Seine Bücher wie „33 Augenblicke des Glücks“, „Simple Storys“, „Neue Leben2, „Adam und Evelyn“ oder „Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“ sind so erfolgreich, dass sie teilweise zu Schullektüre, für das Kino verfilmt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. 1962 in Dresden als Sohn eines Physikers und einer Ärztin geboren, wuchs er nach der Trennung seiner Eltern bei seiner Mutter auf. Nach dem Abitur und dem anderthalbjährigen Grundwehrdienst studierte er Klassische Philologie und Germanistik in Jena und war anschließend zwei Jahre als Dramaturg am Landestheater Altenburg tätig. In dieser Zeit entstanden erste Geschichten.
„In der Pubertät wollte ich Schriftsteller werden, weil es in der DDR eigentlich keinen wichtigeren Beruf gab. Ich glaubte, wenn ich früh etwas veröffentlichen könnte – vor allem natürlich im Westen – dann wäre ich unangreifbar. Das ist natürlich sehr kindlich, sagt aber doch etwas über den Stellenwert der Literatur aus.“ Nach einer langen Pause, in der er als Journalist tätig war, erst als Mitbegründer des „Altenburger Wochenblatts“, später als Leiter einer Annoncenzeitung in Sankt Petersburg, lebt er seit Mitte der 1990er Jahre als freier Autor in Berlin. Ingo Schulze ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, der Sächsischen Akademie der Künste und des PEN-Zentrums Deutschland.
Lesen als Schlüssel zur Welt
„Überrascht bemerkte Norbert Paulini, wie angenehm es war, Zeile um Zeile in ein Buch zu tauchen. Als machte er sich selbst Schritt um Schritt auf den Weg in eine fremde Welt, obwohl er bloß dalag.“ Diese Sätze stammen aus einer Art Schlüsselroman, dem 2020 erschienenen Werk „Die rechtschaffenen Mörder“ (S. Fischer). Im Kern geht es darum, wie ein aufrechter Büchermensch, ein Dresdner Antiquar, zum Reaktionär wird. Welche Rolle spielte die Literatur und das Lesen in seinem Leben? Ingo Schulze: „Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch Geschichten braucht, die ihn mit den anderen Menschen und der ganzen Welt verbinden. Ich lese, um mit meinen Erfahrungen nicht allein zu bleiben, sie überhaupt erst als solche zu erkennen. Denn ein Roman oder ein Lied kann ja etwas fassen, das sich nicht in einer wissenschaftlichen Abhandlung darstellen lässt. Wir sind darauf angewiesen, einander unsere Geschichten zu erzählen, um uns überhaupt zu begreifen. Und für mich ist das Lesen wie auch das Schreiben eine gesteigerte Form von Leben.“
Politisches Engagement
„Der Blick auf die Vergangenheit bestimmt unsere Zukunft“, hat Schulze einmal festgestellt. Mit seiner Arbeit will er auch auf Missstände im Verhältnis Ost-West in Deutschland aufmerksam machen, die auch über 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch evident sind: „Für die Vergangenheit interessiert man sich immer, um in der Gegenwart besser zurechtzukommen. Und natürlich stellen wir die Vergangenheit so dar, um die eigene Position plausibel zu machen. Nehmen wir die Entscheidung im Januar vor einem Jahr, als sich der FDP-Mann Kemmerich mit den Stimmen seiner Partei und denen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ. Offenbar verband ihn mit dem Rechtsaußen Höcke und dessen Partei mehr als mit der Linken. Das liegt aber vor allem an der Herkunft der Linken und der Beurteilung der DDR. Und selbst jetzt, nachdem diese unselige Entscheidung revidiert wurde und eine CDU-Vorsitzende darüber gestürzt ist, gilt für die CDU weiter, AfD und Linke gleich zu behandeln. Das aber hat vor allem mit der Interpretation der Vergangenheit zu tun. Selbst Grüne und SPD zwangen Ramelow als Voraussetzung einer Koalition, die DDR als Unrechtsstaat zu akzeptieren, was ich verhängnisvoll finde.“
„Der Westen ist das Normale, der Osten wird in Nähe oder Distanz dazu beschrieben.“
