Mit dem Projekt „Ein Stück Deutschland“ möchte die deutsche Journalistin Corinna Below ein Zeichen gegen das Vergessen setzen. Hierzu nimmt sie einen mit in das ca. 12.000 km entfernte Altenheim Hogar Adolfo Hirsch, nördlich von Buenos Aires. Dort leben etwa 170 Deutsch sprechende Jüdinnen und Juden. Ihre Erinnerungen an Deutschland sowie ihre Emigrationsgeschichten sind eng mit dem Deutschland der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und des Nationalsozialismus‘ verknüpft.
Corinna Below sammelte dort 49 Lebensgeschichten und verschafft ihnen im Rahmen des Projekts „Ein Stück Deutschland“ eine öffentliche Plattform. Vielen Dank, Corinna Below, für diese neue, ebenso eindrückliche wie authentische Perspektive des Erinnerns.
Ihre große Leidenschaft ist es, Geschichten von Menschen zu sammeln und nachzuerzählen. Was fasziniert Sie daran besonders?
Mich fasziniert besonders, wie unterschiedlich Lebenswege verlaufen. Mich interessieren vor allem Geschichten über Menschen, die Besonderes leisten, geleistet haben oder deren Leben steinig verläuft, die besondere Schicksale meistern müssen oder mussten. Mich interessieren Brüche, Dissonanzen und die Fähigkeit, damit umzugehen. Eines meiner Schwerpunktthemen ist der Nationalsozialismus und die Folgen für seine Opfer. Bezogen auf die 49 von mir Porträtierten hat mich vor allem interessiert, warum sie, anders als viele andere Jüdinnen und Juden, geflohen sind. Außerdem war für mich die Frage nach Ihrer Identität besonders wichtig.
„Mich interessieren Brüche, Dissonanzen und die Fähigkeit, damit umzugehen.“
Mich interessieren aber auch die Geschichten der NS-Täterinnen und NS-Täter und die sogenannte Geschichte nach der Geschichte, also die deutsche Nachkriegsgeschichte. Beides hat viel mit uns heute zu tun. Immer wieder beschäftige ich mich damit auch als NDR-Journalistin.
Die Frage nach der nationalsozialistischen Kontinuität bis heute beschäftigt mich auch in meinem Podcast zum Projekt. Denn sie zeigt sich in allen Lebensbereichen. Zum Beispiel heißt das Hamburger Alsterhaus bis heute so, wie es die Nazis nach 1933, also nach der Arisierung, genannt haben. Vorher hieß es nach dem Gründer der Warenhauskette Hermann Tietz. Mich treibt um, dass viele Menschen von dieser Kontinuität nichts wissen. An diesem Beispiel wird deutlich, wie wichtig es ist, dass wir unsere Geschichte kennen.
Vor diesem Hintergrund ist auch Ihr Projekt „Ein Stück Deutschland“ entstanden. Was verbirgt sich dahinter?
Diesem Stück Deutschland bin ich zum ersten Mal 1999 begegnet. Hanna Grünwald, eine deutsche Jüdin und die Großmutter meines Mannes, war deutscher als alle Großmütter, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Im Schrank stapelte sich die Aussteuerwäsche, von ihrer Mutter in Bockenheim an der Weinstraße von Hand bestickt. Fast alle Möbel waren aus Deutschland und sie kochte so deutsch, wie ich es in Argentinien nicht erwartet hätte: Sauerbraten, gepökelte Zunge, Kochkäse. Kochkäse hatte ich bis dahin noch nie gegessen. Hanna Grünwald lebte zu diesem Zeitpunkt schon 61 Jahre in Buenos Aires und war dennoch Deutsche geblieben. Nicht nur in der Küche. Sie las Deutsch, sie dachte Deutsch und sie war über Deutschland immer bestens informiert, durch das Argentinische Tageblatt und die Deutsche Welle. Diese Frau faszinierte mich sehr. Wie konnte es sein, dass ein Mensch in der Fremde sich so wenig verändert, Rituale und Gewohnheiten beibehält, ausschließlich Freundinnen und Freunde hat, die ebenfalls deutsche Juden sind?
Hanna Grünwald hat ihr kleines Stück Deutschland mitgenommen und konserviert, weil auch sie von den Nazis verfolgt, gehen musste. Sie war damals eine der vielen sogenannten voluntarias (Freiwillige) im Hogar Adolf Hirsch, bis zu ihrem 95. Geburtstag. Sie hat mich auf die Menschen neugierig gemacht, die sie einmal die Woche in San Miguel besuchte. Ich hab also beschlossen, sie zu begleiten – 2000 das erste Mal.
