„Im Osten gibt es zu viele Problembürger“

Marco Wan­der­witz im Gespräch

Der Ost­be­auf­tragte der Bun­des­re­gie­rung spricht mit Lud­wig Gre­ven über den Abschied von der ost­deut­schen Kanz­le­rin, ost­iden­ti­tä­res Den­ken, eine Ost­quote und die Brand­mauer gegen die AfD.

Lud­wig Gre­ven: Nach der Bun­des­tags­wahl wer­den wir wie­der einen west­deut­schen Kanz­ler oder eine west­deut­sche Kanz­le­rin bekom­men. Was ändert sich dadurch für Ost­deut­sche wie Sie?
Marco Wan­der­witz: Obwohl wir weni­ger Ein­woh­ner sind als in Nord­rhein-West­fa­len, hat­ten wir in den 30 Jah­ren seit der Ein­heit eine Kanz­le­rin und einen Bun­des­prä­si­den­ten aus den neuen Län­dern. Mehr als die meis­ten alten Bun­des­län­der. Der Wech­sel ist also nichts Unge­wöhn­li­ches. Den­noch wird es, wenn Angela Mer­kel nicht mehr Kanz­le­rin ist, dar­auf ankom­men, dass in der neuen Regie­rung mehr Minis­ter aus dem Osten sind, die auf die ost­deut­schen Bun­des­län­der schauen. Es kann nicht sein, dass dann wie­der drei Minis­ter aus dem klei­nen Saar­land am Kabi­netts­tisch sit­zen, aber kaum einer aus dem Osten. Denn auch in ande­ren Berei­chen sind Ost­deut­sche unter­re­prä­sen­tiert, in der Rek­to­ren­kon­fe­renz, der Wis­sen­schaft, Redak­tio­nen und Medien, den Füh­run­gen gro­ßer Unter­neh­men bis zu den Verwaltungsspitzen.

Über­all wer­den Frau­en­quo­ten gefor­dert und mehr Diver­si­tät für Migran­ten und sexu­elle Min­der­hei­ten. Wes­halb nicht auch eine Ostquote?
Die Benach­tei­li­gung tei­len Ost­deut­sche mit Frauen und Men­schen mit Migra­ti­ons­ge­schichte. In bestimm­ten Habi­ta­ten wie Dax-Vor­stän­den herr­schen immer noch nur Män­ner west­deut­scher Her­kunft. Das gilt es auf­zu­bre­chen. Ich hoffe, dass wir das ohne Ost­quote schaf­fen. Bei den Frauen haben wir es lange ver­ge­bens ver­sucht. Nun muss­ten wir es ver­bind­lich machen. Man sollte das auch auf den Kul­tur­be­reich über­tra­gen. Die Inten­dan­ten­pos­ten sind auch da fast nur männ­lich besetzt, obwohl der Kul­tur­be­trieb ziem­lich weib­lich ist.

Ost­deut­sche gibt es da auch kaum.
Auch das ist ein schwe­rer Feh­ler, weil ost­deut­sche Künst­ler sehr viel ein­brin­gen an beson­de­rer Krea­ti­vi­tät durch die Erfah­run­gen der Transformation.

Mer­kel hat sich nie als beson­dere Vor­kämp­fe­rin für die Belange des Ostens ver­stan­den, son­dern als gesamt­deut­sche Kanz­le­rin. Hat das Men­schen dort ent­täuscht? Denn trotz aller Bemü­hun­gen ist die Anglei­chung der Lebens­ver­hält­nisse ja noch nicht gelungen.
Angela Mer­kel hat sich an vie­len Stel­len dafür ein­ge­setzt, dass sich die Dinge im Osten zum Bes­se­ren ent­wi­ckeln, ohne es an die große Glo­cke zu hän­gen. Wir müs­sen auch auf­hö­ren, Dinge zu ver­glei­chen, die nicht zu ver­glei­chen sind. Es gibt im Osten eine Reihe Son­der­fak­to­ren. Wir sind auf­grund der Abwan­de­rung von Jun­gen älter als im Wes­ten. Das ist nach­tei­lig für die wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung. Vor allem haben wir keine euro­päi­schen Metro­pol­re­gio­nen. Ber­lin und Leip­zig sind auf dem Weg dahin, aber das wird noch dau­ern. Ohne pro­spe­rie­rende inno­va­tive Zen­tren wie Ham­burg, Düs­sel­dorf, Frank­furt, Mün­chen, Stutt­gart wer­den wir nie den West­durch­schnitt errei­chen. Wenn man die raus­rech­net und nur die Flä­che ver­gleicht, gibt es kaum noch signi­fi­kante Unter­schiede. So gese­hen, eine Rie­sen-Erfolgs­ge­schichte. Dazu gehört, dass man in Chem­nitz güns­ti­ger lebt und viel weni­ger Miete bezahlt als in München.

