Aufwachsen in Stralsund, da wo andere Urlaub machen, strandnah und bei Sonnenschein? Nicht so im Buch von Hendrik Bolz. Der 1988 geborene Bolz, der unter dem Namen Testo eine Hälfte der Band „Zugezogen Maskulin“ bildet, berichtet in seinem Debut vom Erwachsenwerden in Knieper West, eine Großstadtsiedlung am Rande Stralsunds. Gebaut wurde diese Ende der 1960er Jahre für über 20.000 Menschen. Und nach der Wende? Ergraut und vergessen, so Hendrik Bolz.
Schon 2015 heißt es im wohl bekanntesten Song „Plattenbau O.S.T.“ von Zugezogen Maskulin: „Ist bei dir zuhause alles Scheiße? Jeden Tag bis in die Nacht Fußballplatz alleine. Mach dir nix drauß, uns geht’s hier allen gleich.“ 2022 geht er einen Schritt weiter und schreibt sein erstes Buch über die „Nullerjahre“ in Mecklenburg-Vorpommern.
Mit seinen Freunden hängt Protagonist Hendrik auf Spielplätzen ab. Zwischen Hakenkreuzen und FC-Hansa-Schriftzügen nehmen sie Drogen, die nach der Wende plötzlich den Markt überschüttet haben, trinken, schlagen sich – nach dem Motto: „Fressen oder gefressen werden“. Stark sein, nicht weinen, keine Schwäche zeigen ist dabei das Mantra seiner Jugend; große Brüder mit Bomberjacken und Glatze, Eltern, die mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt sind.
„Nullerjahre“ ist definitiv keine klassische Coming-of-Age-Story. Gleich zu Beginn macht Bolz klar: „Dieses Buch berichtet aus einer Welt, von der man schwer erzählen kann, ohne den Rassismus, den Antisemitismus, die Misogynie, die Homophobie und die Gewalt sprachlich zu reproduzieren, die in ihr zentrale Ordnungsprinzipien waren.“ Auch wenn das ein oder andere Klischee bedient wird, ist die Erzählweise authentisch. Bolz schafft es, schonungslos eine (Nachwende-)Geschichte zu erzählen, die den Unterschied zwischen Osten und Westen deutlich macht, ein Stück Gegenwart erklären kann, strukturelle Vernachlässigung aufzeigt und die Augen öffnet für die Probleme einer Jugend, die auch andere in anderen Teilen des Ostens erlebt haben. Ein wichtiger Beitrag zur Debatte.
Maike Karnebogen
Hendrik Bolz. Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften. Köln 2022