Anti­se­mi­tis­mus ist …?

Ein Kon­sens über Israel exis­tiert nicht mehr 

Die Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion stellte 2017 15 The­sen zu kul­tu­rel­ler Inte­gra­tion und Zusam­men­halt auf. In der 13. These „Die Aus­ein­an­der­set­zung mit der Geschichte ist nie abge­schlos­sen“ heißt es: „Die Shoah ist das dun­kelste Kapi­tel deut­scher Geschichte. Sie nimmt daher in der Erin­ne­rungs­kul­tur in Deutsch­land einen beson­de­ren Platz ein. Die Erin­ne­rung an die Shoah wach­zu­hal­ten und wei­ter­zu­ge­ben, ist eine dau­ernde Ver­pflich­tung für in Deutsch­land gebo­rene Men­schen ebenso wie für Zuge­wan­derte. Das schließt ein, sich ent­schie­den gegen jede Form des Anti­se­mi­tis­mus zu wenden.“

Ist es selbst­ver­ständ­lich, „in Deutsch­land gebo­rene Men­schen“ und „Zuge­wan­derte“ in eine gemein­same Ver­pflich­tung zu neh­men? Schließt die Ver­ant­wor­tung auch Men­schen ein, die in den letz­ten Jahr­zehn­ten nach Deutsch­land kamen und ihre eige­nen Lei­dens­ge­schich­ten mit sich tra­gen? Hin­ter die­ser Auf­for­de­rung der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion ver­birgt sich eine wei­tere Ver­pflich­tung, die gerade für Zuge­wan­derte – und das noch mehr für Zuge­wan­derte aus dem Nahen Osten – nicht selbst­ver­ständ­lich ist. Heißt „die Erin­ne­rung an die Shoah wach­zu­hal­ten“, sich gleich­zei­tig soli­da­risch mit dem sou­ve­rä­nen Staat Israel zu erklä­ren, der nach der Shoah gegrün­det wurde?

Olaf Scholz, der Stell­ver­tre­ter der Bun­des­kanz­le­rin, hat am 20. Juni 2021 auf einer Kund­ge­bung gesagt: „Wer jüdi­sches Leben in Deutsch­land angreift, greift die Iden­ti­tät der deut­schen Gesell­schaft an, der greift uns alle an.“ Gleich­zei­tig war diese Kund­ge­bung eine Soli­da­ri­täts­kund­ge­bung für den Staat Israel, der sich in einem bewaff­ne­ten Waf­fen­gang mit der isla­mis­ti­schen Ter­ror­or­ga­ni­sa­tion Hamas befand. Soli­da­ri­tät mit Israel und Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus gehen da Hand in Hand. Ist daher Soli­da­ri­tät mit Israel nun ein Lack­mus­test für Inte­gra­tion, dem sich Zuge­wan­derte, auch aus dem Nahen Osten, stel­len müssen?

