„Kurz die Hose, lang der Rock,
krumm die Nase und der Stock,
Augen schwarz und Seele grau,
Hut nach hinten, Miene schlau –
So ist Schmulchen Schievelbeiner.
(Schöner ist doch unsereiner!)“
Wilhelm Buschs Bildergeschichte „Plisch und Plum“, 1882, begleitet die titelgebenden Hunde dabei, wie sie das Leben der Familie Fittig durcheinanderbringen. Zwischen vielem anderen Tumult, springen sie den gerade am Haus vorbei spazierenden und mit den zitierten Sätzen zweifelsfrei als Jude markierten Schievelbeiner an und zerbeißen seine Kleider. Er trickst sie aus, indem er selbst auf alle Viere geht und sich auf diese Weise rückwärts von ihnen fortbewegt. Versehentlich bringt er dabei die Hausherrin zu Fall – sich zu entschuldigen, kommt ihm jedoch nicht in den Sinn:
„’Wai!‘ – rief Schmul – ‚ich bin entzwei!
Zahlt der Herr von Fittig nicht,
Werd ich klagen bei’s Gericht!‘“
Die Episode enthält auf knappem Raum derart viele Stereotype, dass man kaum weiß, wo anfangen. Bei der Beschreibung der unpassenden Kleidung, durch die Schievelbeiner gleich zu Beginn als verschrobene Figur erscheint? Bei der allzu klischeehaft gebogenen Nase und den mit ihrer Dunkelheit gleich auch als fremd markierten Augen? Bei dem Vornamen, der seinen Träger – einen erwachsenen Mann – klein macht, und dem Nachnamen, der körperliche Defizite anklingen lässt? Oder doch eher bei der grammatikalisch fehlerhaften Sprache, der Versessenheit aufs Geld und der sofortigen Drohung, das Gegenüber zu verklagen – was man sich bei der grauen Seele auch gleich hätte denken können? Beruhigend jedenfalls, dass in Klammern gegenüber – und damit klargestellt wird: Das hier ist keiner von „uns“. (Und „wir“ sind besser!)
Für literarische Texte gelten andere Regeln als für journalistische, politische oder wissenschaftliche. Das entbindet sie jedoch nicht von einer genauen Analyse, Einordnung und Interpretation, wenn es um den Gebrauch antisemitischer Stereotype und Strukturen geht – denn gerade über künstlerische Werke werden Bilder und Vorstellungen konstruiert und popularisiert, bevor sie auch außerhalb dieses geschützten Raumes Wirkung entfalten, nicht selten gewaltvolle.
So notwendig und wichtig eine literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung daher ist, bleibt sie dennoch umstritten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung nannte sie eine „zur Ungeisteraustreibung bestellte Wissenschaft“ mit „exorzistische[m] Gestus, der mehr verstellt als sichtbar macht“; die Süddeutsche Zeitung sah gar eine nur „vermeintliche Wissenschaft, die Literatur nicht erhellt und erhält, sondern vernichtet“: Es handle sich um eine „eher sportive germanistische Disziplin“, um „Pranger-Philologie“. Der Tenor der Kritik ist deutlich: Wer die Frage nach dem literarischen Antisemitismus eines Textes stellt, führt eine Gesinnungsprüfung durch und missachtet die – gesetzlich geschützte – Eigenlogik künstlerischer Werke.
Es geht jedoch weder darum, Kunst zu reglementieren, noch darum festzustellen, ob ein Autor oder eine Autorin antisemitisch ist. Das ist weder Zweck noch Zuständigkeit der Literaturwissenschaft. Gefragt ist vielmehr ihre Kernkompetenz: Eine philologisch präzise Lektüre, die gerade keine voreiligen Schlüsse zieht, sondern widerstreitenden Sinnangeboten nachgeht, dem ästhetischen Charakter der Texte gerecht wird und diese nicht trotz, sondern gerade deshalb nicht leichtfertig aus der Verantwortung entlässt. Den einen Weg, einem literarischen Text eindeutig und zweifelsfrei Antisemitismus zu attestieren, kann es daher nicht geben. Der Nachweis bestimmter Stereotype – wie zu Beginn dieses Artikels –, sprachlicher Stilmittel oder textueller Strukturen etwa kann lediglich als Indikator dienen; entscheidend ist eine Untersuchung ihrer Funktion und ihres Kontextes. Wird dem Erzähler von anderen Figuren oder dem Aufbau des Textes widersprochen – oder werden seine Aussagen beglaubigt und bekräftigt? Werden antisemitische Klischees auch auf Ebene der Form des Textes fortgeschrieben und diskursfähig gemacht – oder im Gegenteil ausgestellt und entlarvt?
Nach Beantwortung dieser und weiterer Fragen ist die Forschung bei „Plisch und Plum“ recht einig, dass es sich um ein Beispiel für Literarischen Antisemitismus handelt. Der Text steht damit in einer langen und unrühmlichen Tradition, in der sich vor und nach ihm unter anderem Achim von Arnims „Die Majoratsherren“, Gustav Freytags „Soll und Haben“ und Wilhelm Raabes „Der Hungerpastor“ sowie Thomas Manns „Wälsungenblut“, Martin Mosebachs „Das Bett“ oder Uwe Tellkamps „Der Eisvogel“ nennen ließen. Keine abseitigen Werke, sondern solche, die sich im germanistischen Kanon und auf Bestsellerlisten, in Lehrplänen und auf Shortlists für Buchpreise wiederfanden. Eine häufig vorgebrachte Sorge ist daher unbegründet: Auch Wilhelm Busch wird nicht „gecancelt“. Man könnte jedoch fragen, warum man sich darum mehr Gedanken macht als um antisemitische Klischees in deutschen Kinderzimmern.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2022.