Musik­schule für alle

Robert Wag­ner über inklu­sive Musikschularbeit

Über 2.200 Schü­le­rin­nen und Schü­ler und 50 Leh­rende musi­zie­ren gemein­sam an der Musik­schule Fürth. Dabei gilt: Jeder Mensch kann mit­spie­len. Der Schul­lei­ter Robert Wag­ner erläu­tert Kon­zept und Praxis.

Inklu­sion ist bei der Musik­schule Fürth Pro­gramm. Ihr Ange­bot steht für alle Men­schen offen. Was heißt das in der Pra­xis? Was unter­rich­ten Sie wie und für wen?

Die Musik­schule Fürth wurde 1986 als „Schule für alle“ gegrün­det, dem Men­schen und der Musik ver­pflich­tet. Die grund­sätz­li­che Offen­heit für alle Men­schen in ihrem kom­mu­na­len Zustän­dig­keits­be­reich und der Anspruch, dass das eigene Ange­bot auch von die­sen ange­nom­men wird, mün­de­ten in den Leit­satz: „Wir sor­gen dafür, dass mög­lichst viele mit­ma­chen wol­len und alle, die wol­len, mit­ma­chen können.“

Die chan­cen­ge­rechte Teil­habe jedes Men­schen am Ler­nen und Leben in der Gemein­schaft aller, seine indi­vi­du­elle Sinn­fin­dung und die Gemein­wohl­ori­en­tie­rung sind für die Musik­schule Fürth die Trieb­fe­dern, die sie in stän­di­ger Bewe­gung hal­ten. Inspi­riert durch ein­zelne Vor­bil­der – unter ande­rem Wer­ner Probst und Carl Orff –, bestärkt durch den Ver­band deut­scher Musik­schu­len begann der inklu­sive Ent­wick­lungs­pro­zess der Musik­schule Fürth damit lange vor der Ver­ab­schie­dung der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion im Jahre 2006. Gemein­sa­mes Musi­zie­ren von Anfang an zu leh­ren sowie die­ses zu ermög­li­chen und zu pfle­gen, ist glei­cher­ma­ßen unser sat­zungs­ge­mä­ßer Anspruch und unser öffent­li­cher Auf­trag. Die inklu­sive Schul­ent­wick­lung bezieht sich auf die Hal­tung aller Mit­ar­bei­ten­den, auf die Struk­tu­ren des Sys­tems Musik­schule und auf die Unter­richts­pra­xis. Vor allem der Ver­än­de­rungs­be­reit­schaft und -fähig­keit aller Mit­ar­bei­ten­den in der Musik­schule kom­men die Schlüs­sel­rol­len im inklu­si­ven Schul­ent­wick­lungs­pro­zess zu. Denn erst durch das Han­deln ihrer Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter wird die Schule zu einem Modell dafür, wozu sie erzieht: zur Bereit­schaft, mit­zu­ge­stal­ten, Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men, zu Tole­ranz und Koope­ra­tion. Wesent­lich sind auch die Struk­tu­ren der Schule. Sie ermög­li­chen und för­dern das für die inklu­sive Schul­ent­wick­lung nötige per­sön­li­che Enga­ge­ment aller.

Wel­che Best-Prac­tice-Bei­spiele für inklu­sive Musik­schul­ar­beit fin­den sich an der Musik­schule Fürth?

Bega­bungs­för­de­rung ist für die Musik­schule Fürth kein Aus­le­se­pro­zess, son­dern unsere allen Men­schen zugu­te­kom­mende Auf­gabe. Wir geben Raum und Zeit für die indi­vi­du­elle Ent­wick­lung jedes und jeder Ein­zel­nen. Natür­lich ist es aber auch für uns nötig, das eigene Selbst­ver­ständ­nis immer wie­der durch beson­dere Bei­spiele in die breite Öffent­lich­keit zu tra­gen. Unser Pro­jekt „Beru­fung Musi­ker“ und unser Für­ther Inklu­si­ves Sound­fes­ti­val sind gelebte Zeug­nisse unse­rer Arbeit.

Am 1. Okto­ber 2009 star­tete das Modell­pro­jekt „Beru­fung Musi­ker“ der Musik­schule Fürth. Acht Beschäf­tigte einer Werk­statt der Lebens­hilfe erlern­ten an ihrem Außen­ar­beits­platz Musik­schule ein Instru­ment und spie­len seit­her in der Band „Voll­gas“. Die Musi­ker soll­ten so fit im Noten­le­sen und sicher auf ihrem Instru­ment wer­den, dass sie ohne Pro­bleme mit ande­ren Musi­kern und Bands wür­den zusam­men­spie­len können.

Einer­seits ging und geht es um die gesell­schaft­li­che Teil­habe die­ser acht Per­so­nen – ander­seits war und ist es uns ein wesent­li­ches Anlie­gen, ein Men­schen­bild in der Gesell­schaft fes­ti­gen zu hel­fen, das Men­schen mit Behin­de­rung nicht auf ihre Behin­de­rung redu­ziert, son­dern deren Poten­ziale und Kom­pe­ten­zen herausstellt.

Das Pro­jekt erweist sich als Gewinn für die betei­lig­ten Musi­ker, für alle Men­schen mit Behin­de­rung, für das Anlie­gen aller Ein­rich­tun­gen, die sich für Men­schen mit Behin­de­rung ein­set­zen, für eine vom Men­schen aus­ge­hende und am Men­schen ori­en­tierte Päd­ago­gik und für die Umset­zung der UN-Konvention.

