Jüdi­sche Kul­tur in Deutschland

Yfaat Weiss im Gespräch

Lud­wig Gre­ven spricht mit der His­to­ri­ke­rin und Lei­te­rin des Leib­niz-Insti­tuts für jüdi­sche Geschichte und Kul­tur, Yfaat Weiss, über kul­tu­relle Viel­falt, was jüdi­sche Kul­tur prägt und wes­halb sie vie­len Nicht­ju­den als fremd erscheint

Lud­wig Gre­ven: Wenn von jüdi­scher Kul­tur die Rede ist, den­ken viele vor allem an Klez­mer-Musik, Marc Chagall, die frü­he­ren Schtetl in Ost­eu­ropa oder die jüdi­sche Reli­gion. Wes­halb die­ser ein­ge­engte Blick?
Yfaat Weiss: Ich halte das nicht für einen beschränk­ten Blick. Allein mit Chagall lernt man die ganze Welt ken­nen – die Reise beginnt in Russ­land, der Weg führt nach Paris, Ame­rika und zurück nach Europa. Dass man jüdi­sche Kul­tur beson­ders mit ost­eu­ro­päi­scher jüdi­scher Kul­tur ver­bin­det, ist nicht falsch. Schließ­lich gab es in Ost­eu­ropa eine große Kon­zen­tra­tion jüdi­schen kul­tu­rel­len Lebens, das durch den Natio­nal­so­zia­lis­mus und den Holo­caust zugrunde ging. Die Frage ist aller­dings, ob man in Deutsch­land dar­über hin­aus einen Blick für die jüdi­sche Kul­tur in ihrer Breite hat, wie sie heute gelebt wird. In den letz­ten Jahr­zehn­ten ent­stand zumin­dest ein gro­ßes Inter­esse an israe­li­scher Kul­tur und Lite­ra­tur, wie auch am israe­li­schen Thea­ter und Film, Kul­tur­ar­te­fakte, die in Israel sehr zen­tral sind. Inwie­fern jüdi­sche Kul­tur ande­rer Län­der in Deutsch­land prä­sent ist, kann ich weni­ger gut ein­schät­zen, aber ich glaube durchaus.

Die Nazis haben nicht nur sechs Mil­lio­nen Juden ermor­det. Sie woll­ten auch die jüdi­sche Kul­tur und Wis­sen­schaft in Europa aus­lö­schen. Was fehlt dadurch heute?
Eine kon­tra­fak­ti­sche Frage ist grund­sätz­lich schwie­rig zu beant­wor­ten. Es gab vor dem Holo­caust, wie übri­gens auch heute, nicht nur eine jüdi­sche Kul­tur, es gab ver­schie­dene jüdi­sche Kul­tu­ren. Die eine, die sich sehr stark an die umge­bende Gesell­schaft ange­passt hatte oder in star­kem Aus­tausch mit ihr stand. Andere jüdi­sche kul­tu­relle Strö­mun­gen in Europa waren jedoch eher par­ti­ku­lar, z. B. eine säku­lare jid­di­sche Kul­tur in Ost­eu­ropa, die zum Teil ab den 1930er Jah­ren dem sta­li­nis­ti­schen Ter­ror zum Opfer fiel. Die­ser Blick für eine Band­breite an jüdi­schen Kul­tu­ren scheint zu feh­len. Das führt dazu, dass die jüdi­sche Kul­tur, die in deut­scher Spra­che geschrie­ben wurde, beson­ders stark rezi­piert wird. Andere weni­ger. Dadurch ist der Blick in Deutsch­land eingeengt.

Was ist das Beson­dere an den jüdi­schen Kulturen?
Sie neh­men häu­fig Bezug auf die sozia­len Umstände, die sich häu­fig bei Juden von der sie umge­ben­den Gesell­schaft unter­schei­den. Manch­mal ent­hal­ten sie auch einen Wider­hall der jüdi­schen reli­giö­sen Tra­di­tion und sie neh­men häu­fig Bezug zu jüdi­schen Spra­chen, also Hebrä­isch, Jid­disch, Ladino oder Judäo-Ara­bisch, die Spra­che der Juden in den ara­bi­schen Län­dern. All diese Ele­mente ste­hen immer in Bezie­hung zu den sie umge­ben­den Gesell­schaf­ten. Allein des­halb ist die jüdi­sche Kul­tur nicht fremd, son­dern eher „halb-fremd“. Das macht sie beson­ders reiz­voll, weil sie nah ist und den­noch fern.

Den­noch hal­ten viele Deut­sche Juden, die hier leben, für Fremde.
Es ist die Frage, wie­weit die Mehr­heits­ge­sell­schaft über­haupt in der Lage ist, Dif­fe­renz zu erken­nen und zu ertra­gen. Jüdi­sche Kul­tu­ren zeich­nen sich an sich schon durch eine große Plu­ra­li­tät aus, weil Juden in sehr vie­len ver­schie­de­nen Län­dern, die an sich mul­ti­eth­nisch waren, leb­ten und leben. Diese Viel­falt, die ihnen eigen ist, mag „fremd“ erschei­nen. Das sagt aber wenig aus über sie selbst, son­dern vor allem etwas über den Blick der Mehrheitsgesellschaft.