Gerade die öffent­li­che Debatte der letz­ten Jahre hat offen­ge­legt, dass der Kon­sens über Israel nicht mehr exis­tiert. Mehr sogar, es wird als deut­scher Kate­chis­mus ange­grif­fen und damit der Legi­ti­ma­tion ent­zo­gen. Das mag stim­men oder nicht, aber jeder Kate­chis­mus erzeugt dann wohl auch Gegen­ka­te­chis­men. Wir sehen deut­lich eine Kon­kur­renz der Nar­ra­tive, die Israel und seine Exis­tenz fast kon­trär beschrei­ben. Für die eine Seite der Debatte ist die soge­nannte Isra­el­kri­tik mehr als not­wen­dig, der Staat und seine Besat­zungs­po­li­tik wer­den als kolo­nia­lis­tisch ein­ge­schätzt, wäh­rend die andere Seite der Debatte dar­auf pocht, dass es eine Grenz­li­nie gibt zwi­schen legi­ti­mer Kri­tik an Israel und nicht legi­ti­mer Ver­nei­nung des Exis­tenz­rechts Isra­els. Wo diese Grenz­li­nie denn genau ver­läuft, war schon immer ein Pro­blem in die­ser Debatte. Es kommt eher dar­auf an, woher und wohin der Blick gerich­tet ist und wel­che his­to­ri­sche Per­spek­tive ein­ge­schla­gen wird. Die­je­ni­gen, die den Staat Israel als ein bru­ta­les und gewalt­aus­üben­des poli­ti­sches Gemein­we­sen beschrei­ben, sehen eine unter­drü­ckende Sied­ler­ge­sell­schaft, fokus­sie­ren ihren geo­gra­fi­schen Blick auf den Nahen Osten, sehen Macht und keine Macht­lo­sig­keit, Sou­ve­rä­ni­tät und keine Hei­mat­lo­sig­keit. Wenn aber der Blick sich auf die jüdi­sche Geschichte aus­wei­tet, wenn aus dem Raum nun (euro­päi­sche) Zeit wird, dann ste­hen Ver­fol­gung und Macht­lo­sig­keit, ja sogar Ver­nich­tung, im Vor­der­grund. Das ist auch der Blick des offi­zi­el­len Deutsch­lands. In der einen Per­spek­tive sind Juden weiß und gehö­ren zur west­li­chen Geschichte der Kolo­ni­sie­rung nicht­wei­ßer Men­schen. In der ande­ren Per­spek­tive gehö­ren Juden nicht zu der wei­ßen Hege­mo­nie, son­dern wur­den selbst als kolo­ni­sierte Min­der­heit inner- und außer­halb Euro­pas verfolgt.

Fokus­siert wird diese Aus­ein­an­der­set­zung durch den Ver­gleich mit Süd­afrika, Stich­wort: Apart­heid. Das Apart­heid­re­gime Süd­afri­kas, das erst 1994 endete, galt abge­se­hen von den süd­afri­ka­ni­schen Herr­schen­den als ras­sis­ti­sches und daher nicht legi­ti­mes Regime. Boy­kott war die Folge. Aber für eine andere Gene­ra­tion in Deutsch­land hat „Boy­kott“ immer noch auch die Kon­no­ta­tion der Juden­ver­fol­gung im Nazi-Deutsch­land, hat also einen ande­ren Klang. Das wird in dem am 17. Mai 2019 vom Deut­schen Bun­des­tag ange­nom­me­nen Antrag mit dem Titel „BDS-Bewe­gung ent­schlos­sen ent­ge­gen­tre­ten – Anti­se­mi­tis­mus bekämp­fen“ mehr als klargestellt:

„Die Argu­men­ta­ti­ons­mus­ter und Metho­den der BDS-Bewe­gung sind anti­se­mi­tisch. Die Auf­rufe der Kam­pa­gne zum Boy­kott israe­li­scher Künst­le­rin­nen und Künst­ler sowie Auf­kle­ber auf israe­li­schen Han­dels­gü­tern, die vom Kauf abhal­ten sol­len, erin­nern zudem an die schreck­lichste Phase der deut­schen Geschichte. ›Don’t Buy‹-Aufkleber der BDS-Bewe­gung auf israe­li­schen Pro­duk­ten wecken unwei­ger­lich Asso­zia­tio­nen zu der NS-Parole ›Kauft nicht bei Juden!‹ und ent­spre­chen­den Schmie­re­reien an Fas­sa­den und Schaufenstern.“

Damit wurde auch der unmit­tel­bare Zusam­men­hang zwi­schen Boy­kott gegen Israel und Boy­kott gegen Juden in der NS-Zeit hergestellt.

Aber es gibt andere Beschrei­bun­gen. Deutsch­land will ja gerade im Selbst­bild der kul­tu­rel­len Eli­ten ein welt­of­fe­nes Land sein. Eine Initia­tive öffent­li­cher Kul­tur- und Wis­sen­schafts­in­sti­tu­tio­nen reagier­ten auf die­sen Beschluss mit ihrer eige­nen Beschrei­bung der Wirk­lich­keit, die sie dann im Dezem­ber 2020 „Initia­tive GG 5.3 Welt­of­fen­heit“ nann­ten. Es war eine Ant­wort eines Teils der Kul­ture­lite auf die poli­ti­sche Elite ver­bun­den mit der Macht­frage, wer in die­sem Streit wohl die Deu­tungs­ho­heit inne­hat. Diese ver­schie­de­nen Befind­lich­kei­ten kamen im März 2021 noch ein­mal zum Tra­gen. Inmit­ten der Debat­ten um Erin­ne­rung an Shoah und deut­schen Kolo­nia­lis­mus gab eine Gruppe von jüdi­schen und nicht­jü­di­schen Wis­sen­schaft­lern eine Erklä­rung ab, in der sie Anti­se­mi­tis­mus so defi­nie­ren, dass diese Neu­de­fi­ni­tion mit pro­gres­si­ver Poli­tik über­ein­stim­men kann. Da die Initia­tive die­ser Erklä­rung vom Jeru­sa­le­mer Van-Leer Insti­tut aus­ging, wurde sie dann auch die „Jeru­sa­le­mer Erklä­rung zum Anti­se­mi­tis­mus“ genannt.