2004 planten der Fotograf Tim Hoppe und ich dann ein Fotoprojekt, für das er ein Stipendium der VG Bildkunst bekam. Ich wollte zu den geplanten Fotografien etwas längere Bildunterschriften schreiben. Doch dann verbrachten wir Zeit mit diesen Menschen und wir wussten sofort: Bildunterschriften konnten ihnen nicht gerecht werden. Die Geschichten, die sie mir erzählt hatten, brauchten weit mehr Raum. Also sind 49 kurze Portraits entstanden, 49 Lebensgeschichten, die im Hogar Adolfo Hirsch zusammenkommen und hier zu Ende gehen. Hanna Grünwald ist 2005 im Alter von 99 Jahren gestorben. Auch die meisten anderen sind seitdem gestorben.
Aus den Interviews haben ich kurze Texte geschrieben. 2016 habe ich mit meinem Mann Eric Pfromm ein Buch daraus gemacht. Um mehr Menschen erreichen zu können, habe ich mithilfe meines Freundes und Kollegen Carsten Janz eine Internetseite gebaut.
Durch ein Crowdfunding finanziert und die Unterstützung vieler Freundinnen und Freunde ist die Seite mittlerweile dreisprachig und jede Geschichte als Audio verfügbar. Außerdem habe ich mit der Kamerafrau Berit Ladewig 2019 einen Kurzfilm mit den noch lebenden Protagonistinnen in Buenos Aires gedreht. Seit 2020 ist der 15-minütige Kurzfilm fertig. Bisher habe ich ihn leider erst zweimal zeigen können. Durch die Pandemie sind alle Veranstaltungen ausgefallen.
In der Zeit des Lockdowns hatte Carsten Janz die die Idee, einen Podcast aus den Original-Interview-Tönen zu machen. Seit Januar 2021 haben wir bereits 19 Folgen veröffentlicht. Das Tolle an diesem Format ist, dass die Original-Interviewtöne den Pfad für unsere Gespräche über die Geschichten vorgeben. Die Protagonistinnen und Protagonisten noch einmal sprechen zu hören, ist für mich eine tolle Erfahrung. Die Geschichten werden so noch einmal auf eine ganz andere Art nachvollziehbar und auch fühlbar. Außerdem laden wir, je nach Thema auch Expertinnen und Experten in unseren Podcast ein, um die Erzählungen im historischen Kontext zu vertiefen. Zuletzt hatten wir die Historikerin Sara Elkmann zu Gast, die fehlende Informationen zur Familie der Protagonistin berichten konnte.
„Mir ist es wichtig, die Geschichten so plastisch wie möglich zu machen.“
Ihr Ziel ist es, die Projekt-Webseite „Ein Stück Deutschland“ zu einem lebendigen Ort der Erinnerung zu machen. Was meinen Sie damit genau?
Mir ist es wichtig, die Geschichten so plastisch wie möglich zu machen. Ich stelle mir vor, wie das Projekt „Ein Stück Deutschland“ die Leserinnen und Leser der Texte und die Hörerinnen und Hörer des Podcasts emotional erreicht. Ich möchte nachvollziehbar machen, wie meine Protagonistinnen und Protagonisten sich gefühlt haben, wie sie unter den Nazis gelitten haben, was sie zur Flucht bewegte, wie es war, Angehörige zurücklassen zu müssen und in einem völlig fremden Land neu anzufangen.
Und lebendig heißt für mich auch, dass ein Austausch zu „Ein Stück Deutschland“ entstehen kann, online über Social Media oder auf Lesungen, die ja jetzt glücklicherweise wieder stattfinden können.
Die 15 Thesen der Initiative kulturelle Integration tragen den Titel „Zusammenhalt in Vielfalt“. Was bedeutet für Sie „Zusammenhalt“?
Zusammenhalt ist für mich essenziell für eine funktionierende Demokratie. Gerade gegenüber denjenigen, die die Demokratie schwächen – oder sogar abschaffen wollen – ist es wichtig zu zeigen, dass die Mehrheit zusammensteht und dass sie die Minderheiten schützt.
„Zusammenhalt ist für mich essenziell für eine funktionierende Demokratie.“
In Zeiten von AfD, Pegida und zunehmendem Hass im Internet will ich auch mit meinem Projekt etwas zu diesem Zusammenhalt beitragen. Meine Hoffnung ist: Wer über die Vergangenheit Bescheid weiß, der wird in der Gegenwart Haltung zeigen, Minderheiten schützen, sich für Flüchtlinge und gegen Hass und Antisemitismus einsetzen.
Vielen Dank!