„In Deutsch­land muss ich mich häu­fi­ger erklären“

Ninia Binias über Mode, Kul­tur und Inklusion

Sie ist Geschäfts­füh­re­rin des Büros für Pop­kul­tur in Han­no­ver, bekannte Poetry Slam­me­rin, pro­du­ziert zahl­rei­che Pod­casts unter ande­rem für Aktion Men­schen, mode­rierte in die­sem Jahr den Grimme Online Award und zählte 2020 zum Repor­ter­team von ZDF WISO … Im Gespräch mit San­dra Win­zer spricht Ninia Binias aka „Ninia LaGrande“ nicht nur über ihre zahl­rei­chen Tätig­kei­ten, son­dern auch über Inklu­sion in Mode, Kul­tur und Gesellschaft.

San­dra Win­zer: Liebe Frau Binias, Sie sind Blog­ge­rin, Pod­cas­te­rin, Mode­ra­to­rin … – haben fast unüber­sicht­lich viele Jobs. Als was bezeich­nen Sie sich selbst?
Ninia Binias: Ich mache alles, was mit Wor­ten zu tun hat – ich bin Mode­ra­to­rin, Autorin und Podcasterin.

Ihr fes­tes Stand­bein in der Medien- und Kul­tur­land­schaft haben Sie sich erar­bei­tet. Die The­men, für die Sie vor allem ste­hen, sind Femi­nis­mus, Inklu­sion, Poli­tik und Mode. Warum sind diese Ihnen beson­ders wichtig?
Das ist mit der Zeit gewach­sen. Ich selbst bin klein­wüch­sig. Da liegt es nahe, dass ich mich mit ande­ren Men­schen vor allem über Social Media ver­netze. Mit Men­schen, die ähn­li­che Her­aus­for­de­run­gen im All­tag erle­ben. Mein Wis­sen und mein Inter­esse im Bereich Inklu­sion habe ich so geschärft. Der Pro­zess ist nie abge­schlos­sen. Sowohl für mich selbst als auch für andere ist es wich­tig, dass wir uns für Men­schen mit Behin­de­rung ein­set­zen. Das geht nicht, ohne dass man sich auch für poli­ti­sche Pro­zesse inter­es­siert. Ähn­lich ist es mit der Mode. Sie wird als Thema zwar oft abge­wer­tet. Aber ich finde Mode, gerade als klein­wüch­sige Frau, span­nend. Ich stelle Fra­gen wie: Was kann ich aus mir machen? Was kann ich gut tragen?

Warum haben Sie das Gefühl, Mode werde abgewertet?
Ich glaube, Mode ist noch immer ein The­men­feld, von dem man schnell von dem „Schö­nen“ und ver­meint­lich Weib­li­chen spricht. Viele den­ken, sie sei ein Thema, das wenig poli­tisch ist, nach dem Motto: „Ach, die beschäf­tigt sich mit Mode – also hat sie sonst nichts im Köpf­chen und kauft gern ein.“ Ich finde aber, Mode ist sehr politisch.

Sie sagen, Inklu­sion ist ein Pro­zess, der nie­mals abge­schlos­sen ist. Was genau mei­nen Sie damit?
Wenn man mit Unter­neh­men oder Poli­ti­kern spricht, die sich mit Inklu­sion beschäf­ti­gen, wol­len sie oft gern eine To-do-Liste haben, auf der genau steht, was als Nächs­tes zu tun ist. Wenn es etwa darum geht, ein Unter­neh­men oder eine Kita inklu­siv zu machen. Das geht lei­der nicht. Inklu­sion ist nicht all­ge­mein­gül­tig, sie wird nicht auf­hö­ren. Man kann immer Dinge opti­mie­ren. Es reicht auch nicht, nur die Bord­steine abzu­sen­ken und Stu­fen weg­zu­las­sen. Viel­mehr geht es bei Inklu­sion um die Frage, wie wir das Leben für alle gemein­sam bes­ser machen können.

Gilt das für Sie auch für den Kul­tur- und Modebereich?
Ja. Wenn wir inklu­siv leben wol­len, betrifft das alle Berei­che. Die Kul­tur hat in vie­len Fäl­len noch einen recht eli­tä­ren Zugang. Inklu­sion hört hier oft schon bei Gebäu­den auf – bei Thea­tern oder Büh­nen, die meist nicht zugäng­lich sind. Es ist für mich nicht inklu­siv, wenn mal ein Mensch mit Behin­de­rung auf der Bühne steht. Inklu­siv ist Kul­tur für mich dann, wenn auch in der Regie oder in der Tech­nik Men­schen sit­zen, die eine sicht­bare oder nicht sicht­bare Behin­de­rung haben. Und den Zugang zu Kul­tur zu haben – das hat wie­derum viel mit Bil­dung zu tun. Wenn wir also in den Schu­len nicht inklu­siv sind, ver­sper­ren wir schon hier Kin­dern mit Behin­de­rung den Weg, es spä­ter mal in die Kul­tur zu schaffen.

