„Wir dür­fen nicht ein­fach ein unge­rech­tes Sys­tem ein biss­chen diver­ser machen“

Die Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin und Schrift­stel­le­rin Mithu San­yal im Gespräch

Mithu San­yals Roman „Iden­titti“, der sich auf ein­ma­lig unter­hal­tende Art und Weise mit Identitätspolitik(en) befasst, hat es im ver­gan­ge­nen Jahr direkt auf die Spie­gel-Best­sel­ler­liste geschafft – obwohl er zuvor von Ver­la­gen oft als „Spar­ten­lek­türe“, für die es auf dem deut­schen Buch­markt keine Leser­schaft gäbe, abge­wie­sen wurde. Im Gespräch mit The­resa Brüh­eim spricht San­yal über den Weg und die Bedeu­tung ihres Romans, das Genre der post­mi­gran­ti­schen Lite­ra­tur in Deutsch­land und Ras­sis­mus im Kulturbetrieb.

The­resa Brüh­eim: Frau San­yal, Sie sind Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin und befas­sen sich unter ande­rem mit dem Thema Iden­ti­tät. „Iden­titti“ ist Ihr ers­ter Roman. Was hat Sie dazu moti­viert, nach ein­schlä­gi­gen Fach­bü­chern einen Roman zu veröffentlichen?
Mithu San­yal: Ich wollte immer Romane schrei­ben. Aber der deut­sche Lite­ra­tur­markt hat mir gesagt: „Sehr hübsch. Wird sich nie­mals ver­kau­fen, lei­der, lei­der. Wir wür­den es ja gerne machen.“ Und es war auch mit die­sem Roman noch so. Ich hatte die ers­ten 60 bis 90 Sei­ten geschrie­ben und da haben Ver­lage noch gesagt: „Super, gefällt uns total gut. Aber das wer­den wir nicht ver­kauft krie­gen.“ Meine Agen­tin Karin Graf hat es dann doch unter­be­kom­men, aber auch weil mein Lek­tor bei Han­ser, Flo­rian Kess­ler, expli­zit die­ses Buch haben wollte. Er hat sich dafür sehr ein­ge­setzt. Und dann ist es direkt auf der Spie­gel-Best­sel­ler­liste gelan­det. Das zeigt, dass der Lite­ra­tur­markt eben nicht alle Bedürf­nisse der Lesen­den abdeckt. Auch bei dem Sam­mel­band „Eure Hei­mat ist unser Alb­traum“, zu dem ich einen Text bei­getra­gen habe, war es schwie­rig, einen Ver­lag zu fin­den. Das war das erste Buch, an dem ich mich betei­ligt habe, was direkt auf der Spie­gel-Best­sel­ler­liste war. Und trotz­dem hieß es noch: „Das sind ja so Leute, die kom­men nicht zu Lesun­gen.“ Und genau das Gegen­teil war der Fall. Ich hatte noch nie so diverse Lesun­gen wie mit die­sem Buch. Wenn man Leute direkt anspricht, dann kom­men sie auch.

Mit wel­chem Argu­ment wurde denn unter­legt, dass es keine Leser­schaft für „Iden­titti“ gäbe und es sich nicht ver­kau­fen würde?
Es sei ein Spar­ten­thema – das kam auch von Leu­ten, die ich sehr schätze, die es aber falsch ein­ge­schätzt haben. Ich habe noch nie so wert­schät­zende Ableh­nun­gen bekom­men: „Das ist toll geschrie­ben. Es ist lus­tig. Wir wür­den es auch gerne neh­men, aber lei­der, lei­der, müs­sen wir auch über­le­ben und wirt­schaf­ten.“ Das sagt ganz viel dar­über aus, wer mit der deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur ange­spro­chen wird. Aber da ver­än­dert sich gerade viel. Und ich bin so dank­bar dafür, dass mein Roman nicht der ein­zige aus die­sem wei­ten Spek­trum der post­mi­gran­ti­schen Lite­ra­tur ist – was auch immer das bedeu­tet –, son­dern dass es mitt­ler­weile so viele Bücher gibt, die gleich­zei­tig mediale Auf­merk­sam­keit bekom­men. Frü­her war es pro Buch­messe viel­leicht eins. Das war dann immer der Beweis: „Wir sind total offen, aber …“ Oder uns wurde gesagt: „Ja, aber guck mal, wir haben doch Toni Mor­ri­son über­setzt, wir sind total viel­fäl­tig.“ Das ist wirk­lich wich­tig und toll, aber wir brau­chen diese Lite­ra­tur eben auch hier in Deutschland.