Wie die Autorin­nen und Autoren selbst beto­nen, ist sie im Geist der All­ge­mei­nen Erklä­rung der Men­schen­rechte geschrie­ben, also ein Ver­such, das Phä­no­me­non des Anti­se­mi­tis­mus all­ge­mein und nicht par­ti­ku­lar zu erklä­ren. Gleich im Ers­ten Arti­kel wird dann auch Anti­se­mi­tis­mus dem Ras­sis­mus unter­ge­ord­net, in einem spä­te­ren Teil wird auch klar zwi­schen Anti­se­mi­tis­mus und Anti­zio­nis­mus unter­schie­den und auch Boy­kott als legi­ti­mer Wider­stand beschrie­ben, der nicht unbe­dingt anti­se­mi­tisch sein muss. Und wört­lich heißt es in Arti­kel 13: „Daher ist der, wenn­gleich umstrit­tene, Ver­gleich Isra­els mit his­to­ri­schen Bei­spie­len ein­schließ­lich Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus oder Apart­heid nicht per se antisemitisch.“

Damit unter­wer­fen sich die Ver­fas­ser einer bestimm­ten poli­ti­schen Ansicht über Anti­se­mi­tis­mus, Ras­sis­mus, Zio­nis­mus und Anti­zio­nis­mus. Sie ist natür­lich keine wis­sen­schaft­li­che Defi­ni­tion von Anti­se­mi­tis­mus. Sie behaup­tet das auch nicht von sich, son­dern dient als poli­ti­sche Gegen­rede zu einer Defi­ni­tion des Anti­se­mi­tis­mus, die von den Autorin­nen und Autoren hier abge­lehnt wird. Diese Defi­ni­tion, die soge­nannte IHRA-Defi­ni­tion zum Anti­se­mi­tis­mus von 2016, auf­ge­setzt von der Inter­na­tio­nal Holo­caust Remem­brance Alli­ance, einer 1998 gegrün­de­ten zwi­schen­staat­li­chen Ein­rich­tung, ist das eigent­li­che Feind­bild der „Jeru­sa­le­mer Erklä­rung“. Dort heißt es: „Anti­se­mi­tis­mus ist eine bestimmte Wahr­neh­mung von Juden, die sich als Hass gegen­über Juden aus­drü­cken kann.“

Des Wei­te­ren besteht ein star­ker Bezug zu Israel, ja rückt die Isra­el­kri­tik in Rich­tung Anti­se­mi­tis­mus – sie­ben der elf Bei­spiele bezie­hen sich auf Israel. Auch diese Defi­ni­tion ist natür­lich nicht wis­sen­schaft­lich, son­dern eine poli­ti­sche Erklä­rung, eine These zur Jeru­sa­le­mer Anti­these. Die IHRA-Arbeits­de­fi­ni­tion ist israel­be­zo­gen, sieht Anti­se­mi­tis­mus und Isra­el­feind­schaft als sich gegen­sei­tig kon­sti­tu­ie­rende Phä­no­mene. Diese Arbeits­de­fi­ni­tion ist Grund­lage für viele Staa­ten, wie sie offi­zi­ell Anti­se­mi­tis­mus zu defi­nie­ren haben. So auch der Beauf­tragte der Bun­des­re­gie­rung für jüdi­sches Leben in Deutsch­land und den Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus, Felix Klein, der sich in einer offi­zi­el­len Erklä­rung dafür ein­setzte, die IHRA zur Grund­lage staat­li­chen Han­delns in Fra­gen des Anti­se­mi­tis­mus zu machen. Poli­tisch gilt sie als Erfolg.

