André Herzberg, Frontmann der DDR-Band „Pankow“, konnte sich erst nach der Wende zu seiner jüdischen Identität bekennen. Ludwig Greven spricht mit ihm darüber, warum das für ihn eine Befreiung war, über Ekel vor Juden, und weshalb sich auch Freunde und Musiker-Kollegen schwer damit tun.
Ludwig Greven: „Sprich das Wort nicht aus. Vor allem sage niemals, du wärest so einer.“ So beginnt Ihr Roman „Was aus uns geworden ist“ über Ihr verdrängtes Jüdischsein. Sie sind in einer jüdisch-kommunistischen Familie aufgewachsen, waren Rockstar in der DDR. Wieso war es in Ihrer Familie und diesem Land, das sich als Anti-Nazi-Staat verstand, unmöglich darüber zu sprechen?
André Herzberg: Weil der Staat eine bestimmte Lesart des Faschismus hatte. Juden und andere von den Nazis Verfolgte kamen darin nur marginal vor. Der Kommunismus war die einzig anerkannte Form des Widerstands. Es ging nur um die Kämpfer, nicht die Opfer.
Ihre Mutter war wie Ihr Vater linientreue Kommunistin. Hat sie den jüdischen Teil in sich abgespalten?
Sie hat das nach außen nicht kommuniziert. Sie hat ohnehin mit wenig normalen Menschen kommuniziert. Es gab bei uns einen unausgesprochenen Code: Es gab „Vertraute“, meist Menschen, die auch im Exil gewesen waren. Wir wuchsen als Kinder dadurch mit Menschen auf, die wirkliche Kommunisten waren, also schon vor 1945, oder Juden oder – noch besser – beides. Dann war ein unsichtbares Band zwischen uns.
Lag dieses Verhalten an der kollektiven Erfahrung, als Juden schon immer fremd und ausgegrenzt zu sein, an den konkreten Erfahrungen im Nationalsozialismus oder auch am Antisemitismus in der DDR?
Da kam alles zusammen, auch der ganz offene Antisemitismus der DDR in Form der Feindschaft gegen Israel. Mein Vater war sehr stalinistisch, das war noch anders als bei meiner Mutter. Das habe ich erst später Stück für Stück für mich freigelegt. Bei ihr war es das Trauma ihrer persönlichen Geschichte. Sie konnte nur ins Exil, weil ein Verwandter Geld für sie in England hinterlegt hatte. Das bedeutete, dass ihre Mutter nicht mitkonnte. Sie fühlte sich deshalb schuldig, dass sie sie zurückgelassen hatte und sie nicht mehr da war, als sie zurückkam. Sie konnte in England als 17-Jährige ein neues Leben beginnen und hat das Schicksal ihrer Mutter, meiner Großmutter, verdrängt. Bis sie zurückkam und die ganze Wahrheit über den Holocaust klar wurde. Da fühlte sie sich umso schuldiger. Dieses Thema konnte gleich gar nicht besprochen werden, weder in der Familie, geschweige denn außerhalb. Das hätte meine Mutter vielleicht mit einer Therapie lösen können. Aber dafür gab es keinen Platz und Raum.
Warum sind Ihre Eltern nach dem Krieg ins Land der Täter zurückgekehrt, wenn auch in den östlichen, von der Sowjetunion befreiten, beherrschten Teil?
Meine Mutter hat es viel bereut und sehr damit gehadert. Mein Vater nicht. Ihm fiel es relativ leicht, der Order der Partei zu folgen, wohl auch deshalb, weil alle aus seiner Familie geflohen waren und überlebt hatten. Außerdem kam er aus Niedersachsen, aus einer Unternehmerfamilie, in dieses Arbeiterparadies. Für meine Mutter war unendlich hart all die Jahre immer wieder am Haus ihrer Eltern in Ostberlin vorbeizugehen. Aber sie ist zurückgegangen aus Überzeugung, aus Loyalität zur Partei, aus Treue zu ihrem Mann, weil er das gefordert hat. Und vielleicht auch deshalb, weil die Integration in die englische Gesellschaft für meine Eltern auch nicht leicht war, weil sie nicht studiert hatten. Sie haben sich ausgerechnet, in Ostberlin große Karrieren zu machen.
Ihre Mutter wurde Staatsanwältin, also Teil des SED-Apparats, der antisemitisch war.
Das wussten sie ja am Anfang noch nicht, als sie 1947 zurückkamen.
Wurden in Ihrer Familie jüdische Feste gefeiert? Gingen Sie in die Synagoge?
Meine Mutter ist mit mir selten, aber doch in die Synagoge gegangen, in der sie schon als Kind gewesen war, die es heute immer noch gibt. Aber meine Mutter hat immer ihre Ambivalenz dazu betont. Religiös, aber auch sich dazugehörig zu fühlen, bis dahin, dass sie für ostdeutsche Verhältnisse sehr fremd aussah, dunkles, lockiges Haar, eine starke Nase. Sie hatte das Klischee vom jüdischen Aussehen wohl sehr tief aufgenommen und hat es an sich selbst nicht gemocht. So wie Schwarze ihr Haar glätten, um nicht erkannt zu werden. Diese Art des angepassten Verhaltens hatte sie wohl schon von ihrer Mutter.