Was ist, bei aller Unter­schied­lich­keit, das Ver­bin­dende der jüdi­schen Kulturen?
Vor allem der imma­nente Aus­druck von Dif­fe­renz. Dazu die Refe­renz auf die jüdi­sche Tra­di­tion bzw. Reli­gion und in vie­len Fäl­len auch auf das Hebräi­sche als Spra­che des jüdi­schen Ritus sowie die Spra­che der jüdi­schen Israe­lis, heute die größte Kon­zen­tra­tion von Juden in der Welt. Diese drei Ele­mente – sozia­les Erleb­nis, Tra­di­tion, Spra­che – ver­bin­den sie mal mehr, mal weni­ger. An den Rän­dern ist dies gar nicht mehr spürbar.

Viele Juden sind säku­lar. Wie stark ist heute noch der Ein­fluss der Reli­gion auf die jüdi­sche Kultur?
Bezo­gen auf Europa nicht viel anders als bei säku­la­ri­sier­ten Chris­ten. Es han­delt sich um impli­zite Ein­flüsse über den Kalen­der und die säku­la­ri­sier­ten reli­giö­sen Werte, die wir mitt­ler­weile für uni­ver­sal halten.

In der Begeg­nung von Deut­schen und Juden steht häu­fig die Shoah im Vor­der­grund. Spielt sie für junge Juden und Israe­lis noch eine solch zen­trale Rolle?
Sie ist immer prä­sent. Wie kann es auch anders sein? Dazu kom­men aber natür­lich The­men, die durch ihre Aktua­li­tät rele­vant sind, wie die poli­ti­sche Lage in Israel und im Nahen Osten. Doch die Shoah wird nicht ver­schwin­den, sie ist in der Begeg­nung eine Kon­stante. Im heu­ti­gen Aus­tausch zwi­schen Juden und Deut­schen gibt es ein leich­tes Gene­ra­tio­nen­ge­fälle. Die Täter waren natur­ge­mäß älter als viele Opfer, die über­lebt haben. Man­che Opfer leben heute noch, haben Kin­der und Enkel. Es leben kaum noch Täter, und ihre Nach­kom­men haben wenig Bezug dazu, weil die Tra­die­rung von vorn­her­ein gebro­chen war und gebro­chen wurde. Hier müsste man über die 68er reden. Da tref­fen sich also auf der einen Seite die­je­ni­gen, die noch sehr nah dran sind, auf der ande­ren die­je­ni­gen, die sich wün­schen, sich davon zu ent­fer­nen. Das Gefälle bleibt groß. Das muss man akzep­tie­ren. Wie man damit umgeht, ist sehr individuell.

Post­ko­lo­nia­lis­ten wie der der kame­ru­ni­sche Phi­lo­soph Achille Mmembe bezeich­nen Israel als eines der schlimms­ten Län­der der Welt und einen Kolo­ni­al­staat und hal­ten die Besat­zungs­po­li­tik für übler als die Apart­heid. Was den­ken Sie als His­to­ri­ke­rin darüber?
Als israe­li­sche Staats­bür­ge­rin bin ich ver­pflich­tet, mir eine Mei­nung zur israe­li­schen Poli­tik zu bil­den, im Sinne Jas­pers Spruch: „Ein Volk haf­tet für seine Staatlichkeit.“

Als His­to­ri­ke­rin, hier nun in Deutsch­land, frage ich mich, was bezweckt diese Debatte? Wel­che Motive ste­hen dahin­ter? Dabei geht es mir weni­ger um Mbem­bes Motive als die­je­ni­gen derer, die ihn als Aus­hän­ge­schild ver­wen­den. Bei deren Moti­ven bin ich skep­tisch. Das gilt übri­gens auch für die Über­be­schäf­ti­gung mit der deut­schen Kolo­ni­al­ge­schichte. Ich halte Teile davon für eine Ver­de­ckung, für eine Ersatzhandlung.

Was ersetzt es?
Die The­men, die Anlass unse­res Gesprächs sind.

Bedeu­tet es in der Kon­se­quenz eine Rela­ti­vie­rung des Holocaust?
Es ist die Beschäf­ti­gung mit Ver­bre­chen, die alle euro­päi­sche Natio­nen began­gen haben, um sich nicht mit den Ver­bre­chen befas­sen zu müs­sen, die von Deutsch­land aus­gin­gen. Das heißt jedoch nicht, dass ich als Israe­lin nicht die Pflicht habe, mir Gedan­ken über die Poli­tik mei­nes Lan­des zu machen. Das ist davon aber völ­lig getrennt, und das lebe ich da aus, wo es einen Unter­schied macht, wo es in der Tat dar­auf ankommt, das heißt in Israel.

Haben Wis­sen­schaft­ler wie Sie, etwa auf inter­na­tio­na­len Kon­gres­sen, heute Pro­bleme, weil sie Juden sind?
Wenn ich For­men von Boy­kott erlebe, dann bezie­hen sie sich auf Israel und nicht auf das Jüdisch­sein und sind dazu noch implizit.

Vie­len Dank.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 04/2021.

Von |2021-04-01T12:15:55+02:00April 1st, 2021|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

Jüdi­sche Kul­tur in Deutschland

Yfaat Weiss im Gespräch

Yfaat Weiss ist Direktorin des Leibniz-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow und Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem. Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor.