Rassismus benachteiligt, entwürdigt, macht krank. Rassismus tötet. Auch heute noch. Darf man dennoch konstatieren, dass er den größten Teil seiner Wirkmächtigkeit verloren hat? Zum Verständnis der Gegenwart muss man dies tun. Weder die Globalisierung noch die politische Weltkarte, weder die Verhältnisse in Deutschland noch der Zustand der Weltgesellschaft lassen sich ohne eine intensive Auseinandersetzung mit dieser Herrschaftsideologie, die eine der wirkmächtigsten der Menschheitsgeschichte war, verstehen. Rassismus ist heute nicht mehr das dominante Ordnungsprinzip der Gesellschaft und der Welt. Umso bemerkenswerter, wie stark die heute existenten „Überbleibsel“ noch immer wirken.
Die Erfindung von Menschenrassen diente der Sicherung und Legitimation von Herrschaft. Die Enteignung und das Entmenschlichen bestimmter Gruppen wurden zu etwas Natürlichem oder Gottgegebenen, in jedem Falle zu etwas Gerechtem gemacht. Das ist heute keineswegs mehr der Fall. Weniges wird derart stark geächtet wie Rassismus. Nicht einmal lupenreine Rassistinnen und Rassisten bezeichnen sich noch als solche. Doch der Rassismus hat sich in die Gesellschaft und ihren Institutionen eingeschrieben, erkennbar an den Einkommens-, Vermögens- und Klassenverhältnissen, erlebbar in Kultur und Alltag, hörbar in der Sprache und so weiter. Rassismus hält die (ungerechte) Gesellschaft zusammen. Die Selbstverständlichkeiten der Gesellschaft sind rassistisch geprägt, denn fast alles, was die moderne Weltgesellschaft ausmacht, entstand in der Hochphase des Rassismus: Aufklärung, Wissenschaft, Globalisierung, Kapitalismus, Nationalstaaten und ihre Staatsbürgerschaften.
Solche kulturellen Selbstverständlichkeiten – Pierre Bourdieu nannte sie Doxa – entziehen sich weitgehend öffentlichen Diskursen und sind kaum kritisch zu hinterfragen. Aber seit kurzer Zeit hat sich das ganz deutlich geändert. Es wird so viel über Rassismus in allen Bereichen und Kontexten gesprochen wie nie – von Betroffenen, Aktivistinnen und Aktivisten, Initiativen usw. Es entwickeln sich hitzige Diskurse, die bei den meisten Menschen den Eindruck hinterlassen, man würde Rückschritte machen – vielerorts hört man die Aussage „Wir waren mal weiter“.
Ist die offene Gesellschaft also doch nicht offen? Sie ist nicht so offen wie gedacht, aber das kann sie nur deshalb feststellen, weil sie schon ziemlich offen ist, viel offener als je zuvor. Denn die Tatsache, dass heute artikuliert wird, was früher nicht artikulierbar war, ist ein Beleg für Öffnungsprozesse. Dem heute geführten Diskurs sind viele Entwicklungen vorausgegangen: Teilhabe- und Aufstiegsprozesse von nichtweißen Menschen und Migrantinnen und Migranten, eine stärkere Sensibilisierung für verschiedene Formen von Diskriminierung und viele weitere Liberalisierungsprozesse. Rassistisch motivierte Anschläge und Morde waren vielfach die Auslöser für Demonstration und Proteste, die Ursachen liegen viel tiefer, nämlich in den bereits stattgefundenen nachhaltigen Entwicklungen hin zur offenen Gesellschaft.
Deshalb wird Widerstand gegen Rassismus nun artikuliert, mit starken Spannungen und Übertreibungen, was zum einen an den gesellschaftlichen Beharrungskräften liegt, die zu Schließungstendenzen führen können, zum anderen, weil der rassismuskritische Widerstand nicht nur jung im Diskurs, sondern auch von jungen Akteurinnen und Akteuren vorangetrieben wird. Der Diskurs ist Beleg für gesellschaftliche Veränderungen. Die diskurstreibenden Kräfte wollen noch mehr und noch schnellere Veränderungen. Veränderungen führen zu Reibung und zu Gegenbewegungen. Die offene Gesellschaft ermöglicht mehr Chancen, erzeugt aber auch mehr Konflikte. Man kann also durchaus die These aufstellen, dass all das Symptome einer Zeitenwende sind: Die offene Gesellschaft ist nicht mehr ein fernes Ziel, sondern steht vor der Realisierung.
