Wie geht noch mal Gesellschaft?

Zukunft vor Ort gestalten

Die Welt­zu­ver­sicht vie­ler Men­schen zer­bricht in die­sen Wochen. Was nun? Das ist die ent­schei­dende Frage, denn die gewal­ti­gen Ver­än­de­run­gen, die zur­zeit die gesamte Gesell­schaft auf allen denk- und fühl­ba­ren Ebe­nen erfasst haben, wer­den sich nicht ein­fach wie­der auflösen.

Die Vor­stel­lung, dass die Pro­bleme der moder­nen Gesell­schaft so groß, so unüber­schau­bar und mit­ein­an­der ver­knüpft sind, dass man bes­ser gar nicht beginnt, sie anzu­pa­cken, dür­fen wir nicht groß wer­den las­sen. Es wäre eine Ohn­machts­er­klä­rung, dass die Über­nahme von Ver­ant­wor­tung eine aus­sichts­lose Sache sei. Die Gesell­schaft, d. h. jeder Ein­zelne von uns, hat Ver­ant­wor­tung, nicht auf­künd­bare Ver­ant­wor­tung für die Demo­kra­tie. Sie ist der beste und erfolg­reichste Motor, der eine Gesell­schaft am Lau­fen hält. Wenn wir Demo­kra­tie wol­len, müs­sen wir uns neu um Trans­pa­renz in der Gesell­schaft bemü­hen. Die Ent­fer­nung vie­ler Men­schen von der Demo­kra­tie wird zuneh­mend spür­bar. Die gerin­gen Wahl­be­tei­li­gun­gen, etwa jüngst bei der Land­tags­wahl am 15. Mai 2022 in Nord­rhein-West­fa­len, als nur noch 55 Pro­zent der Wahl­be­rech­tig­ten an die Wahl­urne gin­gen, sind ein Alarm­zei­chen: Wir brau­chen mehr Par­ti­zi­pa­tion, mehr Teil­habe und soziale Gerech­tig­keit. Zur­zeit sind das The­men, die zwar theo­re­tisch ange­dacht wer­den, aber auf der aktu­el­len Agenda aller Ebe­nen nur wenig Prio­ri­tät haben.

„Wir haben ver­lernt, wie Gesell­schaft geht – und zwar nicht nur im Osten Deutsch­lands“, schreibt Dirk Neu­bauer, neuer Land­rat von Mit­tel­sach­sen, in sei­nem Buch „Das Pro­blem sind wir“.

Wer ist die­ser Dirk Neu­bauer, der vor neun Jah­ren begann, den Fokus auf die kleine Stadt Augus­tus­burg nahe der tsche­chi­schen Grenze zu rich­ten? 2013 wurde er Bür­ger­meis­ter die­ser Stadt, in der er, so wird berich­tet, alles neu, alles anders, alles bür­ger­nä­her gestal­ten wollte. Neu­bauer, 1971 als Par­tei­lo­ser ins Amt gekom­men, trat spä­ter in die SPD ein. Inzwi­schen hat er die Par­tei wie­der ver­las­sen. Wie er sagt, aus Unzu­frie­den­heit über die Parteipolitik.

Was er vor neun Jah­ren in der Klein­stadt vor­fand, war „Intrans­pa­renz, Poli­tik­ver­dros­sen­heit und ein Gefühl von Ver­lo­gen­heit“. In einer Streit­schrift, die im letz­ten Jahr bei Rowohlt erschien, schrieb er: „Es liegt Wut über dem Land. Alte, gewach­sene Wut. Sie ist aus Schmer­zen und Erleb­nis­sen gemacht. Aus Über­se­hen-Sein und Nicht-gehört-Wer­den. Diese Wut schlug Wur­zeln, als die Mauer fiel und die Men­schen naiv davon aus­gin­gen, alles würde nun ganz auto­ma­tisch gut.“ Jene Wut speiste sich „aus dem Humus der Ver­let­zun­gen: Umbruch, Dau­er­ar­beits­lo­sig­keit, Gesichts­ver­lust, Abwicklung“.

Trotz die­ses Gefühls der Ver­lo­ren­heit ist Neu­bauer über­zeugt, dass unser poli­ti­sches Sys­tem von innen her­aus zu ver­än­dern ist. Als neu gewähl­ter Land­rat kün­digte er Regio­nal­kon­fe­ren­zen an. Mit die­ser Form von Bür­ger­nähe und Bür­ger­be­tei­li­gung hatte er bereits als Bür­ger­meis­ter gute Erfah­run­gen machen kön­nen. Der Augus­tus­bur­ger Imker und Hobby-Gärt­ner, Armin Ger­lach, meinte: „Im neuen Mit­ein­an­der von uns Bür­gern und der kom­mu­na­len Ver­wal­tung ist viel geschafft wor­den in unse­rer klei­nen Stadt, so nimmt z. B. unsere Kin­der­ta­ges­stätte ›Spat­zen­nest‹ am ›EU-Schul­pro­gramm‹ mit finan­zi­el­ler Unter­stüt­zung der Euro­päi­schen Union teil.“

Inzwi­schen ist Augus­tus­burg auch in das Pro­jekt LOSLAND inte­griert, das zehn Kom­mu­nen in Deutsch­land beglei­tet. Es will Zukunft vor Ort gestal­ten und gemein­sam für eine „enkel­taug­li­che Zukunft“ sor­gen. „In der LOS­LAND-Gemein­schaft ist es wich­tig“, so die Pro­jekt­be­schrei­bung, „alle mit­zu­neh­men und nie­man­den auszuschließen“.

Dafür ent­wi­ckelt LOSLAND mit den Kom­mu­nen pass­ge­naue Betei-ligungs­pro­zesse, beglei­tet von Bür­ger­rä­ten, einem Los­ver­fah­ren – daher der Name – und neuen For­men der Bür­ger­be­tei­li­gung. Es wer­den dafür ca. 20 Bür­ge­rin­nen und Bür­ger aus­ge­lost, die anste­hende Fra­gen berat­schla­gen und zusam­men mit einem pro­fes­sio­nel­len Mode­ra­ti­ons­team Emp­feh­lun­gen für poli­ti­sche Pro­zesse erarbeiten.

Die in den LOS­LAND-Kom­mu­nen gemach­ten Erfah­run­gen erge­ben eine neue Land­karte der Mit­ge­stal­tung. So wird LOSLAND in der Lage sein, über die betei­lig­ten Kom­mu­nen hin­aus ein akti­ves, inspi­rie­ren­des Netz­werk zu schaffen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2022.
Von |2023-01-04T13:49:43+01:00September 5th, 2022|Heimat|Kommentare deaktiviert für

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Zukunft vor Ort gestalten

Regine Möbius ist Schriftstellerin und Vorsitzende des Arbeitskreises gesellschaftlicher Gruppen der Stiftung Haus der Geschichte.