Ingo Schulze hat den Umbruch, den die bundesdeutsche Gesellschaft nach der Wende vollzogen hat, als einen Wechsel von Freiheiten und Abhängigkeit erlebt. Diesen nachvollziehbar zu machen, ist einer der Gründe, warum er schreibt und sich kulturpolitisch engagiert: „Im Verhältnis zur DDR ging der Alt-BRD mit 1990 die Differenziertheit verloren, plötzlich gab es nur noch richtig und falsch, Freiheit oder Diktatur, Wohlstand oder Mangelwirtschaft. Dass es nur ein Beitritt wurde und keine Vereinigung, ist ein Geburtsfehler, an dem in erster Linie die Ostdeutschen schuld sind, aber natürlich auch jene, allen voran Kanzler Kohl, der es besser hätte wissen können. Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, dass es keine Bevölkerung in Europa gibt, der so wenig an Grund und Boden, an Immobilien, an Betrieben gehört in dem Land, in dem sie lebt. Für beinah gravierender halte ich, dass die Spitzenpositionen im Osten zum Großteil eben nicht von Ostlern besetzt sind, was im Einzelfall gar nichts besagt, aber in dieser Häufung schon. Wir fragen ja heute auch zu Recht, wie groß ist der Anteil von Frauen dort und dort, und wie groß ist der Anteil derer, die aus Migrantenfamilien stammen. Für jemanden aus dem Osten gilt das nicht, obwohl sich die Sozialisationen und die Startchancen ganz grundsätzlich von denen im Westen unterscheiden. Und da gibt es auch kaum eine Entwicklung, weder in Besitzverhältnissen – der Zug ist abgefahren – noch beim Nachwuchs. Die Unterschiede werden im wortwörtlichen Sinne vererbt. Wie über den Osten berichtet wird, entscheiden mit großer Mehrheit diejenigen, die im Westen sozialisiert worden sind.“
Auch deshalb sieht Ingo Schulze in der Mehrheit der östlichen AfD-Wähler „vor allem abgewiesene Liebhaber und sitzengelassene Bräute des Westens“, also eine Art Protestbewegung, entstanden aus Ohnmachtsgefühlen: „Da hat sich etwas verstetigt und man fühlt sich fremd im eigenen Land, zweitklassig. Mit den Geflüchteten kam bei vielen die Angst, jetzt drittklassig zu werden.“
„Zu hoffen, die Technologie wird uns retten, ist Quark. Deswegen bauen wir jetzt keine Benzin-SUVs, sondern Elektro-SUVs! Wir fragen nicht, was ist notwendig, sondern nur: Wie kann man damit wieder Geld machen“, hat Ingo Schulze kürzlich festgestellt. Die Rolle des Geldes war im Osten eine andere als im Westen: „Ich bin in einer Welt groß geworden, in der Geld auch sehr begehrt war, aber es entschied erst in zweiter oder dritter Linie über den Beruf. Die Wohnung war keine Frage des Geldes, das Auto nur bedingt, wer endlich seins bekam, konnte allein die Anmeldung für mehrere Tausend Mark verkaufen. Mit der Währungsunion wurde plötzlich alles in Geld ausdrückbar. Allerdings ist dieser Zustand für mich nicht naturgegeben. Und die Coronapandemie hat ja gezeigt, dass der Staat durchaus fähig ist, die Ökonomie den Notwendigkeiten unterzuordnen, das wünschte man sich auch in anderen, vielleicht sogar wichtigeren Fällen.“
Aussicht auf die Wahlen und eine Utopie
Im Hinblick auf die anstehenden Bundestagswahlen ist sich Ingo Schulze über die Ergebnisse der AfD nicht sicher. Verteufeln möchte er sie und ihre Anhänger sowieso nicht: „Die AfD ist ein Symptom, so wie auch die Querdenker-Proteste ein Symptom sind. Deren Mitglieder und Anhänger existieren ja auch außerhalb dieser Zugehörigkeiten. Das einfachste Mittel gegen diese Partei und gegen diese Proteste ist ja, unsere Gesellschaft, unser Land, unsere Welt oder, wenn Sie so wollen, unseren Planeten besser zu machen. Sozialer, gerechter, friedlicher, im Einklang mit unseren Lebensgrundlagen, also das zu tun, wovon eigentlich jede und jeder weiß, dass es getan werden muss. Einen Betrieb zu führen unter der vorrangigen Maßgabe von ständig steigenden Gewinn- und Renditeerwartungen, ist in meinen Augen für die Gesellschaft nicht weniger gefährlich und letztlich nicht weniger menschenverachtend als Rassismus und völkisches Denken.“
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.