m Windschatten der Auseinandersetzung um das Humboldt Forum und die Raubkunst wird noch eine andere Debatte geführt, die dort immer schon gärte, aber lange keine Beachtung fand: Wie halten wir es eigentlich mit unserer kolonialen Vergangenheit? Welche Rolle spielt sie für unser nationales Gedenken? Man hat das lange für eine akademische Frage gehalten. Die Kolonialzeit war viel zu kurz, um sich im kollektiven Gedächtnis einzuprägen und mit den schmerzhaften Prozessen der Dekolonisierung hatte unser Land zum Glück wenig zu tun. Gleichwohl gab es immer eine ernsthafte Beschäftigung der Zeithistoriker und Ethnologen mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte und spätestens seit dem Erscheinen von Gérard Leclercs Buch über Anthropologie und Kolonialismus war das Thema auch in Deutschland gesetzt. Die Debatte um Edward Said kam etwas später hinzu.
Der Vorwurf geht also ziemlich ins Leere, wir hätten uns vor dem Thema gedrückt. Auch den Völkermord an den Herero und Nama hat die seriöse Wissenschaft nicht ignoriert. Ihn aber mit dem Holocaust zu vergleichen hätte man wohl als unzulässig empfunden. Von „Opferkonkurrenz“ redet man heute. Allein dieses Wort geht nur schwer über die Lippen, was aber nicht heißt, keine Parallelen ziehen zu dürfen. Auch dieser Vorwurf ist eher polemisch. Von Sachkenntnis zeugt er jedenfalls nicht.
Trotzdem wird er erhoben. Lautstark sogar. „Enttabuisiert den Vergleich!“ haben der Historiker Jürgen Zimmerer und der Literaturwissenschaftler Michael Rothberg in der „Zeit“ jetzt gefordert. Sie wollen das „Gedenken pluralisieren“ und die deutsche Erinnerungslandschaft entgrenzen. „Multidirektionale Erinnerung“ hat Michael Rothberg dieses Verfahren genannt, was sprachlich so abschreckend klingt, dass man sich damit gar nicht befassen möchte. Man sollte es in jedem Fall tun. Im akademischen Raum rennen die Autoren freilich weit geöffnete Türen ein. Denn was macht man dort seit Langem schon anderes, als globalhistorische Fragen zu stellen. Transnationale Geschichtsschreibung heißt das in Deutschland; die Franzosen sprechen von „histoire croisée“; und die „Global History“ ist längst zu einer etablierten Forschungsrichtung geworden. Die Grundlagen für ein transnationales Gedenken sind also gelegt. Und Auschwitz ist heute zu einem universalen Referenzpunkt geworden.
Aber darum geht es den beiden Autoren gar nicht. Ihr Angriff zielt auf die deutsche Erinnerungskultur, die sie für „provinziell“ und unzeitgemäß halten. Im Grunde meinen sie reaktionär. Das habe mit dem Ignorieren gesellschaftlicher Veränderungen zu tun, aber auch mit der „unkritischen Rettung einer europäischen Moderne“. Was im Klartext wohl heißen soll: Die besondere, die singuläre Bedeutung des Holocaust hat im postkolonialen Diskurs ausgedient; die Beschäftigung mit ihm wird Teil einer „multidirektionalen“ Erinnerung. Die Rede vom Zivilisationsbruch umfasst auch den Kolonialismus; eigentlich ist er das „Master Tape“.
Man sollte an dieser Stelle mit der Wortwahl vorsichtig sein. Aber die stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien in München, Andrea Löw, hat sofort die alte Habermas-Formel in Anschlag gebracht: dass es „keine Art Schadensabwicklung“ in dieser Frage geben könne – auch nicht durch die akademische Hintertür. Das werden die genannten Autoren weit von sich weisen. Aber erste Bruchstellen zeichnen sich ab. Von „white on white crime“ ist längst schon die Rede, wenn man im postkolonialen Diskurs vom Holocaust spricht.
Andrea Löw hält die Notiz des Lehrers Abraham Lewi aus dem Warschauer Ghetto dagegen, der 1942 in sein Tagebuch schreibt: Niemals habe die Geschichte eine „größere Zerstörung einer ethnischen oder nationalen Bevölkerung gesehen“; täglich rollten die Züge aus Warschau. Es gibt Tausende ähnlicher Dokumente; sie sind eine erdrückende Last. Aber es bedarf dieser endlosen Kasuistik nicht mehr. Die Beweisaufnahme ist hoffentlich abgeschlossen. Es geht mehr um die schlichte Erkenntnis, dass Erinnerung dort am schmerzhaftesten wird, wo sie konkret, ja persönlich ist; wo es um Menschen geht, deren Namen kaum jemand mehr kennt. Das ist – bei aller Kritik – das Momentum der Stolpersteine.