Womög­lich ist die Erklä­rung für den Popu­lis­mus und den Erfolg der AfD im Osten ja auch mehr das Stadt-Land-Gefälle als eine ver­brei­tete rechte Gesinnung.
Es sind vor allem länd­li­che Regio­nen im Struk­tur­wan­del. Des­halb sind mir für Ost­deutsch­land Zukunfts­tech­no­lo­gien so wich­tig, bei Was­ser­stoff, Mikro­elek­tro­nik, Digi­ta­li­sie­rung, künst­li­cher Intel­li­genz, Quan­ten­tech­nik. Wir müs­sen da einen Vor­sprung Ost errei­chen und davon weg­kom­men, ver­län­gerte Werk­bank für den Wes­ten zu sein. Durch die Elek­tro­mo­bi­li­tät haben wir bei VW in Zwi­ckau jetzt erst­mals eine grö­ßere For­schungs- und Ent­wick­lungs­ab­tei­lung und die Kern­kom­pe­tenz in dem Bereich für den gesam­ten Kon­zern. Das ist ein ent­schei­den­der Punkt. Wenn es dis­rup­tiv wird – das ist die Zukunfts­chance des Ostens, wo man reich­lich Erfah­run­gen hat mit gro­ßen Umbrüchen.

Den­noch steht im Vor­der­grund zu oft das Defi­zi­täre. Sie haben viel Kri­tik bekom­men, weil Sie gesagt haben, etli­che im Osten seien durch die SED-Herr­schaft „dik­ta­tur­so­zia­li­siert“ und nicht in der Demo­kra­tie ange­kom­men und wähl­ten des­halb AfD. Bestärkt das nicht genau die­ses Bild?
Ich beschreibe nur eine Rea­li­tät: Wer in einer Dik­ta­tur groß wird, wird dadurch sozia­li­siert. Ich bin auch mit Staats­bür­ger­kunde indok­tri­niert wor­den. Bei man­chen hat das mehr, bei ande­ren weni­ger ver­fan­gen. Das hängt auch von der Prä­gung durch das Eltern­haus ab. In der fried­li­chen Revo­lu­tion haben viele für demo­kra­ti­sche Ver­än­de­run­gen demons­triert, aber längst nicht alle, nicht die vie­len Pro­fi­teure, die die DDR gerne behal­ten hät­ten. Sie alle wur­den Bür­ger einer bestehen­den demo­kra­ti­schen Ord­nung, anders als in den ost­eu­ro­päi­schen Län­dern aber als Auto­di­dak­ten. Ein gro­ßes Ver­säum­nis war, dass man nicht gleich viel mehr in die poli­ti­sche Bil­dung inves­tiert hat. Ich habe ab der neun­ten Klasse im Gemein­schafts­kun­de­un­ter­richt erfah­ren, wie die par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie funk­tio­niert. Mei­nen Eltern hat das nie­mand erklärt. Sie haben sich das selbst erwor­ben, aber nicht alle die­ser Gene­ra­tion. Ich habe das in der Coro­na­krise wie­der erlebt. Da treffe ich immer wie­der auf Men­schen, die laut über die Ein­schrän­kung von Grund­rech­ten kla­gen, aber offen­sicht­lich nicht wis­sen, dass der Gesetz­ge­ber z. B. das Ver­samm­lungs­recht in einem sol­chen Fall ein­schrän­ken kann.