Wie ist das im Bereich Mode?
Im Bereich Mode herr­schen noch immer ver­al­tete Schön­heits­ideale vor. Hier wün­sche ich mir mehr Modelle mit sicht­ba­rer Behin­de­rung, die zei­gen: Ich kann das auch machen – Mode wird auch für mich gemacht. Hier sind wir noch nicht angekommen.

In Ihrem schu­li­schen Wer­de­gang hat­ten Sie Glück – Inklu­sion war kein Thema, Sie besuch­ten, wie alle ande­ren auch, die Schule. Wäre das das Ideal? Dass Inklu­sion so nor­mal wird, dass sie nicht mehr the­ma­ti­siert wer­den muss?
Lange dachte ich, das wäre das Ideal. Mitt­ler­weile sehe ich das anders. Der Ide­al­zu­stand ist mitt­ler­weile für mich: Jeder kann offen und ohne Ver­ur­tei­lun­gen über die eige­nen Bedürf­nisse spre­chen. Wür­den wir das Wort Inklu­sion nicht mehr in den Mund neh­men und Men­schen nicht mehr erklä­ren, wel­che Art von Behin­de­rung und Bedürf­nisse sie haben, kön­nen wir kein inklu­si­ves Umfeld schaf­fen. Wir müs­sen dar­über sprechen.

Was brau­chen wir dafür?
Für mich wäre es ein gro­ßer Schritt, wenn wir sagen: Wir hören Men­schen mit Behin­de­rung zu und fra­gen nach. In der Grund­schule hat mich meine Leh­re­rin damals gefragt: „Was brauchst du, um dich hier wohl­zu­füh­len?“ Ich sagte: „Einen Hocker unter mei­nen Füßen und die Schul­bü­cher kann ich nicht alle tra­gen.“ In mei­nem Fall waren das ein­fa­che Dinge, um mir den All­tag zu erleich­tern, das ist sicher nicht bei jedem Men­schen so. In Deutsch­land hört man lei­der auch oft: „Puh, das ist schwie­rig und auf­wen­dig. Und teuer, das kön­nen wir nicht umset­zen.“ Wenn wir diese Hal­tung über­win­den, könnte uns das viel bringen.

Bewuss­tes Zuhö­ren statt Ausblenden …
Ja, genau.

In Ihrem All­tag waren auch Sie immer wie­der Unver­schämt­hei­ten und blö­den Fra­gen aus­ge­setzt. In Ihrem Buch „Von mir hat er das nicht!“ erzäh­len Sie von Men­schen, die Sie unge­fragt foto­gra­fie­ren und das Gefühl ver­mit­teln, eine „Attrak­tion in einem eige­nen Holi­day­park namens All­tag“ zu sein. Neh­men Sie das in der heu­ti­gen Medien- und Kul­tur­land­schaft immer noch so wahr?
Vor allem in der Medien- und Kul­tur­land­schaft hat sich viel getan. Zwar ist es in Redak­tio­nen, auf Büh­nen oder in Thea­ter­häu­sern noch nicht total inklu­siv. Aber: Man kann sich nicht mehr alles erlau­ben. Das Bewusst­sein für Diver­si­tät und eine Feh­ler­kul­tur dies­be­züg­lich ist da. Es wird viel dar­über gespro­chen. Und das ist ein Anfang. Inklu­sion lässt sich nicht von heute auf mor­gen umset­zen. Obwohl es so sein müsste. Die UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion schreibt es vor, dafür hat sich Deutsch­land 2019 ver­pflich­tet. Es hat sich viel getan im Bereich Inklu­sion. Trotz­dem haben wir einen wei­ten Weg vor uns.

Gegen Bli­cke, Sprü­che oder andere Takt­lo­sig­kei­ten zei­gen Sie sich heute rela­tiv immun. Auch mit Ihrem Künst­ler­na­men Ninia La Grande gehen Sie spie­le­risch mit Ihrer Kör­per­größe um. Ist das Ihr Umgang mit sol­chen Momen­ten? Das Thema neh­men Sie ja den­noch ernst …
Ja, abso­lut. Das Thema nehme ich ernst. Auch bei mir gibt es Tage, an denen es mich trifft, wenn jemand einen doo­fen Spruch macht oder mich schief ansieht. Mitt­ler­weile aber bin ich Mut­ter, fast 38 Jahre alt. Wir alle wer­den älter, egal ob klein­wüch­sig oder nicht. Ich bin gefes­tigt in mir selbst und in mei­nem Umfeld; ich habe mei­nen Umgang damit gefun­den. Wenn man über eine Takt­lo­sig­keit aber wütend oder trau­rig ist, darf das auch okay sein.

