Soziale Ungleichheit, Klassenbegriff, neue Mittelklasse – über dies und mehr spricht Peter Kuleßa mit dem Soziologen und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz.
Peter Kuleßa: Herr Reckwitz, worin unterscheidet sich für Sie die soziale Ungleichheit im 20. Jahrhundert von der im beginnenden 21. Jahrhundert?
Andreas Reckwitz: Wenn man es in diesem größeren historischen Rahmen sieht, zeigt sich, dass sich die westliche Sozialstruktur in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt hat. Vergleicht man die klassische Industriegesellschaft – die industrielle Moderne der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre hinein – mit dem, was man spätmoderne Gesellschaft nennen könnte – wie sich das seit den 1980er bzw. 1990er Jahren entwickelt hat –, dann kann man feststellen, dass wir eine Auseinanderentwicklung der Lebenswelten von sozialen Gruppen beobachten. Für die industrielle Moderne war – zugespitzt formuliert – das Modell der nivellierten Mittelstandsgesellschaft in vielerlei Hinsicht durchaus treffend, um die Verhältnisse zu beschreiben: also eine verhältnismäßig große Egalität und kulturelle Homogenität mit einer großen Mittelschicht im Zentrum.
Aber seit den 1980er Jahren beobachten wir eine Ausdifferenzierung der Sozialstruktur. Sehr präsent war in den letzten Jahren die soziologische „Entdeckung“ einer neuen Oberklasse – das berühmte oberste ein Prozent mit exorbitantem Vermögen. Ich möchte jedoch betonen, dass es auch innerhalb der 99 Prozent eine neue, in sich widersprüchliche Dynamik gibt. Vor dem Hintergrund der großen alten Mittelklasse findet eine Art Paternostereffekt statt: eine Parallelität von Aufstiegs- und Abstiegsprozessen, von Aufwertungs- und Abwertungsprozessen.
Was meinen Sie damit?
Auf der einen Seite beobachten wir den Aufstieg einer neuen, sehr gut ausgebildeten Mittelklasse, die gewissermaßen aus der alten Mittelklasse emporsteigt, die Trägerin des kognitiven Kapitalismus, auf der anderen Seite den Abstieg einer neuen prekären Klasse, der neuen Unterklasse, die „Service Class“. Es ergibt sich so eine neue Polarität zwischen sogenannten Hoch- und Niedrigqualifizierten, vor allem im postindustriellen Sektor. Zwischen ihnen existiert weiterhin eine traditionelle Mittelklasse, die aber durch diese Entwicklung um sie herum ihren Status verändert. Kennzeichnend für die spätmoderne Sozialstruktur ist also eine Dreier-Konstellation – plus der Oberklasse an der Spitze.
Der Klassenbegriff ist ein alter Begriff, was meinen Sie genau, wenn Sie von diesen Klassen sprechen, und auf welcher Ebene ist die Ungleichheit zu beobachten?
Den Klassenbegriff verwende ich in einem postmarxistischen Verständnis. Auf drei Ebenen unterscheiden sich die Klassen voneinander: Ressourcen; alltägliche Lebensführung; Macht, Einfluss und Prestige. Was in der klassischen Ungleichheitsforschung immer sehr betont wurde, ist die Entwicklung der Einkommens- und der Vermögensverhältnisse. Dass es da Auseinanderentwicklungen gibt, ist unstrittig – Stichwort Gini-Koeffizient. Aber um die Parallelität von Aufstiegs- und Abstiegsprozessen begreifen zu können, ist zentral, dass die Kultur dabei eine wichtige Rolle spielt, und zwar auf allen drei Ebenen. Es handelt sich um Differenzen auf der Ebene der Praktiken und Werte der alltäglichen Lebensführung, um Differenzen auf der Ebene des kulturellen Kapitals, das heißt der Bildung, sowie um Differenzen auf der Ebene des kulturellen Einflusses und des symbolischen Status in der Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund erkennt man, dass die neue Mittelklasse, die Trägerin der Wissensökonomie, in vieler Hinsicht einen Aufstiegsprozess gar nicht unbedingt auf der Ebene des Einkommens, sondern auf der Ebene der Kultur erlebt.
Und auf der anderen Seite?
Dort sehen wir einen radikalen Gegensatz zur neuen prekären Klasse, der neuen Unterklasse. Dort hat man nicht nur ein geringes Einkommen und Vermögen, sondern auch ein geringes kulturelles Kapital. Und man ist Objekt bestimmter symbolischer Entwertungsprozesse. Die symbolischen Aufwertungs- und Abwertungsprozesse sind – neben den Fragen von Einkommen und Vermögen – aus meiner Sicht fundamental, um die spätmoderne Sozialstruktur zu begreifen. Die neue Mittelklasse ist hier in vielerlei Hinsicht ein gesellschaftliches Leitmilieu, das zentrale kulturelle Werte der spätmodernen Gesellschaft trägt und dort hineintransportiert, etwa Normen wie Flexibilität, Selbstunternehmertum, Kreativität, Mobilität, lebenslanges Lernen. Aber auch solche wie Gesundheitsbewusstsein oder emotionale Kompetenz sind dort anzutreffen.