Das wis­sen auch im Wes­ten viele nicht.
Aber der Anteil ist im Osten grö­ßer. Noch schlim­mer sind die, die über Min­der­heits­rechte stöh­nen und dass es hier nicht mehr so schön homo­gen ist. Nach dem Motto: „Wir möch­ten, dass es so bleibt, wie es in der DDR war. Da gab es nur Deut­sche. Mir ist es egal, wenn im Mit­tel­meer Men­schen ersau­fen.“ Das sind ganz schwie­rige Debatten.

Woher kommt das?
Ein Teil ist frus­triert durch die Trans­for­ma­tion, das Nicht­er­rei­chen des Wohl­stands­ver­spre­chens der Bun­des­re­pu­blik, auf das sie gehofft hat­ten, und die Müh­se­lig­keit der Demo­kra­tie. Das hat dazu geführt, dass sich demo­kra­tie­feind­li­che Ten­den­zen fest­ge­setzt haben. Das wird zum Teil von Gene­ra­tion zu Gene­ra­tion übertragen.

Errei­chen Sie diese Men­schen durch sol­che Äußerungen?
Alle, die es mit der Gebets­mühle und Gesprächs­run­den ver­sucht haben, haben auch wenig bewirkt. Einen Teil kann man errei­chen, indem man ihnen den Spie­gel vor­hält und ihnen sagt: Wir reden gerne über eure Pro­bleme, auch die der Ver­gan­gen­heit. Aber wir müs­sen auch dar­über reden, dass es nicht zur Grund­ver­fasst­heit der Demo­kra­tie gehört, Rechts­extreme zu wäh­len, nur weil ich dage­gen bin, dass eine Wind­mühle vor mei­nem Haus ste­hen soll.

Aber grenzt es nicht den­noch aus, weil es dann immer schnell heißt: Alle im Osten sind so?
Des­halb muss man dif­fe­ren­zie­ren. Wir haben das Pro­blem genauso im Wes­ten, nur ist es im Osten pro­por­tio­nal erheb­lich grö­ßer. Es sind auch nicht alle AfD-Wäh­ler ver­lo­ren. Aber es gibt im Osten zu viele Pro­blem­bür­ger. Natür­lich schreien die dann und sagen, wir wol­len nicht stig­ma­ti­siert wer­den. Aber sorry, wenn ich rechts­ra­di­kal bin, jeden­falls hem­mungs­los Rechts­ra­di­kale wähle, dann muss ich damit leben, dass mir das jemand vorhält.

Fällt das nicht auch auf Ihre Par­tei zurück? Hat sie genug dage­gen getan?
Offen­sicht­lich errei­chen wir und die ande­ren demo­kra­ti­schen Par­teien einen Teil der Bevöl­ke­rung nicht. Teil­weise Leute, die in schwie­ri­gen Ver­hält­nis­sen leben, aber die Mehr­zahl in guten, die sich aber über Nischen­the­men defi­nie­ren, wie „Ich finde keine andere Par­tei, die mir gibt: In Deutsch­land leben nur Deut­sche.“ Die­sen Leu­ten kann man nur sagen, ihr müsst damit leben, dass wir jetzt ein Ein­wan­de­rungs­land sind. Über die Regeln, die „Haus­ord­nung“, kön­nen wir spre­chen. Aber bei ihren Grund­po­si­tio­nen kön­nen wir sie nicht abho­len, weil wir es nicht wollen.