Wenn ich mir das anschaue, was viele junge klein­wüch­sige Men­schen erzäh­len, merke ich: Sie hören die glei­chen Sprü­che wie ich vor 20 Jah­ren. Mir wer­den dafür heut­zu­tage andere The­men ent­ge­gen­ge­schleu­dert. Man sieht mir ja an, dass ich erwach­sen bin, kei­ner denkt: Da kommt ein klei­nes Kind. Heute aber wer­den mir Fra­gen gestellt, wie ich als klein­wüch­sige Frau Mut­ter wer­den konnte bei­spiels­weise. Die The­men ändern sich ein­fach. Aber: Je älter ich werde, desto weni­ger trauen sich die Men­schen auch, ganz offen „scheiße“ zu sein.

In einem Zei­tungs­in­ter­view erzäh­len Sie von einer Situa­tion in New York. Eine Frau kommt auf Sie zu und Sie den­ken: Oh Gott, was will die von mir? Die Frau macht Ihnen ein Kom­pli­ment für Ihre Brille und Sie sind erleich­tert. Sind Sie schon so geprägt, dass Sie in sol­chen Momen­ten mit dem „Schlimms­ten“, mit einem erneu­ten Über­griff, rechnen?
Ja, daran erin­nere ich mich. Ich habe das auf jeden Fall. Wenn Men­schen uner­war­tet auf mich zukom­men, denke ich manch­mal: „Oh je, was kommt jetzt?“ Weil ich schon so viele kuriose Momente erlebt habe. Eine innere Maschi­ne­rie. Sie schal­tet Warn­si­gnale an, die mir sagen, dass ich even­tu­ell gleich reagie­ren oder kon­tern muss. Und dann sagt der Mensch: „Hey, ich folge dir auf Insta­gram, cool!“ Dann atme ich auf und denke: Ach so, es war nur das. Die Situa­tion mit der Frau in New York war ein Schlüs­sel­mo­ment für mich, in dem vie­les von mir abfiel. Es hat mich läs­si­ger gemacht.

Wie war es danach, als Sie wie­der nach Deutsch­land zurück­ge­reist sind?
Es gab einen erneu­ten Bruch. Mir erzäh­len viele andere Men­schen mit Behin­de­rung, dass sie die­sen Bruch nach Rei­sen in den USA oder in Kanada ken­nen. Dort sind die Men­schen zwar oft etwas ober­fläch­li­cher, aber auch selbst­ver­ständ­li­cher im Umgang mit Men­schen mit sicht­ba­rer Behin­de­rung. Ent­spre­chende Gesetze dort gibt es schon län­ger; inklu­si­ves Leben ist dort schon mehr ange­kom­men als hier.

Inwie­fern?
Es gibt ja den ame­ri­ka­ni­schen „Ame­ri­cans with Disa­bi­li­ties Act“, der vie­les vor­schreibt. Diese Vor­ga­ben hel­fen Men­schen in der Gesell­schaft ein­an­der zuge­wand­ter zu begeg­nen. Es hilft mir, wenn jemand zunächst über die Behin­de­rung hin­weg­sieht und erst mal schaut, was ich möchte und mit­bringe. Zumin­dest im Service­bereich habe ich das sehr posi­tiv als Tou­ris­tin erlebt. In Deutsch­land habe ich häu­fi­ger das Gefühl, mich erklä­ren zu müssen.

Im ers­ten Moment also begrü­ßen Sie ein „posi­ti­ves Igno­rie­ren“ der Behin­de­rung. Im zwei­ten Moment aber hilft es, zu fra­gen, was Sie brauchen?
Ja. So wie die Leh­re­rin, die mir den Hocker in der Schule gege­ben hat. Ich emp­finde sol­che Fra­gen nicht als belei­di­gend. Mir ist ja bewusst, dass man sieht, dass ich klein bin. Wenn mir jemand auf­merk­sam eine sol­che Frage stellt, freue ich mich. Ein­mal war ich beim Köl­ner Treff. Die Redak­teu­rin hatte, ohne Kom­men­tar, einen Hocker in meine Gar­de­robe gestellt, damit ich mich bes­ser im Spie­gel anschauen konnte. Eine Situa­tion, die mir sehr posi­tiv auf­ge­fal­len ist, weil das ganz selbst­ver­ständ­lich mit­ge­dacht wurde, ohne es groß anzu­spre­chen. Ich freue mich dar­über. Für mich fühlt sich solch ein Hocker auch ganz nor­mal an – auch jetzt gerade steht einer unter mei­nen Füßen am Schreibtisch.