Die neue Unterklasse oder neue prekäre Klasse ist ein Objekt einer spiegelbildlichen kulturellen Entwertung. Ihr Lebensstil erscheint nicht mehr viel „wert“. Sowohl die Arbeiten, die dort getan werden, die körperlichen Routinetätigkeiten, die Normalisierungsarbeit, erscheinen sehr unspektakulär und sind gesellschaftlich bei Weitem nicht so anerkannt wie die Wissensarbeit. Aber auch was die alltäglichen Lebensstile angeht: das Verhältnis der Geschlechter, das Verhältnis zum Körper, das Verhältnis zur Gesundheit. Auch hier erscheint die neue Unterklasse als ein Ort dessen, was in der Gesellschaft nicht mehr wertvoll, ja problematisch erscheint. Das ist das Thema eines Unterschichtsdiskurses, den man seit den 2000er Jahren beobachten kann.
Warum ist diese neuere Mittelklasse in einer gewissen Weise so wirkmächtig für Diskurse?
Die Postindustrialisierung der Ökonomie und die Bildungsexpansion spielen dafür eine wichtige Rolle. Sie haben beide die neue Mittelklasse ins Zentrum der Gesellschaft katapultiert. Wir erleben schon seit den 1970er Jahren einen Abschied von der klassischen Industriegesellschaft. Noch Anfang der 1970er Jahre in Westdeutschland hat die Hälfte der Erwerbstätigen im Industriesektor gearbeitet, und dies war kulturell prägend. Danach fand jedoch eine Postindustrialisierung und auch Deindustrialisierung statt, eine Erosion der klassischen Industrieberufe und Industrietätigkeiten.
Die Industriearbeiterinnen und -arbeiter waren ja prägend für das 20. Jahrhundert und insbesondere Adressatinnen und Adressaten sozialdemokratischer Politik. Gibt es diesen Arbeiter bzw. diese Arbeiterin nicht mehr oder finden wir heute nicht mehr die richtige Ansprache für all jene, die in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen leben?
Tatsächlich war der Industriearbeiter nicht nur eine politisch einflussreiche Größe, er erschien in der industriellen Moderne auch kulturell von Wert. Diesen Stellenwert hat er seit den 1970er Jahren verloren.
Aber auch die Wissensarbeiterinnen und -arbeiter sind im Kern doch Arbeitende?
In einem marxistischen Sinne würde man das so sagen. Es sind schließlich keine Personen, die über Produktionsmittel verfügen, es sind meistens abhängig Beschäftigte. Aber entscheidend ist doch die Frage, ob sie ein gemeinsames Arbeiterbewusstsein oder Kollektivbewusstsein mit Personen in den sogenannten einfachen Serviceberufen haben. Und da spricht alles dagegen. Die Hochqualifizierten ziehen ihr Selbstbewusstsein aus kognitiver Arbeit, sie vertreten häufig auch globalistische und liberale Werte. Und auf der anderen Seite, wo es relativ stark körperliche Arbeit gibt – eigentlich das Erbe der Working Class –, also in den Serviceberufen, in den einfachen Dienstleistungen, haben wir in der Regel nicht mehr das positive Klassenbewusstsein, wie man das aus der klassischen Working Class Culture kennt. Wenn man sich dort als Klasse versteht, dann negativ.
Fehlt es vielleicht nicht gerade auch an einer kulturellen Übersetzung dieser sogenannten einfachen Arbeiterberufe hinein in Romane, auf die Theaterbühnen oder in moderne Lieder?
Offenbar fehlt es dieser Form von Arbeit in der postindustriellen Kultur an Anziehungskraft, an positiver Identifikationskraft. Das war in der klassischen Arbeiterkultur anders. Es gab dort das Bewusstsein, dass körperliche Arbeit gewissermaßen die Gesellschaft trägt. Das Bewusstsein: „Wir sind die Basis der Gesellschaft. Wenn wir streiken, dann steht die ganze Gesellschaft still.“ Die Arbeit selber war anstrengend und repetitiv, aber sie konnte im Zuge sozialistischer und gewerkschaftlicher Bewegung doch eine gewisse Identifikationskraft ausüben, auch als Ort von Solidarität. Das reichte bis in die intellektuelle Sphäre hinein, die in dieser Arbeiterkultur etwas Positives gesehen hat, man denke etwa an die „Arbeiterliteratur“ in den 1970er Jahren in Westdeutschland. Das hat sich radikal geändert. Das Problem der Service Class heute ist häufig, dass es eine unsichtbare Arbeit ist. Wenn dann doch diese Form von Arbeit in kulturellen Diskursen oder kulturellen Repräsentationen vorkommt, dann eher als ein Objekt des Mitleids, die zu schlecht behandelt wird. Der Stolz der alten Arbeiterklasse ist jedenfalls dahin. Man sieht es z. B. in der Literatur: Die Protagonisten von den meisten Büchern der Gegenwartsliteratur bewegen sich in der neuen Mittelklasse. Es gibt zwar einen kleinen Boom von autobiografischen Texten, in denen eine Unterklassenherkunft thematisiert wird, etwa die Bücher von Didier Eribon oder Édouard Louis oder auch das jüngste Buch von Christian Baron. Aber dieses Herkunftsmilieu erscheint dort als defizitär, zumindest ambivalent – man ist froh, ihm entronnen zu sein.
Vielen Dank.