Seit mehr als 100 Jahren setzt sich die Arbeiterwohlfahrt (AWO) für bedürftige Menschen ein: Menschen, die arm sind, erkrankt, sich im Kindesalter befinden oder ihren Lebensabend vor sich haben. Die AWO kümmert sich um Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, die mit einer Behinderung leben oder deren Leben schlicht und einfach aus der Balance geraten ist. Es geht dabei immer um die Unterstützung von Menschen in ihrem Willen nach einem selbstbestimmten Leben – den Widrigkeiten der Lebensumstände zum Trotz. „Teilhabechancen für alle schaffen“ ist keine Floskel, sondern wird gelebt.
Gegründet wurde die AWO 1919 von der Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Marie Juchacz, zunächst noch als „Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt in der SPD“. Angesichts der elenden Lage der arbeitenden Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg organisierten Marie Juchacz und ihre Mitstreitenden günstige Mittags-tische, halfen durch Beratungen und bauten Nähstuben und Werkstätten zur Selbsthilfe auf. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sollten nicht einfach in ein caritatives Hilfssystem eingegliedert und als Bedürftige versorgt werden, sondern durch Partizipation und ehrenamtliches Engagement in ihren eigenen Strukturen Solidarität und Selbstermächtigung erfahren. Anders als bei den anderen damaligen Wohlfahrtsvereinigungen sollten Bedürftige keine Bittsteller und Objekte eines äußeren Willens sein, sondern sich als handelnde Subjekte selbst in die Organisation einbringen können: Hilfe zur Selbsthilfe, von Arbeitenden für Arbeitende – und kein bloßes Empfangen von Almosen.
Wenngleich sich die Ausrichtung auf die Situation der deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die Verbindung zu einer Partei im Laufe der Geschichte aufweichte, ist der Anspruch der gleiche geblieben. Die AWO ist dort, wo sie gebraucht wird. Sie versteht die sozialen Probleme der Menschen als Auftrag zum einen ganz konkret in den Einrichtungen für sie da zu sein und zum anderen sich darüber hinaus politisch für ihre Interessen stark zu machen. Den Aufstieg möglich machen war ein zentraler Grundsatz – und er sollte auch wieder mehr in den Mittelpunkt unseres Handelns rücken.
In den mehr als 18.000 Einrichtungen, darunter Alten- und Pflegeheime, Kindertagesstätten, Behinderteneinrichtungen, Weiterbildungszentren und Beratungsstellen, bekommen unsere Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen die alltäglichen Probleme, Sorgen und Ängste der Menschen mit. Finanzielle Sorgen, Wünsche nach einem Altern in Würde und Angst vor Abschiebung sind eng mit dem Aufbau unserer Gesellschaft verwoben. Wollen wir effektive Wohlfahrts- und Sozialarbeit leisten, müssen wir uns mit dieser Gesellschaft auseinandersetzen und für eine Verbesserung des Sozialstaates und eine soziale Demokratie kämpfen. Bei diesem Vorhaben geht es nicht ohne die Menschen, die diese Werte leben. Über 230.000 hauptamtliche Mitarbeitende sind es, die sich Tag für Tag in die AWO einbringen. Selbstbewusst können und sollten wir daher vermitteln, dass es eine Bedeutung hat, für die AWO zu arbeiten. Landläufig spricht man vom sogenannten Arbeitsethos. Und ich meine genau das. Wir erleben es im Zuge der Pandemie Tag für Tag, wie die Mitarbeitenden etwa in der Pflege oder in den Kindertageseinrichtungen Großes leisten. Vielen der Beschäftigten sind der Sinn ihrer Arbeit und das Arbeitsklima von sehr großer Bedeutung. Das geschenkte Lächeln als Anerkennung ist mitnichten ein Klischee.
Ohne Ehrenamt keine AWO. Das mag zugespitzt klingen, aber trifft den Kern des Selbstverständnisses. Über 80.000 ehrenamtliche Engagierte bringen sich ein für ein solidarisches Miteinander, statt nur auf sich selbst und ihr persönliches Auskommen zu schauen; wirken mit, um eine vitale Zivilgesellschaft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Das ist nicht selbstverständlich, aber unersetzbar. In unserer auf Nutzen und Effizienz getrimmten Welt wird das freiwillige Engagement hinter vorgehaltener Hand belächelt. Im schlimmsten Falle werden Engagierte z. B. in der Flüchtlingsarbeit aggressiv angegangen. Beides ist unanständig. Wir brauchen eine breitere Kultur der Anerkennung bürgerschaftlichen Engagements und kein arrogantes Herabblicken auf jene, die sich engagieren.
Es ist heute notwendiger denn je, Politik, Wirtschaft und Kultur auf den Wert der Sozialen Arbeit offensiv hinzuweisen. Wir können und müssen als AWO dabei weiter den Dialog mit Kulturschaffenden suchen. Was können wir etwa von Musikerinnen, bildenden Künstlern, Schauspielerinnen oder Literaten für unsere Arbeit lernen und was können wir diesen Menschen über unser Wirken und Tun vermitteln? Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass ein derartiger Dialog für alle Beteiligten fruchtbar ist. Es freut mich daher sehr, dass wir mit dem Deutschen Kulturrat gemeinsam einen Themenschwerpunkt in der vorliegenden Ausgabe entwickelt und umgesetzt haben.
Das Coronavirus hat uns noch immer fest im Griff. Wenngleich es beim Impfen langsame Fortschritte gibt, bleibt die Frage, wie sich das soziale Miteinander langfristig entwickeln wird. Denn mittlerweile tritt die soziale Dimension der Pandemie deutlich zutage: Unterprivilegierte Menschen sind ungleich stärker getroffen. Konkrete und niedrigschwellige Hilfsangebote innerhalb Deutschlands bedürfen der Verbesserung; der Impfstoff muss global gerechter verteilt werden. Noch ist auch nicht absehbar, inwieweit die Folgen der Pandemie die zahlreichen Kultureinrichtungen im Großen wie im Kleinen vor Ort in ihrer Existenz gefährden. Ein gutes Gefühl habe ich offen gestanden nicht. Wir als AWO möchten im Rahmen unserer Möglichkeiten im Quartier versuchen zu helfen, damit die kulturelle Vielfalt erhalten bleibt. Ich stimme der oftmals geäußerten Ansicht zu, wonach Kultur eine Art Grundnahrungsmittel und keineswegs nur reines Genussmittel ist. Musik, Malerei, Literatur oder Schauspielerei haben einen unschätzbaren Wert für ein soziales und demokratisches Gemeinwesen. Dies erfordert natürlich auch eine entsprechende Abbildung der realen Lebensverhältnisse in dieser Kunst. Es ist daher gut, wenn Bilder, Fotos, Bühnenstücke oder Bücher virulente Themen des Lebensalltags aller Menschen aufgreifen. Eine breite kulturelle Abbildung der Lebensverhältnisse wünsche ich mir, der Fokus dieses Hefts auf die „Arbeiterkultur“ ist dafür ein guter Anfang. Denn: Das soziale und kulturelle Miteinander ist für uns kein Gegensatz, sondern sind zwei Seiten derselben Medaille.