Spal­tung! Nein: Haltung!

Auf­ga­ben der demo­kra­ti­schen Mehrheit

Frei den­ken, frei reden, frei schrei­ben – diese groß­ar­tige Frei­heits­ga­ran­tie unse­res Grund­ge­set­zes wird gerade dazu genutzt, sie buch­stäb­lich mit Füßen zu tre­ten. „Spa­zier­gän­ger“ behaup­ten, in einer Dik­ta­tur zu leben und for­dern Frei­heit und Wahr­heit. Sie for­dern also etwas, das sie längst haben und nut­zen. Fak­ten aber spie­len keine Rolle. Die Wut mar­schiert in der Über­zeu­gung, den Volks­wil­len zu reprä­sen­tie­ren und unmas­kiert die Wahr­heit zu ver­kün­den. Die­ser Irr­tum ist ver­füh­re­risch nahe­lie­gend, denn tat­säch­lich stel­len sich ihnen nur wenige in den Weg und han­deln sich dafür, so wie die enga­gier­ten Medi­zin­stu­die­ren­den in Dres­den, sogar Ord­nungs­stra­fen ein, wäh­rend den eigent­li­chen Rechts­bre­chern oft mit ver­ständ­nis­vol­ler Nach­sicht begeg­net wird. Selbst der Bun­des­prä­si­dent adelt Wahr­heits­leug­ner durch eine Gesprächs­ein­la­dung ins Schloss Bel­le­vue und beschränkt sich auf die vor­nehme Rolle des freund­li­chen Gast­ge­bers. Die Wut­bür­ger sol­len nicht noch wüten­der wer­den. Was auf den ers­ten Blick sym­pa­thisch nach Grä­ben über­win­den statt ver­tie­fen klingt, ent­puppt sich bei nähe­rem Hin­se­hen als Belie­big­keit, die die Grenze zwi­schen Fak­ten und Fäl­schung, zwi­schen Wahr­heit und Lüge gefähr­lich ver­wischt. Nicht alles lässt sich so oder auch anders sehen. Die Erde ist keine Scheibe, Men­schen waren auf dem Mond, 9/11 war ein isla­mis­ti­scher Anschlag und bei  SARS-CoV-2 han­delt es sich um eine töd­li­che Pan­de­mie, gegen die eine Imp­fung hilft. An all dem kön­nen Men­schen natür­lich trotz­dem zwei­feln, pri­vat, am Stamm­tisch und auch auf der Straße. Ein­zig der Holo­caust darf nicht öffent­lich geleug­net, durch­aus aber rela­ti­viert wer­den. Also hef­ten sich Impf­geg­ner unbe­hel­ligt einen gel­ben Stern ans Revers. Auch daran wird deut­lich, dass der Furor längst nicht mehr – und schon gar nicht allein – den poli­ti­schen Maß­nah­men zur Ein­däm­mung einer Pan­de­mie gilt.

Über Für und Wider der Ein­füh­rung einer Impf­pflicht lässt sich strei­ten, und wird ja auch, aber der „Wider­stand“ dage­gen ist zu einem amor­phen Res­sen­ti­ment gegen „das Sys­tem“ gewor­den, gegen „die Bevor­mun­dung“ durch „die Eli­ten“. Das wird das Virus über­le­ben. Zu groß ist der Reiz, sich im Wohl­fühl­bad einer ima­gi­nier­ten Volks­ge­mein­schaft mit Gleich­ge­sinn­ten zu suh­len. Die Angst vor den Zumu­tun­gen einer sich wan­deln­den Welt ver­bin­det sie. So wie es war, so soll es wie­der wer­den. Eine Welt ohne Virus und ohne Ver­än­de­rung und vor allem ohne Vor­schrif­ten für das eigene Leben.

