Arbei­ter­kul­tur

Vor­wärts und nicht ver­ges­sen, worin unsere Stärke besteht! 

Gibt es noch eine Arbei­ter­kul­tur, war die erste Frage, die mir durch den Kopf schoss, als die Arbei­ter­wohl­fahrt mit der Idee auf mich zukam, gemein­sam einen Schwer­punkt zum Thema Arbei­ter­kul­tur für diese Zei­tung zu kon­zi­pie­ren. Ich dachte an Arbei­ter­lie­der, Arbei­ter­fo­to­gra­fie der 1920er Jahre, an Autorin­nen und Autoren, die über Not und Elend der Arbei­ter­klasse geschrie­ben haben, an Arbei­ter­thea­ter, Arbei­ter­filme wie „Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?“ aus den drei­ßi­ger Jah­ren. Mir kamen aus West­deutsch­land Doku­men­tar­filme aus den 1970er Jah­ren, der durch­aus umstrit­tene „Werk­kreis Lite­ra­tur in der Arbeits­welt“ und natür­lich die Bil­der von Jörg Immendorff wie „Wo stehst du mit dei­ner Kunst Kol­lege?“ aus den frü­hen sieb­zi­ger Jah­ren in den Sinn. Aus der DDR dachte ich an den Bit­ter­fel­der Weg, an Werk­tä­tige, die künst­le­risch arbei­ten und Künst­ler, die im ver­herr­li­chen­den Sozia­lis­ti­schen Rea­lis­mus das Arbei­ten glo­ri­fi­zier­ten. Aber gibt es heute noch Arbeiterkultur?

Schon der Begriff „Arbei­ter“ ist kaum mehr üblich. Heute ist die Rede von Arbeit­neh­mern und Arbeit­neh­me­rin­nen. In der Sozi­al­be­richt­erstat­tung wer­den die Fach­ar­bei­ter und -arbei­te­rin­nen von den unge­lern­ten Arbei­tern und Arbei­te­rin­nen unter­schie­den. In der Sozio­lo­gie wird eher von Milieus gespro­chen und der­zeit zehn ver­schie­dene Milieus unter­schie­den. Das Sinus-Insti­tut weist Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter dem tra­di­tio­nel­len Milieu zu und benennt dazu, dass als Kenn­zei­chen die Anpas­sung an die Not­wen­dig­kei­ten sowie zuneh­mende Resi­gna­tion und das Gefühl des Abge­hängt­wer­dens. Wo ist da eine starke, selbst­be­wusste Arbeiterkultur?

Arbei­ter­kul­tur ist stark mit den Gewerk­schaf­ten ver­bun­den. Sie tra­ten und tre­ten nicht nur für höhere Löhne und Gehäl­ter ein, son­dern auch für den Zugang zu Bil­dung und für Chan­cen­ge­rech­tig­keit. Die Ruhr­fest­spiele Reck­ling­hau­sen, die tra­di­tio­nell am 1. Mai eröff­net wer­den, gin­gen aus einer Soli­da­ri­täts­ak­tion von Berg­ar­bei­tern mit Ham­bur­ger Schau­spie­lern her­vor. Sie unter­stütz­ten 1948 die Schau­spie­ler mit Koh­len, die Schau­spie­ler dank­ten im Jahr dar­auf mit Auf­trit­ten in Reck­ling­hau­sen. Der Deut­sche Gewerk­schafts­bund ist nach wie vor Trä­ger des Fes­ti­vals, das in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten eine Reihe von Häu­tun­gen und Wand­lun­gen durch­ge­macht hat. Von der Haupt­ziel­gruppe Berg­ar­bei­ter wurde sich nicht nur des­halb ver­ab­schie­det, weil es keine Berg­ar­bei­ter mehr im Ruhr­ge­biet gibt, son­dern weil sich die Sozi­al­struk­tur ins­ge­samt radi­kal ver­än­dert hat.

