Regine Möbius 5. September 2022 Logo_Initiative_print.png

Wie geht noch mal Gesellschaft?

Zukunft vor Ort gestalten

Die Weltzuversicht vieler Menschen zerbricht in diesen Wochen. Was nun? Das ist die entscheidende Frage, denn die gewaltigen Veränderungen, die zurzeit die gesamte Gesellschaft auf allen denk- und fühlbaren Ebenen erfasst haben, werden sich nicht einfach wieder auflösen.

Die Vorstellung, dass die Probleme der modernen Gesellschaft so groß, so unüberschaubar und miteinander verknüpft sind, dass man besser gar nicht beginnt, sie anzupacken, dürfen wir nicht groß werden lassen. Es wäre eine Ohnmachtserklärung, dass die Übernahme von Verantwortung eine aussichtslose Sache sei. Die Gesellschaft, d. h. jeder Einzelne von uns, hat Verantwortung, nicht aufkündbare Verantwortung für die Demokratie. Sie ist der beste und erfolgreichste Motor, der eine Gesellschaft am Laufen hält. Wenn wir Demokratie wollen, müssen wir uns neu um Transparenz in der Gesellschaft bemühen. Die Entfernung vieler Menschen von der Demokratie wird zunehmend spürbar. Die geringen Wahlbeteiligungen, etwa jüngst bei der Landtagswahl am 15. Mai 2022 in Nordrhein-Westfalen, als nur noch 55 Prozent der Wahlberechtigten an die Wahlurne gingen, sind ein Alarmzeichen: Wir brauchen mehr Partizipation, mehr Teilhabe und soziale Gerechtigkeit. Zurzeit sind das Themen, die zwar theoretisch angedacht werden, aber auf der aktuellen Agenda aller Ebenen nur wenig Priorität haben.

„Wir haben verlernt, wie Gesellschaft geht – und zwar nicht nur im Osten Deutschlands“, schreibt Dirk Neubauer, neuer Landrat von Mittelsachsen, in seinem Buch „Das Problem sind wir“.

Wer ist dieser Dirk Neubauer, der vor neun Jahren begann, den Fokus auf die kleine Stadt Augustusburg nahe der tschechischen Grenze zu richten? 2013 wurde er Bürgermeister dieser Stadt, in der er, so wird berichtet, alles neu, alles anders, alles bürgernäher gestalten wollte. Neubauer, 1971 als Parteiloser ins Amt gekommen, trat später in die SPD ein. Inzwischen hat er die Partei wieder verlassen. Wie er sagt, aus Unzufriedenheit über die Parteipolitik.

Was er vor neun Jahren in der Kleinstadt vorfand, war „Intransparenz, Politikverdrossenheit und ein Gefühl von Verlogenheit“. In einer Streitschrift, die im letzten Jahr bei Rowohlt erschien, schrieb er: „Es liegt Wut über dem Land. Alte, gewachsene Wut. Sie ist aus Schmerzen und Erlebnissen gemacht. Aus Übersehen-Sein und Nicht-gehört-Werden. Diese Wut schlug Wurzeln, als die Mauer fiel und die Menschen naiv davon ausgingen, alles würde nun ganz automatisch gut.“ Jene Wut speiste sich „aus dem Humus der Verletzungen: Umbruch, Dauerarbeitslosigkeit, Gesichtsverlust, Abwicklung“.

Trotz dieses Gefühls der Verlorenheit ist Neubauer überzeugt, dass unser politisches System von innen heraus zu verändern ist. Als neu gewählter Landrat kündigte er Regionalkonferenzen an. Mit dieser Form von Bürgernähe und Bürgerbeteiligung hatte er bereits als Bürgermeister gute Erfahrungen machen können. Der Augustusburger Imker und Hobby-Gärtner, Armin Gerlach, meinte: „Im neuen Miteinander von uns Bürgern und der kommunalen Verwaltung ist viel geschafft worden in unserer kleinen Stadt, so nimmt z. B. unsere Kindertagesstätte ›Spatzennest‹ am ›EU-Schulprogramm‹ mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union teil.“

Inzwischen ist Augustusburg auch in das Projekt LOSLAND integriert, das zehn Kommunen in Deutschland begleitet. Es will Zukunft vor Ort gestalten und gemeinsam für eine „enkeltaugliche Zukunft“ sorgen. „In der LOSLAND-Gemeinschaft ist es wichtig“, so die Projektbeschreibung, „alle mitzunehmen und niemanden auszuschließen“.

Dafür entwickelt LOSLAND mit den Kommunen passgenaue Betei-ligungsprozesse, begleitet von Bürgerräten, einem Losverfahren – daher der Name – und neuen Formen der Bürgerbeteiligung. Es werden dafür ca. 20 Bürgerinnen und Bürger ausgelost, die anstehende Fragen beratschlagen und zusammen mit einem professionellen Moderationsteam Empfehlungen für politische Prozesse erarbeiten.

Die in den LOSLAND-Kommunen gemachten Erfahrungen ergeben eine neue Landkarte der Mitgestaltung. So wird LOSLAND in der Lage sein, über die beteiligten Kommunen hinaus ein aktives, inspirierendes Netzwerk zu schaffen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.
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