Marco Wanderwitz & Ludwig Greven 2. September 2021 Logo_Initiative_print.png

„Im Osten gibt es zu viele Problembürger“

Marco Wan­der­witz im Gespräch

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung spricht mit Ludwig Greven über den Abschied von der ostdeutschen Kanzlerin, ostidentitäres Denken, eine Ostquote und die Brandmauer gegen die AfD.

Ludwig Greven: Nach der Bundestagswahl werden wir wieder einen westdeutschen Kanzler oder eine westdeutsche Kanzlerin bekommen. Was ändert sich dadurch für Ostdeutsche wie Sie?
Marco Wanderwitz: Obwohl wir weniger Einwohner sind als in Nordrhein-Westfalen, hatten wir in den 30 Jahren seit der Einheit eine Kanzlerin und einen Bundespräsidenten aus den neuen Ländern. Mehr als die meisten alten Bundesländer. Der Wechsel ist also nichts Ungewöhnliches. Dennoch wird es, wenn Angela Merkel nicht mehr Kanzlerin ist, darauf ankommen, dass in der neuen Regierung mehr Minister aus dem Osten sind, die auf die ostdeutschen Bundesländer schauen. Es kann nicht sein, dass dann wieder drei Minister aus dem kleinen Saarland am Kabinettstisch sitzen, aber kaum einer aus dem Osten. Denn auch in anderen Bereichen sind Ostdeutsche unterrepräsentiert, in der Rektorenkonferenz, der Wissenschaft, Redaktionen und Medien, den Führungen großer Unternehmen bis zu den Verwaltungsspitzen.

Überall werden Frauenquoten gefordert und mehr Diversität für Migranten und sexuelle Minderheiten. Weshalb nicht auch eine Ostquote?
Die Benachteiligung teilen Ostdeutsche mit Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte. In bestimmten Habitaten wie Dax-Vorständen herrschen immer noch nur Männer westdeutscher Herkunft. Das gilt es aufzubrechen. Ich hoffe, dass wir das ohne Ostquote schaffen. Bei den Frauen haben wir es lange vergebens versucht. Nun mussten wir es verbindlich machen. Man sollte das auch auf den Kulturbereich übertragen. Die Intendantenposten sind auch da fast nur männlich besetzt, obwohl der Kulturbetrieb ziemlich weiblich ist.

Ostdeutsche gibt es da auch kaum.
Auch das ist ein schwerer Fehler, weil ostdeutsche Künstler sehr viel einbringen an besonderer Kreativität durch die Erfahrungen der Transformation.

Merkel hat sich nie als besondere Vorkämpferin für die Belange des Ostens verstanden, sondern als gesamtdeutsche Kanzlerin. Hat das Menschen dort enttäuscht? Denn trotz aller Bemühungen ist die Angleichung der Lebensverhältnisse ja noch nicht gelungen.
Angela Merkel hat sich an vielen Stellen dafür eingesetzt, dass sich die Dinge im Osten zum Besseren entwickeln, ohne es an die große Glocke zu hängen. Wir müssen auch aufhören, Dinge zu vergleichen, die nicht zu vergleichen sind. Es gibt im Osten eine Reihe Sonderfaktoren. Wir sind aufgrund der Abwanderung von Jungen älter als im Westen. Das ist nachteilig für die wirtschaftliche Entwicklung. Vor allem haben wir keine europäischen Metropolregionen. Berlin und Leipzig sind auf dem Weg dahin, aber das wird noch dauern. Ohne prosperierende innovative Zentren wie Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt, München, Stuttgart werden wir nie den Westdurchschnitt erreichen. Wenn man die rausrechnet und nur die Fläche vergleicht, gibt es kaum noch signifikante Unterschiede. So gesehen, eine Riesen-Erfolgsgeschichte. Dazu gehört, dass man in Chemnitz günstiger lebt und viel weniger Miete bezahlt als in München.