War sie Atheistin wie die meisten Kommunisten?
Ja, und das schien ja auch ganz logisch zu sein. Wenn es einen Gott gibt, dann hatte er ja sowieso versagt, weil er die Juden hat alle sterben lassen. Über die jüdische Religion hat sie nicht gesprochen, wohl aber über jüdische Regeln. Warum Juden koscher essen, was wir nicht getan haben. Sie hat viel aus der Bibel zitiert und erzählt, aber immer mehr aus einem kulturellen Kontext.
Haben Sie gedacht, na ja, meine Eltern sind halt Juden? Oder haben Sie das für sich angenommen? Oder erst sehr viel später?
Das Wort Jude wurde nicht benutzt, der Begriff war schon tabuisiert. Bestenfalls hat man mal ganz leise jüdisch gesagt. Wenn einer laut Jude gesagt hat, war das immer in einem antisemitischen Kontext. Ich habe das, soweit es ging, von mir geschoben, weil ich die ganze Brüchigkeit und Bedrohlichkeit dahinter gespürt habe. Und ich wollte ja eine normale, schöne Kindheit haben. Die Besuche in der Synagoge und alles, was damit verbunden war, habe ich als extrem unangenehm empfunden, weil meine Mutter sich so widersprüchlich verhalten hat. Dazu kam eine zunehmend antisemitische Umgebung, von meinen Mitschülern. Bei der Volksarmee war das sehr stark. Also habe ich versucht, das, soweit es ging, nach hinten zu schieben, in meine Albträume. Worüber man nicht spricht, was aber immer mitläuft.
Viele der Täter und Mitläufer auch in der DDR haben geschwiegen. In Ihrer Familie war die Ermordung Ihrer Großmutter in Auschwitz das Unaussprechliche. Weshalb?
Es war zentral, aber es wurde nicht darüber gesprochen. Wie sollte man das auch in Worte fassen? Dafür gab es keine Worte. Erfahren habe ich davon durch meine Tante, die wir erst nach Jahren entdeckt haben, die einzige Verwandte mütterlicherseits, die überlebt hatte. Wir haben sie in Erfurt besucht, da war ich zwölf, dreizehn. Sie hatte die Nummer auf dem Arm und hat erzählt, wie ihr Alltag in Auschwitz gewesen war. Das war für mich unfassbar. Das war wie ein Film – aber real. Meine Mutter hat mich gezwungen, mir das anzuhören. Damit war es in mir drin. Aber es musste bei mir bleiben. Ich konnte es niemandem weitererzählen. Die Gegengeschichte war: Ich hatte in unserem Haus einen Freund. In ihrem Wohnzimmer stand hinter Glas ein Foto seines Opas in Wehrmachtsuniform. Das war etwas zwischen uns, was nicht ausgesprochen wurde. Aber es war klar, damit ist eine Grenze zwischen uns. Darüber konnten wir nicht reden, auch in der Schule nicht. Das musste ich alles für mich behalten und mit mir ausmachen.
Was hat Sie dazu gebracht, sich nach der Wende zu Ihrem Jüdisch-sein zu bekennen und sich damit und Ihrer Familiengeschichte intensiv auseinanderzusetzen?
Es gab verschiedene Auslöser. Ich bin 1989 in den letzten Tagen der DDR das erste Mal in die USA gereist und habe dort in New York eine Aufschrift „Happy Hanuka“ gesehen, eine Gratulation zu einem jüdischen Feiertag. Das hat mich geradezu geschockt, dass man ein solches jüdisches Wort in den öffentlichen Raum stellt. Das war für mich bis dahin tabu, auch in der Bundesrepublik. Ich war ja dort als Musiker seit Mitte der 1980er Jahre häufiger. In Amerika tauchte es auf, und es war nicht mit dem Holocaust verbunden. Es war ganz normal, alltäglich, so wie „Fröhliche Weihnachten“. Für mich bedeutete das: Dann kannst du das auch sein, auch ohne über deine Großmutter zu sprechen und nachdenken zu müssen. Du kannst Jude sein, ohne dass du dich dafür schämst oder erschrecken musst. Später bin ich nach Israel gefahren. Da war das für mich noch viel stärker, da gab es ja lauter Juden um mich herum. Niemand scherte es, ob du Jude bist oder nicht. Sämtliche Erfahrungen von mir wurden durcheinander geworfen. Ich musste nicht mehr Nase und Ohren zuhalten und die Haare verdecken, durfte es aussprechen. Da begann ich, es immer mehr als ein Stück Normalität anzusehen. Auch die Frage, ob man religiös war oder nicht, spielte keine Rolle. Einfach: Du bist es, man kann auf tausend verschiedene Weisen Jude sein. Ich wusste ja nicht einmal die Definition, was ein Jude ist. Ich hatte die antisemitischen Definitionen in mir. Ich habe eine ganze Welt neu erlernt.
