauf hält, ist krass, sondern die Fakten selbst.
Aber es schüttelt einen schon, wenn man so stark angefeindet wird. Es war nicht mehr gemütlich. Mittlerweile sagen alle, die vor vier, fünf Jahren unangenehm geworden waren, ja zur Restitution. Das sind Menschen, die ihre Meinung mit dem Wind ändern, was auch positiv sein kann. Mit dem Kulturpolitikpreis wird ein Bedürfnis nach historischer Transparenz anerkannt, das viele Menschen haben.“
„Kunstraub, Umgang mit geraubter Kunst“ – die Fragestellung zieht sich weiterhin durch das akademische Leben der Professorin für Kunstgeschichte der Moderne an der Technischen Universität Berlin sowie zwischen 2016 und 2021 Professorin für die Kulturgeschichte des europäischen Kunsterbes des 18. bis 20. Jahrhunderts am Collège de France. Wie fand sie eigentlich zu ihremLebensthema?
„Ich würde das nicht Lebensthema nennen. Mein Leben ist mehr: Ich habe zwei wunderbare Töchter, bin Professorin, ich fühle mich verantwortlich für die junge Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die an der Uni mein Team bilden und mit Befristungen und Unsicherheiten kämpfen müssen, die in Deutschland an der Uni Teil des Systems sind. Nennen wir es mein Forschungsthema.“ Das begann bereits während ihrer Zeit am Gymnasium in Paris, wo sie die Freistunden am liebsten vor und mit und gerne auch in Kunstwerken im Centre Pompidou verbrachte: entweder im Inneren von Jean Dubuffets „Jardin d’Hiver“ oder im Schutzraum von Joseph Beuys Rauminstallation „Plight“ von 1985. Das Forschungsthema wurde vertieft während ihres Germanistikstudiums, wo sie sich in ihrer Magisterarbeit mit der „Darstellung der deutschen Identität bei Anselm Kiefer“ befasste. Eher zufällig erfuhr die junge Studentin davon, dass die Berliner Quadriga etliche Jahre in Paris gewesen war: „Geraubt von Napoleon, über den man in Frankreich nichts in der Schule lernt. Er ist verpönt.“ Im Archiv in Paris fand Savoy auf Anhieb eine Mappe mit unbekannten Zeichnungen zur Quadriga. Die kriminalistische, forensische Lust am Archiv, am Suchen und vor allem Finden sowie an den noch nicht erzählten Geschichten war geweckt und ließ sie seitdem nicht mehr los. Napoleon und die Quadriga, die 1814 als „Retourkutsche“ zurück nach Berlin gekommen war, wurden Savoys Promotionsthema. Fragen des Kunstraubes, der gewaltsamen Aneignung kulturellen Erbes der anderen, sind bis heute ihr Forschungsthema: „Warum nimmt man die Sachen der anderen. Das geht weit über den Raub an und für sich hinaus, über das Verlegen von Sachen von A nach B. Die Dinge verändern sich dadurch, verändern die Gesellschaft um sie herum. Wir merken es heute: Die Geschichte der kolonialen Sammlungen ist eng verknüpft mit aktuellen Fragen des Rassismus, der Dekolonisation. Es sind Kristallisationspunkte, begehbare Geschichte.“ Eine Literaturempfehlung darf an dieser Stelle nicht fehlen: In „Die Provenienz der Kultur“ (2012) und „Afrikas Kampf um seine Kunst – Geschichte einer postkolonialen Niederlage“ (2021) hat Bénédicte Savoy ihr Credo und ihr Wissen zu Provenienzforschung, Restitution und Dekolonialisierung niedergelegt.
Deutsch hat Bénédicte Savoy im Rahmen ihres Germanistikstudiums gelernt und noch heute weiß sie nicht, ob sie die Sprache eigentlich liebt. Aber sie sagt: „Ich benutze sie gern.“ Sie hatte in Frankreich Deutsch als erste Fremdsprache. Das hatten mehr oder weniger die Eltern entschieden. Frankreich war in den 1980er Jahren eher antiamerikanisch eingestellt: „Englisch war uncool – die guten Schüler hatten sowieso Deutsch gelernt.“ So lag es nahe, nach Deutschland zu gehen und so landete sie im Schuljahr der Wende in West-Berlin in einer Gastfamilie.
„Ich glaube, meine Eltern wussten damals nicht genau, wo Berlin liegt. Ich sowieso nicht. Wir schauten eher nach Italien. Berlin ist anders als Paris, vielleicht auch anders als andere deutsche Städte. Generell hat hier der Dozent keine Autorität per se. Das wird sofort infrage gestellt, man muss sofort erklären, wieso.“
Savoy empfindet es als großes Privileg, an einer Universität zu lehren und miterleben zu dürfen, wie die Welt sich verändert: „Man spricht immerzu mit 20-Jährigen, obwohl man selbst immer älter wird. Man bleibt permanent mit den Fingern in der Steckdose der Zeit, so werden einem die Selbstverständlichkeiten unserer Zukunft klar. Es ist gut, in Kontakt zu bleiben.“
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2022.