Also müs­sen wir damit leben, dass die AfD und die­ses Milieu blei­ben wird. Dann bleibt die ent­schei­dende Frage: Wie geht die CDU und gehen die ande­ren Par­teien damit um?
Die Brand­mauer muss hoch sein und jedes Jahr neu ver­putzt wer­den. Viele sagen zu Recht: Hört auf, vor denen zu sit­zen wie das Kanin­chen vor der Schlange und zu über­le­gen, wie kön­nen wir die gewin­nen. Die große demo­kra­ti­sche Mehr­heit sagt: Hier wird nach unse­ren Regeln gespielt. Des­halb dür­fen wir auch nicht dar­über reden, wie stim­men wir ab, wenn die AfD mal einen sinn­vol­len Antrag ein­bringt. Da muss klar sein: Das ist eine rechts­ra­di­kale Par­tei, ihre Anträge wer­den grund­sätz­lich abge­lehnt. Wenn es The­men gibt, die wir als Demo­kra­ten bear­bei­ten müs­sen, machen wir das selbst.

In Thü­rin­gen wurde der CDU-Rechts­au­ßen und frü­here Ver­fas­sungs­schutz­prä­si­dent Hans-Georg Maa­ßen als Bun­des­tags­kan­di­dat auf­ge­stellt, beim Miss­trau­ens­an­trag der AfD mit Björn Höcke gegen Bodo Rame­low sind die CDU-Abge­ord­ne­ten sit­zen geblie­ben. Hält die Brandmauer?
Sie hält. Machen Sie sich da keine Sorgen.

Die meis­ten DDR-Bür­ger haben sich nicht als Ost­deut­sche ver­stan­den. Auch in der Nach­wende-Gene­ra­tion gibt es viele, die sich nicht so defi­nie­ren, son­dern ein­fach selbst­be­wusst ihren Weg gehen. Wes­halb beton­ten andere ihr Ost-Sein, obwohl sie die DDR gar nicht erlebt haben?
Das ist die­ses iden­ti­täre Den­ken, das es auch auf der Lin­ken gibt. Da fehlt mir der Zugang. Bei Initia­ti­ven wie „Wir sind der Osten“ hat es etwas Posi­ti­ves. Mich stört es aber, wenn man sich nega­tiv von West­deut­schen abgrenzt. Viele Sach­sen, Thü­rin­ger und Bran­den­bur­ger defi­nie­ren sich als Ers­tes als sol­che, dann als Deut­sche und Euro­päer. Aber wenn man sie fragt: „Füh­len Sie sich als Men­schen zwei­ter Klasse?“, sagt ein Drit­tel Ja. Aller­dings auch fast genauso viele in den alten Län­dern. Weil es da um ganz andere Dinge geht als Ost/West, z. B. wie viel Lohn bekomme ich als Paket­fah­rer. Es gibt Par­teien und sie beglei­tende Medien, die dar­auf rum­rei­ten und eine unhei­lige Agenda verfolgen.

Sollte man Ihre Auf­gabe in der neuen Regie­rung mit der Frau­en­gleich­stel­lung und der Inte­gra­tion der Migran­ten zu einem Inte­gra­ti­ons­mi­nis­te­rium zusammenfassen?
Ich bin da skep­tisch. Es blei­ben genü­gend ost­spe­zi­fi­sche Auf­ga­ben. Ich bin froh, dass es jetzt end­lich – zu spät – das Amt der Beauf­trag­ten für die SED-Opfer gibt. Das sollte man nicht in einem Megaressort bün­deln, weil es dann leicht untergeht.

Wenn Sie nach der Wahl nicht Ost­be­auf­trag­ter blei­ben, wie wer­den Sie dann auf die Erfah­run­gen in dem Amt zurückschauen?
Ich konnte an kon­kre­ten Stel­len hel­fen, etwas für den Osten her­aus­zu­ho­len. Und habe gelernt, dass man drei­mal ums Eck den­ken muss, um nur ja nie­man­dem auf den Fuß zu tre­ten. Den­noch bleibe ich dabei: Getrof­fene Hunde bel­len fix.

Vie­len Dank.

Die­ses Inter­view ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2021.

Von |2021-10-29T14:24:54+02:00September 2nd, 2021|Heimat|Kommentare deaktiviert für

„Im Osten gibt es zu viele Problembürger“

Marco Wan­der­witz im Gespräch

Marco Wanderwitz ist Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer. Ludwig Greven ist freier Publizist.