Was haben Sie auf dieser Entdeckungsreise in sich selbst gefunden?
Es war und ist in erster Linie ein Gefühl ungeheurer Befreiung. Ideo-logisch, kulturell, für meine Identität. Dass ganze Teile meines Seins nicht mehr im Dunkeln sind, dass ich frei damit umgehen kann. Dass das zu mir gehört und es keine blinden Flecken mehr gibt. Das ist wunderbar. Ich habe ja Kinder, und es ist mir gelungen, das ein Stück weit mit ihnen zu leben. Je mehr man es macht, umso schöner wird es.
Wie haben Ihre Freunde und Musiker-Kollegen auf Ihr Outing reagiert?
Schwierig.
Bis heute?
Ja. Jedenfalls die, die mich lange kannten. Die haben mich gefragt: Warum machst du das? Nicht alle. Es gab Einzelne, die mir gesagt haben, dass sie es gut finden. Aber es gab auch sehr viel Ablehnung, wahrscheinlich weil sie das Gefühl hatten, damit würde ich auch ihnen eine Last überhelfen. Es gibt auch Juden, die darauf ablehnend reagieren. Freunde, die ihre jüdische Identität immer noch ganz hinten lassen, weil es auch für sie kompliziert ist. Wenn die Eltern das auch beschwiegen haben, bedeutet das, ich muss mich mit meinen Eltern auseinandersetzen. Das ist für alle Menschen schwierig.
Wie hat Ihre Band reagiert?
Die wusste es immer. Wir haben schon zu DDR-Zeiten Dinge gemacht, die mit meiner Identität zu tun hatten. 1983, zum 50. Jahrestag der Machtergreifung der Nazis, gab es ein großes Konzert im Palast der Republik. Da bin ich als Wehrmachtssoldat aufgetreten und habe Parallelen zu den Mitläufern in der DDR gezogen.
Gab das nicht Riesenärger?
Die Fernsehübertragung wurde unterbrochen. Das wurde weggeschwiegen. Stress hatten wir und hatte ich aber immer. Auch immer mal wieder Auftrittsverbote.
In Ihrem Prolog schreiben Sie: „Niemand mag sie, niemand liebt sie, sie werden vielleicht manchmal bedauert, aber darunter kannst du die Verachtung, die Abscheu, ja, den Ekel spüren. Niemand will das, niemand hält das aus.“ Halten Sie das aus?
Das war ja vorher auch da, bevor ich es ausgesprochen habe. Wenn sie antijüdische Bemerkungen machen, machen sie das, ob du Jude bist oder nicht. Besser, sie wissen es von mir und trauen sich dann nicht mehr, es mir ins Gesicht zu sagen, oder trotzdem. Dann fühle ich mich davon nicht mehr so getroffen. Ich weiß, dass uns viele nicht mögen. Damit lebe ich.
Die sind eben irre, krank im Kopf. Das kann ich nicht ändern.
„Wenn du es vor ihnen zugibst, dann bleibst du allein“, schreiben Sie.
Was ich schon vorher gespürt, aber nicht so wahrgenommen habe: Man lebt in der Diaspora ziemlich einsam. Als Jude in Deutschland normal zu leben, ist schwierig. Wie auch unser Gespräch zeigt, wenn Deutsche und Juden miteinander reden, haben beide Seiten das Gefühl, nun müssen wir erst mal über den Holocaust sprechen. Für Juden in Deutschland bleibt immer eine Grenze. Schon, weil die Familiengeschichten so unterschiedlich sind. Manche Deutsche fragen: Wie loyal bist du überhaupt gegenüber diesem Staat? Bist du bereit, hier Steuern zu zahlen?
Nach der Wende gab es für Sie auch beruflich eine Krise. DDR-Musiker und -Gruppen war nicht mehr gefragt.
Es war schrecklich. Ich hatte Existenzängste. Ich war Mitte dreißig und wusste nicht, wie ich mein Leben weiter fristen sollte. Kann ich Künstler, Musiker bleiben? Das war in den ersten Jahren sehr bedrohlich. Ich brauchte lange, um das neue System, die neuen Regeln aufzunehmen und zu merken, ich lebe noch, es geht beruflich weiter.
Musikalisch haben Sie sich verändert. Sie machen mehr Jazz und Soul als Rockmusik.
Mal so, mal so. Ich habe die Verbindung zu meinen musikalischen Wurzeln nicht verloren und trete nach wie vor auch mit meiner Band Pankow auf. Ich mag sehr, was wir damals gemacht haben, Rock als unmittelbare, auch renitente Form in der DDR. Da hänge ich sehr dran. Aber ich habe noch zusätzliche musikalische Ausdrucksformen gefunden. Es ist schön, auch mal andere Wege zu gehen.
Vielen Dank.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2021.