Womöglich ist die Erklärung für den Populismus und den Erfolg der AfD im Osten ja auch mehr das Stadt-Land-Gefälle als eine verbreitete rechte Gesinnung.
Es sind vor allem ländliche Regionen im Strukturwandel. Deshalb sind mir für Ostdeutschland Zukunftstechnologien so wichtig, bei Wasserstoff, Mikroelektronik, Digitalisierung, künstlicher Intelligenz, Quantentechnik. Wir müssen da einen Vorsprung Ost erreichen und davon wegkommen, verlängerte Werkbank für den Westen zu sein. Durch die Elektromobilität haben wir bei VW in Zwickau jetzt erstmals eine größere Forschungs- und Entwicklungsabteilung und die Kernkompetenz in dem Bereich für den gesamten Konzern. Das ist ein entscheidender Punkt. Wenn es disruptiv wird – das ist die Zukunftschance des Ostens, wo man reichlich Erfahrungen hat mit großen Umbrüchen.

Dennoch steht im Vordergrund zu oft das Defizitäre. Sie haben viel Kritik bekommen, weil Sie gesagt haben, etliche im Osten seien durch die SED-Herrschaft „diktatursozialisiert“ und nicht in der Demokratie angekommen und wählten deshalb AfD. Bestärkt das nicht genau dieses Bild?
Ich beschreibe nur eine Realität: Wer in einer Diktatur groß wird, wird dadurch sozialisiert. Ich bin auch mit Staatsbürgerkunde indoktriniert worden. Bei manchen hat das mehr, bei anderen weniger verfangen. Das hängt auch von der Prägung durch das Elternhaus ab. In der friedlichen Revolution haben viele für demokratische Veränderungen demonstriert, aber längst nicht alle, nicht die vielen Profiteure, die die DDR gerne behalten hätten. Sie alle wurden Bürger einer bestehenden demokratischen Ordnung, anders als in den osteuropäischen Ländern aber als Autodidakten. Ein großes Versäumnis war, dass man nicht gleich viel mehr in die politische Bildung investiert hat. Ich habe ab der neunten Klasse im Gemeinschaftskundeunterricht erfahren, wie die parlamentarische Demokratie funktioniert. Meinen Eltern hat das niemand erklärt. Sie haben sich das selbst erworben, aber nicht alle dieser Generation. Ich habe das in der Coronakrise wieder erlebt. Da treffe ich immer wieder auf Menschen, die laut über die Einschränkung von Grundrechten klagen, aber offensichtlich nicht wissen, dass der Gesetzgeber z. B. das Versammlungsrecht in einem solchen Fall einschränken kann.

Das wissen auch im Westen viele nicht.
Aber der Anteil ist im Osten größer. Noch schlimmer sind die, die über Minderheitsrechte stöhnen und dass es hier nicht mehr so schön homogen ist. Nach dem Motto: „Wir möchten, dass es so bleibt, wie es in der DDR war. Da gab es nur Deutsche. Mir ist es egal, wenn im Mittelmeer Menschen ersaufen.“ Das sind ganz schwierige Debatten.

Woher kommt das?
Ein Teil ist frustriert durch die Transformation, das Nichterreichen des Wohlstandsversprechens der Bundesrepublik, auf das sie gehofft hatten, und die Mühseligkeit der Demokratie. Das hat dazu geführt, dass sich demokratiefeindliche Tendenzen festgesetzt haben. Das wird zum Teil von Generation zu Generation übertragen.

Erreichen Sie diese Menschen durch solche Äußerungen?
Alle, die es mit der Gebetsmühle und Gesprächsrunden versucht haben, haben auch wenig bewirkt. Einen Teil kann man erreichen, indem man ihnen den Spiegel vorhält und ihnen sagt: Wir reden gerne über eure Probleme, auch die der Vergangenheit. Aber wir müssen auch darüber reden, dass es nicht zur Grundverfasstheit der Demokratie gehört, Rechtsextreme zu wählen, nur weil ich dagegen bin, dass eine Windmühle vor meinem Haus stehen soll.

Aber grenzt es nicht dennoch aus, weil es dann immer schnell heißt: Alle im Osten sind so?
Deshalb muss man differenzieren. Wir haben das Problem genauso im Westen, nur ist es im Osten proportional erheblich größer. Es sind auch nicht alle AfD-Wähler verloren. Aber es gibt im Osten zu viele Problembürger. Natürlich schreien die dann und sagen, wir wollen nicht stigmatisiert werden. Aber sorry, wenn ich rechtsradikal bin, jedenfalls hemmungslos Rechtsradikale wähle, dann muss ich damit leben, dass mir das jemand vorhält.

