Frü­her war mehr „diver­sity“

Archäo­lo­gi­sche Funde zei­gen die frühe Ver­bun­den­heit der Kulturen

Vor Kur­zem habe ich mich wie­der einer alten Liebe aus Kin­der­ta­gen zuge­wandt und dabei etwas für heu­tige Debat­ten gelernt. Zu den ers­ten Büchern, die ich mit Begeis­te­rung gele­sen habe, gehör­ten Kin­der­bü­cher über Archäo­lo­gie. Sie lie­ßen mich Anteil neh­men an den Indiana-Jones-haf­ten Aben­teu­ern berühm­ter For­scher und ihren spek­ta­ku­lä­ren Ent­de­ckun­gen. Inzwi­schen habe ich natür­lich gelernt, dass das archäo­lo­gi­sche Tages­ge­schäft in klein­tei­li­ger, vor­sich­ti­ger Detail­ar­beit besteht. Den­noch, als ich mich kürz­lich in die neue­ren archäo­lo­gi­schen For­schun­gen zum Alten Israel und frü­hen Chris­ten­tum ein­las, war ich über­rascht von dem, was ich alles nicht gewusst hatte und jetzt nach­ler­nen konnte.

So lässt sich ent­ge­gen dem Kli­schee vom bil­der­feind­li­chen Mono­the­is­mus nach­wei­sen, dass im Alten Israel und in wei­ten Tei­len des anti­ken Juden­tums reli­giöse Bil­der in Auf­trag gege­ben, geschaf­fen, genutzt und geliebt wur­den. Man hat fast den Ein­druck, als sei das bibli­sche Bil­der­ver­bot bei den Men­schen nicht recht ange­kom­men. Das gilt auch für die anti­ken Chris­ten­tü­mer. Wie selbst­ver­ständ­lich haben sie ver­sucht, ihren Glau­ben bild­lich dar­zu­stel­len. Unbe­fan­gen grif­fen sie dabei auf schon gebräuch­li­che iko­no­gra­fi­sche Mus­ter zurück. Das führte zu erstaun­li­chen Ver­mi­schun­gen und Über­blen­dun­gen. So wurde in Sar­di­nien das Grab eines gewis­sen Caris­sis­mus gefun­den. Er muss ein rei­cher, barm­her­zi­ger Christ gewe­sen sein. Die ers­ten bei­den Buch­sta­ben für „Chris­tus“ – Chi und Ro – sind pro­mi­nent ange­bracht. Doch gleich dane­ben ist das vor­christ­li­che Motiv der Sie­ges­palme zu sehen und das Bild eines Renn­pfer­des. Die kraft­volle Hoff­nung dar­auf, den Tod zu besie­gen, drückt sich hier in einem „heidnisch“-sportlichen Sym­bol aus.

Der Alt­his­to­ri­ker Peter Brown sieht in sol­chen Ver­mi­schun­gen eine Stärke: „Es war genau diese Unsau­ber­keit, die­ser Man­gel an Bestimmt­heit, die­ses Feh­len einer ein­deu­ti­gen Iden­ti­tät, diese oppor­tu­nis­ti­sche Offen­heit, die das Chris­ten­tum – damals mehr eine Bewe­gung als eine Kir­che – so erfolg­reich sein ließ.“ Denn das frühe Chris­ten­tum war – gerade das bele­gen die archäo­lo­gi­schen Funde – inten­siv mit den Kul­tu­ren ver­bun­den, in denen es sich ent­fal­tete. Es gab noch keine strikte Tren­nung zwi­schen „Chris­ten­tum“, „Hei­den­tum“ oder „Juden­tum“. Die frü­hen Chris­ten leb­ten in ver­schie­de­nen Rol­len, Bezü­gen und Iden­ti­tä­ten zugleich. Je nach­dem waren sie mal mehr, mal weni­ger „christ­lich“ – und dies zeigt sich in ihren Bild­wer­ken. Was wir heute „Chris­ten­tum“, „Juden­tum“ oder „Hei­den­tum“ nen­nen, ist zu gro­ßen Tei­len eine Retro-Pro­jek­tion. Man sollte am bes­ten die Idee von fes­ten reli­giö­sen Iden­ti­tä­ten als eine Erfin­dung der Neu­zeit betrach­ten. Natür­lich hat es ansatz­weise in der Antike distinkte reli­giöse Gemein­schaf­ten, Kul­tu­ren und Insti­tu­tio­nen gege­ben. Aber man sollte ihre „iden­ti­täre“ Dichte nicht über­schät­zen. Genau dies zei­gen neuere archäo­lo­gi­sche Forschungen.

Was lehrt uns das heute? Mich hat über­rascht, wie sehr das, was wir heute „Diver­si­tät“ nen­nen, in vor­neu­zeit­li­chen Epo­chen schlicht der lebens­welt­li­che Nor­mal­fall war. Sie musste nicht gefor­dert und geför­dert wer­den. Sie war ein­fach da und zeigte sich unbe­fan­gen in Bil­dern und Kunst­hand­wer­ken. Heute dage­gen ist „Diver­si­tät“ zu einer kul­tur­po­li­ti­schen Leit­vor­stel­lung, einer Art „Leit­kul­tur“, gewor­den. Dafür gibt es gute Gründe. Zugleich aber ver­bin­den sich damit Fra­gen. Was pas­siert mit einem wich­ti­gen gesell­schaft­li­chen Anlie­gen, wenn es zum kul­tur­po­li­ti­schen Haupt­kri­te­rium wird? Droht dann nicht eine poli­ti­sche Funk­tio­na­li­sie­rung der Kul­tur? Dann aber würde „Diver­si­tät“ – ent­ge­gen dem Wort­sinn – zur Eti­kette einer bestimm­ten iden­ti­täts­po­li­ti­schen Posi­tion. „Diver­si­tät“ wäre in die­ser Per­spek­tive also eine „Iden­ti­tät“ neben ande­ren. Das wäre eine Ver­ar­mung. Ange­sichts der kul­tur- und iden­ti­täts­po­li­ti­schen Debat­ten der Gegen­wart erin­nert zum Glück die Archäo­lo­gie daran, was für eine weite, freie, chao­ti­sche, leben­dige und krea­tive Wirk­lich­keit damit bezeich­net wer­den kann. Oder um mit Loriot zu spre­chen: Frü­her war mehr „diver­sity“.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 10/2022.

Von |2023-03-02T15:55:33+01:00Oktober 4th, 2022|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

Frü­her war mehr „diver­sity“

Archäo­lo­gi­sche Funde zei­gen die frühe Ver­bun­den­heit der Kulturen

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.