In der Medi­en­land­schaft zei­gen Sie, Frau Binias, viel Sicht­bar­keit und Prä­senz. Je häu­fi­ger das der Fall ist, desto ver­trau­ter und „nor­ma­ler“ wird das Thema Inklu­sion. Für ihr Enga­ge­ment wur­den Sie schon mehr­fach aus­ge­zeich­net – unter ande­rem mit dem Stadt­kul­tur­preis des Freun­des­krei­ses Han­no­ver. Sie strah­len eine beson­dere Leich­tig­keit und Posi­ti­vi­tät aus. Wür­den Sie sagen, das zeich­net Ihr Enga­ge­ment aus?
Men­schen spie­geln mir oft mei­nen Humor. Zumin­dest habe ich das Gefühl, ich gehe auch mit The­men, die Angst oder unan­ge­nehme Gefühle aus­lö­sen kön­nen, humor­voll um. Ich glaube, wenn wir diese Dinge nicht anspre­chen, brin­gen wir sie auch nicht voran. Manch­mal wer­den mir wirk­lich unan­ge­nehme Fra­gen gestellt, zur Schwan­ger­schaft oder wie das in der Liebe mit mei­nem Part­ner klappt. Das sind über­grif­fige The­men, vor allem wenn sie von Men­schen kom­men, die mich nicht ken­nen. Und trotz­dem merke ich: Es sind Fra­gen, die viele beschäf­ti­gen. Wenn ich nichts dazu sage, wer­den diese Fra­gen auch die nächs­ten 20 Jahre noch gestellt. Dage­gen möchte ich etwas tun. Wenn ich jetzt sagen kann, dass es mit mei­nem Part­ner wun­der­bar funk­tio­niert, muss man das viel­leicht nicht mehr jeden klein­wüch­si­gen Men­schen fragen.

Und Humor hilft dabei …
Ja, die Fähig­keit, über sich selbst zu lachen, hilft, dass das Beleh­rende weg­fällt. Vie­len Men­schen fällt es dann leich­ter zuzu­hö­ren. Auch in Poetry-Slam-Tex­ten ist es für Men­schen schön, wenn sie danach nicht ein schlech­tes Gewis­sen mit nach Hause neh­men. Humor hilft, schwie­rige The­men annehm­bar zu machen und trotz­dem Lern­ef­fekte zu gestal­ten. Für mich ein guter Weg.

Auch Eltern von klein­wüch­si­gen Kin­dern mel­den sich bei Ihnen …
Ja, gerade jetzt hat mir die Mut­ter einer Zweit­kläss­le­rin geschrie­ben. Sie fin­det toll, was ich mache, und erzählte, dass es ihrer Toch­ter gut gehe. Trotz­dem fragte sie, was sie mal machen soll, falls ihre Toch­ter mal blöde Sprü­che hören muss. Sol­che Fra­gen sind für mich ein wun­der­ba­res Feed­back. Sie zei­gen mir, dass ich prä­sent bin und Ansprech­part­ne­rin sein kann. Die­ser Aus­tausch hat mög­li­cher­weise mei­nen Eltern damals gefehlt.

Frau Binias, wel­che Pro­jekte fol­gen als Nächs­tes auf Ihrer Liste?
Gerade haben wir die zweite Staf­fel des Pod­casts „All inclu­sive“ fer­tig­ge­stellt. Eine dritte Staf­fel ist im Gespräch. Nach wie vor schwirrt mir auch die Idee eines Kin­der­bu­ches im Kopf herum. Schon seit Lan­gem suche ich eines mit einer klein­wüch­si­gen Prot­ago­nis­tin. Bis­lang habe ich kei­nes gefun­den. Bedeu­tet: Einer sollte es schrei­ben. Viel­leicht kann ich die­ser Jemand sein. Und ansons­ten freue ich mich auf meine Sommerpause.

Vie­len Dank.

Die­ses Inter­view ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2021.

Von |2021-09-02T17:04:07+02:00September 2nd, 2021|lnklusion|Kommentare deaktiviert für

„In Deutsch­land muss ich mich häu­fi­ger erklären“

Ninia Binias über Mode, Kul­tur und Inklusion

Ninia Binias ist Moderatorin, Autorin und Podcasterin. Sandra Winzer ist ARD-Journalistin beim Hessischen Rundfunk.