In West­deutsch­land war es in den 1970er Jah­ren die SPD, die in den Bun­des­län­dern, in denen sie regierte, die Zugangs­mög­lich­kei­ten von Kin­dern und Jugend­li­chen aus dem Nicht-Aka­de­mi­ker-Fami­lien zu höhe­rer Bil­dung ermög­lichte. Ich selbst, der ich in Rhein­land-Pfalz an der hes­si­schen Grenze auf­wuchs, pro­fi­tierte von den hes­si­schen Bil­dungs­re­for­men und konnte nach der Haupt­schule meine Schul­lauf­bahn im dama­li­gen lin­ken Hes­sen fort­set­zen. Obwohl inzwi­schen ein wesent­lich grö­ße­rer Anteil an Schü­le­rin­nen und Schü­lern höhere Bil­dungs­ab­schlüsse erreicht, ist es nach wie vor so, dass Kin­der und Jugend­li­che von Aka­de­mi­ke­rin­nen und Aka­de­mi­ker eher Abitur machen und stu­die­ren als es bei Kin­dern und Jugend­li­chen der Fall ist, die aus einem nicht-aka­de­mi­schen Eltern­haus stammen.

Doch ist es tat­säch­lich ein unum­stöß­li­ches Ziel, dass Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter ihre „Klasse“ ver­las­sen wol­len? Ist es anstö­ßig, Arbei­ter oder Arbei­te­rin zu sein? Und wel­ches Bild von Arbei­te­rin­nen und Arbei­tern haben wir? Sind es die­je­ni­gen, die in der Auto­mo­bil­in­dus­trie arbei­ten und Ein­kom­men errei­chen, von denen man­cher Künst­ler oder man­che Künst­le­rin nur träu­men kann? Sind Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter, die­je­ni­gen, die in den Län­dern des glo­ba­len Südens unsere Klei­dung nähen, die hier zu Spott­prei­sen ver­schleu­dert wird? Sind es die Kin­der, die in afri­ka­ni­schen Minen unter schreck­lichs­ten Umstän­den Kobalt für die Lithium-Ionen-Akkus unse­rer Han­dys schür­fen. Oder sind es nicht auch jene, die bei ama­zon unter schwie­ri­gen Arbeits­be­din­gun­gen schuf­ten, die bei Paket­diens­ten sich jeden Tag die Hacken ablau­fen, die nachts Büros sau­ber machen, wenn sie nicht längst in Kurz­ar­beit geschickt oder ent­las­sen wur­den, weil viele Büros in der Corona-Krise ver­waist sind? Und Arbei­ten machen kein Homeoffice!

War Arbei­ter­schaft nicht immer schon mehr und dif­fe­ren­zier­ter als das Bild vom männ­li­chen Indus­trie­ar­bei­ter in der Berg­bau- oder in der Metall­in­dus­trie? Und heißt das nicht auch, dass die kul­tu­rell ver­mit­tel­ten Bil­der von Arbei­te­rin­nen und Arbei­tern nur einen Aus­schnitt abge­bil­det haben. In die­sem Schwer­punkt wird sich der Frage gewid­met, was Arbei­ter­kul­tur heute ist und wel­che Tra­di­tio­nen bestehen.

Ber­tolt Brecht und Hanns Eis­ler haben den berühm­ten Schluss­song für den Film „Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?“ geschrie­ben und kom­po­niert. Im Refrain heißt es: „Vor­wärts und nicht ver­ges­sen, worin unsere Stärke besteht! Beim Hun­gern und beim Essen, vor­wärts und nie ver­ges­sen: die Soli­da­ri­tät!“ Die­ses idea­li­sierte Arbei­ter-Bild ist bei uns Ver­gan­gen­heit, aber das bedeu­tet nicht, das es keine Arbei­ter mehr geben würde und mit ihnen auch keine Arbeiterkultur.

Ich danke sehr herz­lich der Arbei­ter­wohl­fahrt, nament­lich Peter Kuleßa, für die span­nen­den Dis­kus­sio­nen bei der Pla­nung des Schwer­punk­tes sowie für die Bei­träge, die bei­gesteu­ert wurden.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 05/2021.
Von |2021-05-25T10:55:39+02:00Mai 5th, 2021|Arbeitsmarkt|Kommentare deaktiviert für

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Vor­wärts und nicht ver­ges­sen, worin unsere Stärke besteht! 

Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber von Politik & Kultur.