Fällt das nicht auch auf Ihre Partei zurück? Hat sie genug dagegen getan?
Offensichtlich erreichen wir und die anderen demokratischen Parteien einen Teil der Bevölkerung nicht. Teilweise Leute, die in schwierigen Verhältnissen leben, aber die Mehrzahl in guten, die sich aber über Nischenthemen definieren, wie „Ich finde keine andere Partei, die mir gibt: In Deutschland leben nur Deutsche.“ Diesen Leuten kann man nur sagen, ihr müsst damit leben, dass wir jetzt ein Einwanderungsland sind. Über die Regeln, die „Hausordnung“, können wir sprechen. Aber bei ihren Grundpositionen können wir sie nicht abholen, weil wir es nicht wollen.

Also müssen wir damit leben, dass die AfD und dieses Milieu bleiben wird. Dann bleibt die entscheidende Frage: Wie geht die CDU und gehen die anderen Parteien damit um?
Die Brandmauer muss hoch sein und jedes Jahr neu verputzt werden. Viele sagen zu Recht: Hört auf, vor denen zu sitzen wie das Kaninchen vor der Schlange und zu überlegen, wie können wir die gewinnen. Die große demokratische Mehrheit sagt: Hier wird nach unseren Regeln gespielt. Deshalb dürfen wir auch nicht darüber reden, wie stimmen wir ab, wenn die AfD mal einen sinnvollen Antrag einbringt. Da muss klar sein: Das ist eine rechtsradikale Partei, ihre Anträge werden grundsätzlich abgelehnt. Wenn es Themen gibt, die wir als Demokraten bearbeiten müssen, machen wir das selbst.

In Thüringen wurde der CDU-Rechtsaußen und frühere Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen als Bundestagskandidat aufgestellt, beim Misstrauensantrag der AfD mit Björn Höcke gegen Bodo Ramelow sind die CDU-Abgeordneten sitzen geblieben. Hält die Brandmauer?
Sie hält. Machen Sie sich da keine Sorgen.

Die meisten DDR-Bürger haben sich nicht als Ostdeutsche verstanden. Auch in der Nachwende-Generation gibt es viele, die sich nicht so definieren, sondern einfach selbstbewusst ihren Weg gehen. Weshalb betonten andere ihr Ost-Sein, obwohl sie die DDR gar nicht erlebt haben?
Das ist dieses identitäre Denken, das es auch auf der Linken gibt. Da fehlt mir der Zugang. Bei Initiativen wie „Wir sind der Osten“ hat es etwas Positives. Mich stört es aber, wenn man sich negativ von Westdeutschen abgrenzt. Viele Sachsen, Thüringer und Brandenburger definieren sich als Erstes als solche, dann als Deutsche und Europäer. Aber wenn man sie fragt: „Fühlen Sie sich als Menschen zweiter Klasse?“, sagt ein Drittel Ja. Allerdings auch fast genauso viele in den alten Ländern. Weil es da um ganz andere Dinge geht als Ost/West, z. B. wie viel Lohn bekomme ich als Paketfahrer. Es gibt Parteien und sie begleitende Medien, die darauf rumreiten und eine unheilige Agenda verfolgen.

Sollte man Ihre Aufgabe in der neuen Regierung mit der Frauengleichstellung und der Integration der Migranten zu einem Integrationsministerium zusammenfassen?
Ich bin da skeptisch. Es bleiben genügend ostspezifische Aufgaben. Ich bin froh, dass es jetzt endlich – zu spät – das Amt der Beauftragten für die SED-Opfer gibt. Das sollte man nicht in einem Megaressort bündeln, weil es dann leicht untergeht.

Wenn Sie nach der Wahl nicht Ostbeauftragter bleiben, wie werden Sie dann auf die Erfahrungen in dem Amt zurückschauen?
Ich konnte an konkreten Stellen helfen, etwas für den Osten herauszuholen. Und habe gelernt, dass man dreimal ums Eck denken muss, um nur ja niemandem auf den Fuß zu treten. Dennoch bleibe ich dabei: Getroffene Hunde bellen fix.

Vielen Dank.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

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