Die Haupt­fi­gur von „Iden­titti“ ist Nive­dita. Nive­dita ist pol­nisch-indi­scher Her­kunft. Sie sind auch pol­nisch-indi­scher Her­kunft. Inwie­weit ver­ar­bei­ten Sie dar­über hin­aus in dem Roman bezie­hungs­weise in der Roman­fi­gur Nive­dita eigene Erfahrungen?
Wenn man Romane schreibt, ist immer ganz viel von einem selbst mit drin. Aber das ist in jeder Figur des Romans so. Ich bin auch Saras­wati, ich bin auch Lotte. Ich bin alle Figu­ren in die­sem Roman. Aber es war eine bewusste Ent­schei­dung, eine Mixed-Race­­Fi­gur im Roman zu haben, deren Vater indisch und deren Mut­ter pol­nisch ist. Da gibt es ganz, ganz viele Gründe für – auch weil Deutsch­land die eigene Geschichte mit Polen so gar nicht reflek­tiert. Aber „Iden­titti“ wird häu­fig als der auto­fik­tio­nale Roman von Mithu San­yal dar­ge­stellt. Das ist Eti­ket­ten­schwin­del. Das ist kein auto­fik­tio­na­ler Roman, es ist ein ganz klas­si­scher Erzähl­ro­man, der einen kla­ren Plot und ein­deu­tig erkenn­bare Figu­ren hat, die Dia­loge in Anfüh­rungs­zei­chen füh­ren. Aber es ist eben noch so wie in den 1980er Jah­ren: Eine Frau schreibt einen Roman, in dem eine vor­kommt  – und schon hieß es: „Das bist du.“ Es gibt aber mehr als nur eine von uns. Es war mir ent­spre­chend wich­tig, über eine Com­mu­nity und bestimmte Aus­ein­an­der­set­zun­gen zu schrei­ben, die mir in der Lite­ra­tur, mit der ich groß gewor­den bin, gefehlt haben. Es ist irre, wie viele Men­schen mir geschrie­ben haben: „End­lich fühle ich mich in einem deutsch­spra­chi­gen Roman reprä­sen­tiert.“ Das ist auf der einen Seite das, was ich wollte, und gleich­zei­tig bricht es mir das Herz. Was sagt das über die deutsch­spra­chige Lite­ra­tur aus?

Sie haben im Roman auch den Fall der US-ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­rechts­ak­ti­vis­tin Rachel Dole­zal ver­ar­bei­tet. Eine weiße Frau, die sich als Schwarze aus­ge­ge­ben hat. Wel­che Idee oder auch Moti­va­tion steht dahin­ter, die­sen Fall in der Figur Saras­wati aufzugreifen?
Ich habe den Fall damals sehr inten­siv in den sozia­len Medien ver­folgt, wo er hart aus­ge­kämpft wurde. Alle Fra­gen, die Dole­zal gestellt wur­den, waren Fra­gen, die mir mein Leben lang gestellt wur­den: Wer bist du? Wer bist du wirk­lich? Kannst du bewei­sen, dass du bist, wer du bist? Und plötz­lich drehte sich etwas. Saras­wati und Nive­dita kom­men im Roman von unter­schied­li­chen Sei­ten an das­selbe Thema. Saras­wati nimmt sich etwas mit einer gro­ßen Selbst­ver­ständ­lich­keit. Das ist ja nicht nur falsch, aber es ist auch nicht rich­tig. Wäh­rend Nive­dita denkt, sie habe gar kein Anrecht auf irgend­et­was. Sie ist nicht deutsch genug, nicht indisch genug, nicht pol­nisch genug. Ent­spre­chend konnte ich für den Roman den stark ver­än­der­ten und für Deutsch­land adap­tier­ten Fall Dole­zal als Kata­ly­sa­tor benut­zen, um Niveditas­Geschichte zu erzäh­len. Denn die gestell­ten Fra­gen sind zwar falsch, aber die Aus­ein­an­der­set­zun­gen sind trotz­dem wichtig.

