Das jüdisch-christliche Gespräch bleibt in geschichtlicher, theologischer und spiritueller Verantwortung von besonders grundlegender Bedeutung. Das ergibt sich aus den Erfahrungen der Shoah und der kritischen Infragestellung einer Theologie, die den Antisemitismus durch Jahrhunderte gefördert hat. Jahrhundertelang war das Verhältnis zwischen Juden und Christen vor allem durch die Abwertung und Ablehnung des Judentums bestimmt.
Auch in den ersten Jahren nach 1945, nach den Schrecken der Shoah, war die christliche Position trotz des Eindrucks der Schuld gegenüber den Juden weiterhin von den klassischen antijudaistischen Traditionen geprägt. Das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ von 1945 erwähnt die Vernichtung der Juden nicht. Das „Darmstädter Wort“ des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), geprägt von Mitgliedern der Bekennenden Kirche, erklärte noch 1948, „indem Israel den Messias kreuzigte, hat es seine Auserwählung und Bestimmung verworfen“. Nur wenige gestanden sich das Versagen der Kirche im Nationalsozialismus ein und riefen zu Buße und Umkehr auf. Wegweisend wurden die Seelisberger Thesen von 1947, die hervorheben, dass „ein und derselbe Gott durch das Alte und Neue Testament zu uns allen spricht“ und zugleich dazu aufrufen, „zu vermeiden, dass der gottlosen Meinung Vorschub geleistet wird, wonach das jüdische Volk verworfen, verflucht und für ein ständiges Leiden bestimmt sei“.
Neue Impulse für das jüdisch-christliche Verhältnis brachten die Gründungen der Gesellschaften für Jüdisch-Christliche Zusammenarbeit (GCJZ) seit 1948 und die AG Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag 1961, die die Ursachen für die Judenfeindschaft in der Christenheit in „der Leugnung dieser unlösbaren Zusammengehörigkeit“ von Juden und Christen erkannte.
1958 wurde Aktion Sühnezeichen zur Förderung praktischer Versöhnungsarbeit in Israel und anderen Ländern gegründet. 1960 folgte das Institut Kirche und Judentum an der Kirchlichen Hochschule in Berlin mit der Aufgabe, die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Israel auf je spezifische Weise den Theologiestudierenden und Gemeinden nahezubringen. Seit 1978 können Theologiestudierende für ein Jahr in Jerusalem am Programm „Studium in Israel“ teilnehmen und vertiefende Erkenntnisse in jüdischer Schriftauslegung – Tora und Talmud – gewinnen.
Richtungweisend für das jüdisch-christliche Gespräch wurde die Synodalerklärung der Evangelischen Kirche im Rheinland „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ aus dem Jahr 1980. Viele Gliedkirchen der EKD haben in ihren Kirchenverfassungen ihr Verhältnis zum Judentum theologisch neu bestimmt, jede Form der Judenfeindschaft verworfen und zur Begegnung mit dem Judentum aufgerufen. Im November 2015 hat sich die Synode der EKD unter dem Titel „Martin Luther und die Juden – Notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum“ unmissverständlich distanziert gegenüber Martin Luthers zunächst abwertenden und später antisemitischen Urteilen gegenüber Juden und dem Judentum.
Bleibende Aufgaben
Das jüdisch-christliche Gespräch kennt keine Enkel. Die Themen müssen in jeder Generation neu durchbuchstabiert werden. Noch immer ist es für Studierende der Theologie nicht examensrelevant, sich intensiv mit dem Judentum beschäftigt zu haben. Noch immer sind Ein- und Vorstellungen wirksam, die es zu verlernen gilt. Denn tief eingeprägte, verleumderische antisemitische Bilder sind bis heute in Kirche und Gesellschaft mächtig: Die Juden seien „Wucherer“, die die Weltpolitik bestimmten und aktuell an der Corona-Pandemie verdienten, wie es verschwörend bei Impfgegnern heißt. Und in Liturgie und Predigten wirken antijudaistische Muster nach: „dort Gesetzlichkeit, hier Evangelium“, „dort Verheißung, hier Erfüllung“. Doch die Tora, Gottes Weisung, ist aus biblisch-jüdischer Perspektive gute Gabe Gottes, Ausdruck des gestifteten Bundes Gottes mit seinem Volk Israel, also selbst Evangelium, gute Botschaft und nicht antithetisch der Botschaft Jesu gegenüberzustellen (Matthäusevangelium 5, 17-19).
„Fragt euch, ob die Theologie, die ihr kennenlernt, so ist, dass sie vor oder nach Auschwitz eigentlich die gleiche sein könnte. Wenn ja, dann seid auf der Hut“, sagte Johann B. Metz. Die Beziehung zum Judentum ist für den christlichen Glauben und die Kirche wesentlich und grundlegend für das eigene Selbstverständnis. Jede Theologie muss auf den „Erfahrungsraum“ des biblischen Judentums zurückbezogen sein, so Frank Crüsemann. Und der durch die Geschichte ungekündigte Bund Gottes mit seinem Volk Israel lässt auch die nichtjüdische Völkerwelt Gottes Menschenfreundlichkeit und Treue erkennen.
Eine „Theologie nach Auschwitz“ kann nicht mehr gegen das Judentum, sondern nur mit dem Judentum entwickelt und gelebt werden.“ Dazu gehört die Absage an die Judenmission. Theologisch wie spirituell ist es eine bleibende Herausforderung, ein theologisches Denken und eine Gemeindepraxis zu überwinden, die strukturell darauf angewiesen scheint, immer wieder das abzuwerten, was Teil des Eigenen ist. Notwendig scheint mir dafür, weiterhin das gemeinsame Gotteszeugnis der einen Bibel in den beiden Testamenten in den Vordergrund zu stellen. Jesus, der Christus bzw. der Messias, hat Christen aus der nichtjüdischen Völkerwelt unlösbar mit Gottes erwähltem Volk Israel verbunden. Wir glauben als Christinnen und Christen an den Gott Israels, der zugleich der Vater Jesu Christi ist.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2021.