Die Wut steckt an und je harm­lo­ser sie daher spa­ziert kommt, mit Trom­meln und Tanz, umso mehr infi­zie­ren sich und lau­fen begeis­tert mit. Auf der Straße, im Netz, im Geiste. Pro­mi­nente sind dar­un­ter, Künst­ler wie der Schau­spie­ler Vol­ker Bruch etwa, der jetzt mit sei­nem You­Tube-Kanal #alle­sauf­den­tisch Corona-Schwurb­lern eine Hei­mat bie­tet. Offene Anti­se­mi­ten wie der vegane Koch Attila Hild­mann gehö­ren dazu und selbst ein eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor bemüht sich Fak­ten bekömm­lich zu rela­ti­vie­ren. In sei­nem Fall die der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­gan­gen­heit. Der His­to­ri­ker Wolf­gang Rein­hard for­dert in einem Bei­trag in der FAZ nicht weni­ger als „das Recht auf Ver­ges­sen“ und „die natür­li­che Ent­emo­tio­na­li­sie­rung“ des Holo­caust. Da schmun­zelt der Alex­an­der-Vogel­schiss-Gau­land. Die Sehn­sucht der Deut­schen nach Erlö­sung durch den Tod der jüdi­schen Zeit­zeu­gen hatte der Ausch­witz-Über­le­bende, der Schrift­stel­ler Jean Améry schon 1966 schmerz­haft prä­zise beschrie­ben: „Als die wirk­lich Unbe­lehr­ba­ren, Unver­söhn­li­chen, als die geschichts­feind­li­chen Reak­tio­näre im genauen Wort­ver­stande wer­den wir daste­hen, die Opfer, und als Betriebs­panne wird schließ­lich erschei­nen, daß immer­hin man­che von uns über­leb­ten.“ Es hat län­ger gedau­ert als gedacht, bis der Ver­such, die Shoah umzu­deu­ten zu „Geschichte schlecht­hin, nicht bes­ser und nicht übler als es dra­ma­ti­sche his­to­ri­sche Epo­chen nun ein­mal sind“ (Améry) gesell­schaft­lich akzep­ta­bel wurde. Wo Nolte noch einen His­to­ri­ker­streit ent­fachte, herrscht heute weit­ge­hend Schwei­gen. Ein­mal mehr sind es vor allem jüdi­sche Stim­men, die ihm und auch jenen ins Wort fal­len, die die Sin­gu­la­ri­tät des Holo­caust schlei­fen wol­len, um ver­mehrt die Ver­bre­chen der Kolo­ni­al­ge­schichte ins Schau­fens­ter des kol­lek­ti­ven Gedächt­nis­ses stel­len zu kön­nen. „Unsere Nach­trä­ge­rei wird das Nach­se­hen haben“, hatte Améry pro­phe­zeit. 80 Jahre nach der Wann­see-Kon­fe­renz wird die Shoah aus unter­schied­li­chen Grün­den, letzt­lich mit dem­sel­ben Ergeb­nis relativiert.

Eine Demo­kra­tie darf es nicht zulas­sen, dass alles belie­big wird, Fak­ten und Ethik glei­cher­ma­ßen. Die Zahl der Anhän­ger einer Idee reicht noch lange nicht, um sie zu legi­ti­mie­ren. Mehr­hei­ten kön­nen irren und fal­schen Paro­len glau­ben. Gerade Deut­sche soll­ten sich daran erin­nern. Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung ist Angst­ab­wehr und ein welt­wei­tes Phä­no­men. In Deutsch­land aber ist sie in beson­de­rer Weise his­to­risch auf­ge­la­den. Quer­den­ker und Spa­zier­gän­ger haben Zulauf aus allen Milieus. Und gerade, weil sie sich nicht uni­sono augen­schein­lich poli­tisch rechts ein­grup­pie­ren las­sen, weil die Debat­ten in Fami­lien und im Freun­des­kreis eska­lie­ren, wird die War­nung vor der Spal­tung der Gesell­schaft lauter.

„Ein mora­li­sches Tabu erzeugt auto­ma­tisch eine ent­spre­chende mora­li­sche Gegen­er­zäh­lung“, droht Pro­fes­sor Rein­hard kaum ver­hoh­len. Erin­ne­rung an die Shoah erzeugt Anti­se­mi­tis­mus? Wer den Fak­ten­leug­nern ent­ge­gen­tritt, macht sie stark?

Spal­tung durch Hal­tung? Nein, im Gegen­teil! Jetzt kommt es dar­auf an, den gesell­schaft­li­chen Kon­sens dar­über zu erstrei­ten, was den Gehalt unse­rer Demo­kra­tie aus­macht. Wo ver­lau­fen die roten Linien? Das berau­schende Macht­ge­fühl der Ohn­mäch­ti­gen speist sich aus der spür­ba­ren Angst und dem Zurück­wei­chen der „Eli­ten“ vor ihnen und ihres­glei­chen. Es ist die Auf­gabe der demo­kra­ti­schen Mehr­heit, klar­zu­ma­chen, dass die Demo­kra­tie­feinde in der Min­der­heit sind. Laut­stark, fair und unmiss­ver­ständ­lich. Wer dage­gen mit Ver­schwö­rungs­gläu­bi­gen, die die Demo­kra­tie und „die Sys­tem­me­dien“ ver­höh­nen, auf Augen­höhe dis­ku­tie­ren will, kriecht unwei­ger­lich vor ihnen zu Kreuze. Schon Erich Käst­ner warnte: „Was immer auch geschieht, nie sollt ihr so tief sin­ken, von dem Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken!“.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 02/2022.

Von |2022-03-23T15:58:26+01:00Februar 4th, 2022|Meinungsfreiheit|Kommentare deaktiviert für

Spal­tung! Nein: Haltung!

Auf­ga­ben der demo­kra­ti­schen Mehrheit

Esther Schapira ist freie Journalistin, Publizistin und Moderatorin.