Heute sind wir bei der Tagung der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion „Zusam­men­halt gegen Ras­sis­mus“. Sie sind seit vie­len Jah­ren als Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin, als Jour­na­lis­tin, als Schrift­stel­le­rin Teil der Kul­tur­bran­che. Wie ist es Ihres Erach­tens aktu­ell um den Ras­sis­mus im Kul­tur­be­trieb bestellt?
Der Kul­tur­be­trieb muss sich im Moment ganz vie­len Din­gen stel­len, denen wir uns ganz lang nicht stel­len muss­ten. Wir mer­ken es z. B. an den Fra­gen im Thea­ter. Dür­fen nur Schwarze Schwarze spie­len? Und die Frage ist natür­lich Quatsch. Aber sie basiert dar­auf, dass z. B. mir beim Krip­pen­spiel ganz lang gesagt wurde: „Liebe Mithu, natür­lich kannst du nicht Maria spie­len, Maria in Bet­le­hem war blond und blau­äu­gig, wir müs­sen schon his­to­risch kor­rekt blei­ben.“ Das heißt, ich musste dann den Bal­tha­sar spie­len. Ich musste als Kind Black­fa­cing machen – nicht frei­wil­lig wohl­ge­merkt. Wenn es mal eine Rolle für eine Schwarze Figur oder einen Über­set­zungs­auf­trag für einen Schwar­zen Autor gab, dann wur­den diese bis­her oft­mals an weiße Men­schen ver­ge­ben. Es ent­zün­det sich an kon­kre­ten Fäl­len und wird dann von den Medien häu­fig so run­ter­ge­bro­chen: „Jetzt dür­fen nur noch Schwarze Schwarze spie­len und nur noch Links­hän­der Links­hän­der.“ Darum geht es natür­lich nicht. Es geht darum, dass wir auf­bre­chen, dass wir wirk­lich alle alle spie­len können.

Mein Roman „Iden­titti“ ist als Thea­ter­stück adap­tiert wor­den. Und viele Thea­ter haben ein rie­si­ges Pro­blem, weil sie kein Ensem­ble haben, das die­sen Roman in Reprä­sen­ta­tion auf die Bühne brin­gen kann. Das muss ja nicht sein. Aber dann muss man erklä­ren, warum diese Figu­ren von Wei­ßen gespielt wer­den. Und dafür muss es einen bes­se­ren Grund geben als: „Wir ken­nen keine anderen.“

Und warum ist es so, dass die Ensem­bles so weiß sind? Es ist ein­mal Ein­stel­lungs­po­li­tik, aber es hat auch ganz viel damit zu, wer an die Schau­spiel­schu­len, Unis etc. geht. Wer kann es sich leis­ten, das zu stu­die­ren? Wer hat auch das Gefühl: „Es wird mal Rol­len für mich geben?“ Das heißt, wir müs­sen schon viel frü­her anfan­gen. Obwohl die Debat­ten häu­fig dys­funk­tio­nal geführt wer­den, haben sie den­noch den Effekt, dass wir uns mit den The­men aus­ein­an­der­set­zen müs­sen. Das Ergeb­nis wird sein, dass Dinge fai­rer und reprä­sen­ta­ti­ver sind.

