Es war eine irritierende Erfahrung. Vor sechs Jahren zeigte Lawrence Abu Hamdan in der Frankfurter Kunsthalle „Portikus“ seine Installation „Earshot“. Darin ging es um zwei palästinensische Jugendliche, die laut Abu Hamdan von der israelischen Armee erschossen wurden – und zwar, so will es der britisch-libanesische Künstler in seiner Untersuchung einer Tonaufzeichnung der Schüsse herausgefunden haben, illegalerweise mit scharfer Munition. Auf die Frage eines Journalisten antwortete Abu Hamdan damals, der israelischen Armee glaube er kein Wort. Der eigentlich weltläufig und eloquent wirkende Künstler erschien dabei verbissen und kühl.
Die Recherche führte er in Zusammenarbeit mit dem Londoner Kollektiv „Forensic Architecture“ durch, das die Ergebnisse seiner Untersuchungen, ebenso wie Abu Hamdan, oft in Museen und Kunsthallen präsentiert – derzeit widmet der Frankfurter Kunstverein dem Kollektiv eine Einzelausstellung. Gegründet wurde das Kollektiv von dem in Israel geborenen Architekten Eyal Weizman. Unter anderem untersucht es Vorfälle, die dem jüdischen Staat als Menschenrechtsverletzungen angelastet werden. Dabei erhebt das Kollektiv einen Anspruch auf Evidenz.
„Lawrence Abu Hamdan, Artist, Beirut/Dubai“ lautete der erste Eintrag auf der Unterschriftenliste zu einem im Dezember 2020 publizierten offenen Brief von über 1500 teils namhaften internationalen Künstlern, Kuratoren und Theoretikern. Das Schreiben begrüßte die umstrittene „Initiative GG 5.3. Weltoffenheit“ mehrerer deutscher Kulturinstitute und forderte zugleich den Deutschen Bundestag auf, seinen – rechtlich unverbindlichen – Beschluss vom 17. Mai 2019 zurückzunehmen. Dieser stuft die Israel-Boykottbewegung „Boycott, Divestment and Sanctions“, kurz BDS als antisemitisch ein und fordert den Entzug öffentlicher Fördergelder für BDS-Unterstützerprojekte. „Wir lehnen ihn ab, weil er für öffentliche Institutionen genau in dem Moment praktisch ein Klima der Zensur geschaffen hat“, heißt es in dem Brief. Auch Eyal Weizman war unter den Unterzeichnern.
Wenn man herausfinden möchte, ob es Antisemitismus in der zeitgenössischen Kunst gibt, lohnt sich ein Blick auf Akteure wie Lawrence Abu Hamdan und „Forensic Architecture“. Denn sie stehen exemplarisch für zwei problematische Entwicklungen, die sich in den jüngsten Turbulenzen rund um die „documenta fifteen“ widerspiegeln. Zum einen geht es um eine antizionistische Grundstimmung, die sich seit einigen Jahren im Kunstbetrieb und der avancierten Kunstpublizistik beobachten lässt. Landauf, landab werden BDS-Unterstützungsaufrufe verbreitet; Künstler und Kuratoren, die sich kritisch mit der Israel-Boykottbewegung auseinandersetzen, werden an den Pranger gestellt. Das widerfuhr etwa den Machern der im September 2020 unter dem Titel „Anti-Antisemitismus“ erschienenen Ausgabe des renommierten Magazins „Texte zur Kunst“.
Zum anderen stehen Lawrence Abu Hamdan und „Forensic Architecture“ stellvertretend für ein Kunstverständnis, das den ästhetischen Raum des Unscharfen und Ungefähren zugunsten vermeintlich evidenzbasierter Recherchen mit politisch-aktivistischem Anspruch aufgibt. Wer, wie Abu Hamdan, seine Untersuchungsergebnisse dem US-Kongress vorlegt, um seine Vorwürfe und Behauptungen zu belegen, betritt den realen politischen Raum. Wer sich bewusst in diesen Raum begibt, sollte die Kunstfreiheit nicht als Schutzschild einsetzen, sondern politischen Druck und Widerspruch aushalten können und wollen. Stattdessen gerieren sich aktivistisch auftretende Akteure, wie auch das für die „documenta fifteen“ inhaltlich verantwortliche Kollektiv „ruangrupa“, als Opfer. Auch sie greifen zum Zensurvorwurf. In einem am 9. Mai in der „Berliner Zeitung“ veröffentlichten Brief sprechen „ruangrupa, das künstlerische Team der documenta fifteen und einige der Kurator*innen des gescheiterten Forums“ von einem „Versuch, Künstler*innen zu delegitimieren und sie auf Basis ihrer Herkunft und ihren vermuteten politischen Einstellungen präventiv zu zensieren“.
Der Skandal um die hier angesprochene, „ausgesetzte“ Diskussionsreihe „We need to talk“ und die bisherige Krisenkommunikation der „documenta“-Verantwortlichen zeigen vor allem eins: Die „documenta fifteen“ könnte sich in eine seit Jahren offenkundige Tendenz der Kunstwelt zur Dämonisierung Israels und Viktimisierung von BDS-Unterstützern einreihen. Da jede „documenta“ bislang auf Jahre hin den Ausstellungsbetrieb personell und inhaltlich prägte, könnte sich ihre diesjährige Ausgabe zu einem Brandbeschleuniger für israelfeindliche Einstellungen entwickeln. Wie lässt sich diese Entwicklung aufhalten? Einen möglichen ersten Schritt skizzierte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, jüngst in einem Interview mit der „Jüdischen Allgemeinen“: „Gerade angesichts zunehmender antisemitischen und israelfeindlichen Tendenzen in der Kunstszene wäre eine Debatte über Kunstfreiheit und ihre Grenzen dringend notwendig.“ „Kunst- und Meinungsfreiheit sind wertvolle Grundrechte unserer Verfassung, aber sie sind kein Freibrief für Antisemitismus“, betonte Schuster im Nachgang zu einem Treffen mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2022.