„Nichts bleibt von ihm“, schreibt Primo Levi über den kleinen Hurbinek, der nie einen Baum gesehen hatte. „Er legt Zeugnis ab durch diese meine Worte.“ Das ist der tiefste, berührendste Grund, warum wir von Singularität sprechen müssen. Jedes Leben steht für sich selbst. Davon kann man nicht abstrahieren. Und es gilt immer noch, was Friedrich Nietzsche in seiner Genealogie der Moral formuliert: „Nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis.“
Es ist schon ein ungeheurer Vorwurf, dieser Art des Gedenkens den Stempel der Provinzialität aufdrücken zu wollen. Was, so fragt Thomas Schmid völlig zu Recht, wäre eigentlich das Gegenteil. Man muss es gar nicht so flapsig sagen, wie geschehen: Aber den Kessel Buntes brauchen wir nicht. Der Vorwurf der Provinzialität zielt auch nicht auf die Opfer, er hat die deutsche Verantwortung im Visier; mehr noch: deren Bedeutung für das nationale Gewissen. Von Schuldkult reden die Revisionisten. Bei Rothberg und Zimmerer hört sich das komplizierter an. Die viel gepriesene deutsche Erinnerungskultur unterläge ihrer Meinung nach der irreführenden Annahme, dass zur „Übernahme der Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen ein Festhalten an derselben ethnischen Identität, demselben Volksbegriff notwendig“ sei, die „den Verbrechen des Nationalsozialismus zugrunde lagen.“ Schmid übersetzt lapidar: Wer den „Holocaust als einzigartig bezeichnet, unterliegt damit der nationalsozialistischen Ideologie“.
Es ist nicht sonderlich neu, Au-schwitz zum negativen „Gründungsmythos“ der Bundesrepublik zu erklären. Das haben schon andere getan. Aber ihn jetzt auch noch ethnisch oder gar völkisch umdeuten zu wollen, ist wirklich fatal. Auch wenn im Strom, der sich durch die deutsche Erinnerungslandschaft zieht, sicher so manches Treibgut mitschwimmt, auf das man gerne verzichten will.
Es haben deshalb viele, die Deutschland einst verlassen mussten, abgelehnt, sich dieser deutschen Erinnerungsgemeinschaft jemals wieder zugehörig zu fühlen. Als zwei deutsche Journalisten den in Princeton lehrenden Kunsthistoriker Erwin Panofsky nach seiner Exilerfahrung befragen wollten, hat er das Interview abgelehnt. Unter dem Titel „Um uns die Fremde“ würde er sich deplatziert fühlen. Er sei längst schon Teil der amerikanischen akademischen Welt und habe sie über drei Jahrzehnte mitgeprägt. Kühler kann man eine Absage nicht formulieren. Barbara Picht hat von dieser Episode berichtet und ihr Buch den „Erzwungenen Ausweg“ genannt.
„Es gibt keinen gemeinsamen Grund, auf dem wir gehen“ sagt der in Mannheim geborene und heute in Tel Aviv lehrende Soziologe Natan Sznaider. Aber die Frage stellt sich auch ihm, wie wir „die Welten der Untergegangenen und Geretteten“ wieder miteinander verbinden können; wie eine gemeinsame Erzählung aussähe, die so verschiedene Schicksale und Lebenswege miteinander vereint. Von einer Meistererzählung hätten die Historiker früher gesprochen.
Ich habe lange geglaubt, der unmäßige Widerstand gegen das Humboldt Forum habe etwas damit zu tun; mit der Sorge vor restaurativen Tendenzen, der Abneigung gegenüber Pickelhauben, Kuppelkreuzen und dem preußischen Erbe. Doch es wird dort gar nicht mehr nur über Vergangenes oder Exotisches verhandelt, sondern über den Zustand unserer tief fraktionierten Gesellschaft und die Aussichten einer mit sich selbst nicht versöhnten Nation.
Erinnerungen können nicht einfach ausgetauscht werden, sagt Sznaider. Es bedarf des partikularen wie des universalen Gedächtnisses. Man kann „das eine nicht ohne das andere verstehen“. Nichts anderes wäre die Ausgangsidee dieses Humboldt Forums gewesen. Doch sie wird gerade zu Schanden geritten.