Wir alle haben unter­schied­li­che Blick­win­kel. Je unter­schied­li­cher der Blick ist, desto grö­ßer ist die Wahr­schein­lich­keit, dass wir eine diver­sere Aus­wahl tref­fen. Erschüt­te­run­gen sind auch wich­tig. Wir machen auto­ma­tisch Dinge. Das Gehirn geht immer auto­ma­tisch die­sel­ben Wege. Und wir müs­sen diese Wege erweitern.

Ganz rich­tig, wir müs­sen die Wege erwei­tern. Inwie­weit haben sich diese Wege in den letz­ten zehn, zwan­zig Jah­ren bereits erwei­tert oder nur ver­än­dert? Wel­che Ent­wick­lung haben Sie bezüg­lich Ras­sis­mus im Kul­tur­be­reich in die­sem Zeit­raum beobachtet?
Frü­her war Ras­sis­mus kein Thema. Sexis­mus war auch kein Thema. Aber bei­des war wirk­lich. Und wenn ich über Ras­sis­mus reden wollte, haben mir Men­schen z. B. gesagt: „Mithu, es gibt keine Men­schen­ras­sen. Also kann es auch kei­nen Ras­sis­mus geben, es sei denn, bei den Nazis. Und wenn du dar­über spre­chen möch­test, dann bist du ras­sis­tisch, weil du dich auf ein altes Nazikon­zept beziehst.“ Oder es hieß bei Podi­ums­dis­kus­sio­nen in den 1990er Jah­ren: „Nein, Mithu, du bist ja betrof­fen, also kannst du nicht objek­tiv drü­ber reden. Lass mal die Exper­ten drü­ber reden.“ Die Exper­ten waren immer weiße Män­ner. Ich will nicht sagen, dass man als wei­ßer Mann nicht über Ras­sis­mus reden kann und soll. Aber es geht darum, dass du genauso Exper­tin sein kannst, wenn du dich mit einem Thema aus­ein­an­der­setzt und auch betrof­fen bist. Wir alle sind in irgend­ei­ner Form
betrof­fen. Auch wenn wir weiß sind, leben wir in der­sel­ben Gesell­schaft und sind davon betroffen.

Was wür­den Sie sich mehr wün­schen? Oder was for­dern Sie auch diesbezüglich?
Ich for­dere, dass wir insti­tu­tio­nel­len Ras­sis­mus bekämp­fen. Z. B. soll es eine externe Beschwer­de­stelle bei der Poli­zei geben. Das ist ein ganz wich­ti­ger ers­ter Schritt.

Ins­ge­samt ist es wich­tig, dass wir nicht ein unge­rech­tes Sys­tem jetzt ein biss­chen diver­ser machen. Das ist häu­fig die Gefahr darin. Wir soll­ten alle das Pri­vi­leg haben, als Mensch behan­delt zu wer­den. Mir ist auch wich­tig, dass wir nicht über Ras­sis­mus reden als sei das eine Cha­rak­ter­schwä­che, son­dern es ist eine Struk­tur, in der wir leben. Und wir kön­nen diese Struk­tu­ren ver­än­dern. Aber nur ganz wenige Men­schen machen es. Es gibt Men­schen, die expli­zit gern ras­sis­tisch sein wol­len. Aber in der Regel ist das Gegen­teil der Fall. Die größte
Belei­di­gung für viele Men­schen ist: „Das war ras­sis­tisch.“ Ich wün­sche mir auch eine grö­ßere Feh­ler­kul­tur – dass wir daran ler­nen dür­fen, dass wir als Gesell­schaft ler­nen dürfen.

Vie­len Dank.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 07-08/2022.

Von |2022-08-05T10:03:57+02:00Juli 4th, 2022|Rassismus|Kommentare deaktiviert für

„Wir dür­fen nicht ein­fach ein unge­rech­tes Sys­tem ein biss­chen diver­ser machen“

Die Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin und Schrift­stel­le­rin Mithu San­yal im Gespräch

Mithu Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Schriftstellerin. Ihr Debütroman »Identitti« ist 2021 bei Hanser erschienen. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.