Pola­ri­sie­rung

Digi­tale Tech­nik sin­gu­lä­rer, humane Dis­kurse polarer?

Maschi­nel­les Ler­nen künst­li­cher Intel­li­genz basiert auf über­wach­ten Lern­pro­zes­sen inner­halb einer vor­ge­ge­be­nen Struk­tur. Bei einem auto­no­men Fahr­zeug wird das gesich­tete Bild­ma­te­rial der Kame­ra­auf­nah­men funk­tio­na­len Kate­go­rien zuge­ord­net wie Mensch, Lebe­we­sen, Stra­ßen­schild, Fahr­bahn, befahr­bare Flä­chen, nicht befahr­bare Flä­chen etc. Je dif­fe­ren­zier­ter die Vor­ga­ben, desto dif­fe­ren­zier­ter das Bild. Es gibt also einen Zusam­men­hang zwi­schen einer Sin­gu­la­ri­sie­rung von Daten und der Wei­ter­ent­wick­lung von Technik.

Anders ent­wi­ckeln sich der­zeit humane Per­spek­ti­ven. Im Zuge der digi­ta­len „Infor­ma­ti­ons­schwemme“ ent­wi­ckeln Men­schen alter­na­tive Stra­te­gien zum Umgang mit dif­fe­ren­zier­ten Infor­ma­tio­nen. Eine Stra­te­gie ist die des Post­fak­ti­schen: Die Viel­zahl an Infor­ma­tio­nen wird als unbe­deu­tend klas­si­fi­ziert, statt­des­sen wird das Gewicht auf „gefühlte“ Wahr­hei­ten gelegt. Algo­rith­men ver­stär­ken dabei („gefühlte“) Posi­tio­nen in Form digi­ta­ler Echo­kam­mern. Texte im Inter­net, die eigene Posi­tio­nen wider­spie­geln, wer­den Nut­zern bei Such­pro­zes­sen immer wie­der zugeordnet.

Inner­halb huma­ner Dis­kurse kann also statt gra­nu­la­rer Viel­falt eine zuneh­mende Pola­ri­sie­rung beob­ach­tet wer­den, ein Auf­spal­ten zwi­schen zwei Lagern, eine „emo­tio­nale“ Zuord­nung in zwei Kate­go­rien ohne „Grau­töne“ bei The­men wie Trump, Corona-Maß­nah­men, Umgang mit Kli­ma­wan­del und vie­lem mehr: Spie­gelt sich hier der Wunsch der Men­schen nach gro­ßen Ver­bün­den im Zeit­al­ter des Indi­vi­dua­lis­mus wider? Oder wer­den „gefühlte“ Wahr­hei­ten weni­ger einem Fak­ten­check aus­ge­setzt als viel­mehr an der Zahl an Unter­stüt­zern, die die­selbe Mei­nung ver­tre­ten, aus­ge­rich­tet? Viel­leicht ist es aber auch eine humane (Trotz-)Reaktion auf die zuneh­mende Aus­dif­fe­ren­zie­rung von Infor­ma­tio­nen bei digi­ta­ler Technik?

Pola­ri­sie­run­gen gehen oft ein­her mit Abso­lut­heits­an­sprü­chen, den „rich­ti­gen“, alter­na­tiv­lo­sen Weg zu ken­nen. Der emo­tio­na­len Fak­ten­be­wer­tung, der „gefühl­ten“ Wahr­heit, haf­tet oft etwas Dog­ma­ti­sches an. Ver­schwö­rungs­theo­rien, aber auch die Wis­sen­schaft wer­den sowohl als Grund für die „Rich­tig­keit“ des „alter­na­tiv­lo­sen Wegs“ als auch für poli­ti­sche Maß­nah­men her­an­ge­zo­gen. Wis­sen­schaft ist jedoch nicht rich­tig oder falsch, son­dern bewegt sich inner­halb von Logi­ken. Rück­schlüsse, die auf wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen basie­ren, sind nicht ein­di­men­sio­nal, son­dern eröff­nen in der Regel mehr­di­men­sio­nale Lösungs­an­sätze. Mit Blick auf künf­tige Her­aus­for­de­run­gen, wie der gesell­schaft­li­che Wan­del zur Digi­ta­li­tät oder der Kli­ma­wan­del, wäre es durch­aus wün­schens­wert, wie­der dif­fe­ren­zier­tere Sicht­wei­sen in Ana­lo­gie zu auto­no­men Fahr­zeu­gen ein­zu­neh­men, um „Unfall­wahr­schein­lich­kei­ten“ zu mindern.

Der aktu­elle Bun­des­tags­wahl­kampf spie­gelt das Dilemma von Pola­ri­sie­run­gen und emo­tio­na­len Fak­ten wider. Men­schen und Medien beschäf­ti­gen Aspekte, die mit den eigent­li­chen Par­tei­pro­gram­men – viel­leicht zu viele Infor­ma­tio­nen oder nicht pola­ri­sie­rend genug? – wenig zu tun haben. Dis­ku­tiert wurde über den Lebens­stil und die Hand­lun­gen der Kan­di­da­ten, den Lacher ange­sichts einer Kata­stro­phe, das Betre­ten eines Imbis­ses ohne Maske, das Essen eines Eises, das Abschrei­ben bei Büchern oder das Kopie­ren der „Mer­kel-Raute“. Emo­tio­nal kann das ein oder andere sicher erre­gen. Aber hat dies einen Ein­fluss auf die Lösung künf­ti­ger Her­aus­for­de­run­gen? Natür­lich gibt es eine Ide­al­vor­stel­lung von Poli­ti­kern, die Würde und Anstand besit­zen. Aber müs­sen Poli­ti­ker, wie auch Künst­ler, über­haupt sym­pa­thisch sein, um kluge Ent­schei­dun­gen zu tref­fen bzw. künst­le­ri­sche Höchst­leis­tun­gen zu erbrin­gen? Wäre es nicht sinn­vol­ler gewe­sen, sich mit den Par­tei­pro­gram­men in all ihren Grau­schat­tie­run­gen, statt mit dem Beneh­men der Kan­di­da­ten aus­ein­an­der­zu­set­zen? Und zugleich neue humane Zukunfts­stra­te­gien für den Umgang mit viel­fäl­ti­gen Infor­ma­tio­nen im Zeit­al­ter der Digi­ta­li­tät zu entwickeln?

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 10/2021.

Von |2021-11-05T13:01:30+01:00Oktober 4th, 2021|Meinungsfreiheit|Kommentare deaktiviert für

Pola­ri­sie­rung

Digi­tale Tech­nik sin­gu­lä­rer, humane Dis­kurse polarer?

Susanne Keuchel ist Präsidentin des Deutschen Kulturrates.