Die inklu­sive Ent­wick­lung unse­rer Schule hat mit „Beru­fung Musi­ker“ einen Edel­stein, der beweist, dass Men­schen mit Behin­de­rung Kraft, Talent, Leis­tungs­fä­hig­keit und mehr besit­zen, wenn man nur eine glei­cher­ma­ßen belast­bare wie fle­xi­ble Struk­tur stellt und auf ein Team zäh­len kann, das sich mit gro­ßer Metho­den-, Fach- und Sozi­al­kom­pe­tenz der Auf­gabe stellt. Bei zahl­rei­chen Auf­trit­ten, als eigen­stän­dige Band und in Fusio­nen mit ande­ren Ensem­bles, unter ande­rem auch bei inter­na­tio­na­len musik­päd­ago­gi­schen Kon­gres­sen, wirkt die Band als Bot­schaf­ter der Inklusion.

Ein wei­te­res tol­les Bei­spiel ist das Für­ther Inklu­sive Soundfestival.

2007 sprach man noch von der Inte­gra­tion der Men­schen mit Behin­de­rung. Die UN-Kon­ven­tion war in Deutsch­land noch nicht unter­schrie­ben, doch die Zeit war reif dafür, die Qua­li­tät der musi­ka­li­schen Leis­tun­gen von Men­schen mit Behin­de­rung aus den Nischen ein­zel­ner Musik­schu­len in die Mitte unse­rer Gesell­schaft zu holen. Das Für­ther Inklu­sive Sound­fes­ti­val wurde erdacht, um – im Sinne der Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion der Ver­ein­ten Natio­nen – allen Men­schen die Mög­lich­keit zu geben, ihr künst­le­ri­sches und intel­lek­tu­el­les Poten­zial zu ent­fal­ten und zu nut­zen, nicht nur für sich selbst, son­dern auch zur Berei­che­rung der Gesell­schaft. Dem ers­ten Fes­ti­val in Fürth 2007 ging ein har­tes Rin­gen um Inhalte, Namen und Prä­sen­ta­tion vor­aus: Ein pro­fes­sio­nel­les Fes­ti­val sollte es wer­den. Die Idee des Fes­ti­vals sollte auch bei Fol­ge­fes­ti­vals in ande­ren Städ­ten erkenn­bar sein, ohne dass eine lokale Schwer­punkt­set­zung damit ein­ge­schränkt wer­den würde. Musi­ker, Pro­fis und Laien mit und ohne Behin­de­rung soll­ten ein Forum erhal­ten, ihr Kön­nen und ihre gemein­sam erar­bei­te­ten Ideen auf pro­fes­sio­nel­lem Niveau einem brei­ten Publi­kum vor­zu­stel­len: inter­es­sante Musik von inter­es­san­ten Musi­kern für ein inter­es­sier­tes Publi­kum. Das außer­ge­wöhn­lich nor­male Musik­fes­ti­val macht Viel­falt öffent­lich und lädt dazu ein, Viel­falt als Berei­che­rung gemein­sam zu erleben.

Wel­chen Her­aus­for­de­run­gen ste­hen trotz inklu­si­ven Musik­schul­un­ter­richts sowohl die Leh­ren­den als auch die Schü­le­rin­nen und Schü­ler in der täg­li­chen Pra­xis gegen­über? Was gilt es noch zu tun – und wel­che Unter­stüt­zung wün­schen Sie sich dabei?

Inklu­sion ist ein Selbst- und Welt­ver­ständ­nis, es ist weder Weg noch Ziel. In jeder Sekunde wer­den 2,5 Men­schen gebo­ren. Sie gehö­ren dazu, weil sie da sind. Nie­mand kann oder muss inklu­diert wer­den. Dem­nach ist jedes Kind ein Inklu­si­ons­kind und Inklu­sion eine Hal­tung, die jeden Men­schen ein­schließt und jedem Men­schen nützt. Dem Ver­ständ­nis ent­spre­chend ver­wirk­licht die inklu­sive gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung das Men­schen­recht auf Teil­habe und lässt Zuge­hö­rig­keit erle­ben. Die größte Unter­stüt­zung unse­rer Arbeit wäre, Inklu­sion genauso zu begrei­fen. Solange die Bil­dungs­po­li­tik, die Fach­li­te­ra­tur und die Musik­hoch­schu­len die Chan­cen eines inklu­si­ven Selbst- und Welt­ver­ständ­nis­ses nicht erken­nen, statt­des­sen wei­ter das Schub­la­den­den­ken pfle­gen und von zu inklu­die­ren­den Men­schen spre­chen, hat es die Pra­xis schwer. Die Musik­päd­ago­gik der Viel­falt muss gemein­sam ent­wi­ckelt, gelehrt und vor allem gelebt werden.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2021.

Von |2021-09-02T17:03:29+02:00September 2nd, 2021|lnklusion|Kommentare deaktiviert für

Musik­schule für alle

Robert Wag­ner über inklu­sive Musikschularbeit

Robert Wagner ist Schulleiter der Musikschule Fürth e.V. und Vorsitzender des Bundesfachausschusses Inklusion im Verband deutscher Musikschulen.