Und damit wäre ich bei der angekündigten Frage: Weshalb „Wozu Rassismus?“. Es gibt inhaltliche Antworten (etwa zur Hartnäckigkeit der Ideologie) und methodische Antworten (etwa zu Funktion und Wirkung). Es gibt aber auch gute Gründe für Gelassenheit, denn wir waren nie weiter. Die Perspektive „Wozu Rassismus?“ ist in meinem Buch „Wozu Rassismus?“ handlungsleitend. Es ist genau genommen also keine Frage, deshalb gibt es auch nicht die eine Antwort, sondern mehrere im genannten Buch. Der seltenere intendierte und gewaltvolle Rassismus, also Rechtsextremismus, wird nur am Rande thematisiert. Viel stärker stehen die historischen und strukturellen Dimensionen und ihre Folgen im Mittelpunkt, also der Rassismus der gesellschaftlichen Mitte und die Involviertheit des Staates.
Und damit bin ich bei einer nicht minder wichtigen Frage: Wozu das Buch? Nach einigen Büchern aus einer Betroffenenperspektive, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dieses Thema im öffentlichen Diskurs zu etablieren, soll das erwähnte Buch Überblick und Systematik sowie Deutungsangebote im Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen bieten. Rassismus ist ein Thema des Mainstreams geworden. Mainstreaming bedeutet immer, dass es nun sehr viele interessiert und viele Menschen und Medien im Diskurs teilnehmen (was wünschenswert ist), deshalb aber das Diskursniveau (zwischenzeitlich) sinkt, weil nicht mehr nur Menschen mit Expertise und Erfahrung miteinander reden. Sobald ein Thema trendy und kommerzialisierbar ist, wird es als wichtig wahrgenommen, ist aber auch anfällig. Die Komplexität des Themenfeldes ist dabei enorm und auch die Widersprüchlichkeiten und Paradoxien. Es gibt viele Fragen, die überhaupt nicht trivial sind, etwa: Ist es gut oder schlecht, „Hautfarben“ zu benennen? Wäre es nicht besser, „hautfarbenblind“ zu sein? Außerdem von großer Relevanz: die verschiedenen Umgangs- und Bewältigungsstrategien Betroffener zu verstehen und die eigene Involviertheit, egal, wer man ist, zu erkennen.
Die Übertragung von Theorien, Erkenntnissen und Diskursen auf die Situation in Deutschland steht dabei im Mittelpunkt. Dadurch dass US-amerikanische Ansätze und Diskurse 1:1 übersetzt wurden und deshalb nicht so recht passen, kommt es nicht nur zu vermeidbaren Missverständnissen, sondern auch zu unnötigen Kontroversen und Überhitzungen im Diskurs. In den USA sind Menschen aus Italien, Griechenland, Kroatien oder Polen schlichtweg Weiße und können nicht vom Rassismus betroffen sein. Bezogen auf die US-amerikanischen Verhältnisse stimmt der Satz: „Es gibt keinen Rassismus gegen weiße Menschen.“ In Deutschland sieht das ganz anders aus. Hier (und in anderen Teilen Europas) müsste man sagen: „Menschen mit Wurzeln in Ost- oder Südeuropa erleben Rassismus, aber nicht weil, sondern obwohl sie weiß sind.“ Gleichzeitig ist von großer Relevanz, welche Zeit man betrachtet. Es gibt letztlich weniges, was in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit im Hinblick auf Rassismus identisch war (und ist).
Daher werden allgemeine Entwicklungen beschrieben, aber auch spezifisch deutsche, die mit einer besonderen kolonialen Vergangenheit und vielfältigen rassistischen Exzessen zusammenhängen, die sich nicht nur entlang der Konstruktion von „Hautfarbe“, sondern auch entlang „feinerer“ Unterscheidungen (etwa nichtdeutsch, migrantisch oder jüdisch) entspinnen.
Dabei ist der gesamte Text um differenzierte und klare Analysen und zugleich um die gebotene Sensibilität bemüht. Durch Differenziertheit und Klarheit lässt sich die altbekannte tautologische Falle vermeiden, nämlich dass alles mit allem zusammenhängt – und am Ende doch der Kapitalismus an allem schuld ist. Die gebotene Sensibilität findet sich im Bemühen um diskriminierungskritische Sprache – im Wissen, dass eine diskriminierungsfreie Sprache kaum möglich ist. Daher werden im Haupttext hochproblematische Wörter maskiert (etwa Z*schnitzel oder N*kuss), ausschließlich in den Endnoten werden sie in Zitaten ausgeschrieben, auch um die Härte der Formulierungen etwa in weltbekannten Liedern oder Texten von kanonischen Denkern spürbar zu machen. Wer das nicht lesen möchte, kann die Endnoten ignorieren. Wer nicht versteht, warum man bestimmte Wörter nur noch in belegenden Zitaten und im Kleingedruckten ausschreibt, versteht es vielleicht nach der Lektüre des Buchs „Wozu Rassismus?“ inklusive der Endnoten besser – oder versteht, warum man es nicht verstehen will.
Aus: Aladin El-Mafaalani: Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2021
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2022.