Das Pro­blem mit bei­den Defi­ni­tio­nen ist, dass das Objekt ihrer Beschrei­bung im Dun­keln bleibt. Die IHRA-Defi­ni­tion spricht von „einer bestimm­ten Wahr­neh­mung von Juden“, wäh­rend die Jeru­sa­le­mer Erklä­rung gleich im Arti­kel 1 erklärt: „Es ist ras­sis­tisch zu essen­tia­li­sie­ren“. Stimmt das über­haupt? Ist es ras­sis­tisch zu essen­tia­li­sie­ren? Wenn das in der Tat so ist, wer ist dann der Jude oder die Jüdin, von denen die bei­den Defi­ni­tio­nen spre­chen. Auch bei der IHRA ist das so. Ist es in der Tat anti­se­mi­tisch, eine bestimmte Wahr­neh­mung von Juden zu haben? Warum sollte man keine bestimm­ten Wahr­neh­mun­gen über Juden haben, wenn Juden doch bestimmte Men­schen sind?

Um was geht es in der Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen die­sen bei­den Defi­ni­tio­nen eigent­lich? Man erkennt einen inner­jü­di­schen Dis­kurs zwi­schen den bei­den Zen­tren jüdi­schen Lebens, Israel und die USA. Auf der einen Seite die Israe­li­sie­rung der jüdi­schen Welt, wie der Staat Israel sich auch als der Natio­nal­staat des jüdi­schen Vol­kes ver­steht. Das bedeu­tet dann die Israe­li­sie­rung des Anti­se­mi­tis­mus. Hier geht es um das Par­ti­ku­lare, wie es auch in der Selbst­de­fi­ni­tion Isra­els als jüdi­scher und demo­kra­ti­scher Staat aus­ge­drückt wird. Auf der ande­ren Seite die Ame­ri­ka­ni­sie­rung des jüdi­schen Lebens, die sich uni­ver­sal an Men­schen­rech­ten ori­en­tie­rend, Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus zusam­men­den­ken zu wol­len. Es ist auch ein inner­jü­di­scher Dis­kurs zwi­schen den­je­ni­gen, die sich eher distan­ziert und kri­tisch zu dem Staat Israel posi­tio­nie­ren und in ihrem Dia­spo­ra­ju­den­tum eine ethi­sche Posi­tion sehen, und den­je­ni­gen, für die Israel eine Hei­mat gewor­den ist, auch wenn sie nicht dort leben. Die­ser inner­jü­di­sche Dis­kurs trifft dann auf deut­sche Befind­lich­kei­ten, die mit dem Begriff his­to­ri­scher Ver­ant­wor­tung argu­men­tie­ren und für die Isra­els Sicher­heit Staats­rä­son ist. Aber nicht nur deut­sche Befind­lich­kei­ten ste­hen hier auf dem Spiel, son­dern auch sol­che, die von außen kom­men und dann auf deut­sche, inner­jü­di­sche und nah­öst­li­che Wirk­lich­keits­be­schrei­bun­gen tref­fen. All dies ist nun in den gewalt­vol­len und auch anti­se­mi­tisch kon­no­tier­ten Demons­tra­tio­nen wäh­rend des letz­ten Gaza-Krie­ges in Israel im Mai 2021 auf­ge­bro­chen. Nicht um soge­nann­ten impor­tier­ten Anti­se­mi­tis­mus geht es hier, son­dern um viel­di­men­sio­nale Wahr­neh­mung eines Phä­no­mens, das den Namen Anti­se­mi­tis­mus trägt und kein mono­li­thi­sches Kon­zept ist.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 07-08/2021.

Von |2021-07-13T13:24:26+02:00Juli 1st, 2021|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

Anti­se­mi­tis­mus ist …?

Ein Kon­sens über Israel exis­tiert nicht mehr 

Natan Sznaider ist Professor für Soziologie in Tel Aviv. Sein Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung: Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus“ ist dieses Jahr im Hanser Verlag erschienen.