Bei allem Respekt vor dem sogenannten 1.700-jährigen Jubiläum jüdischen Lebens in Deutschland – Israelis in Berlin und die meisten von Ihnen, die diesen Artikel lesen, sind zurzeit sicher mit drängenderen Themen beschäftigt. Aber dazu kommen wir später.
Ich habe noch nicht einmal richtig angefangen und Sie könnten mich bereits eine Spielverderberin nennen. Ich verstehe ja, dass es wichtig ist, hervorzuheben, dass jüdisches Leben – und Sterben – nichts ist, was es erst seit dem 20. Jahrhundert in Deutschland gibt. Aber es gab auch einen kurzen Moment, in dem ich mich gefragt habe, ob das nicht nur ein zufällig gewähltes Datum ist. Wenn es nun einen Grund gibt, warum ich mich der Herausforderung stelle, diesen Artikel zu schreiben, ist es die Gelegenheit, ein paar Gedanken mit Ihnen zu teilen, die Sie womöglich normalerweise nicht auf Deutsch lesen.
Wie komme ich überhaupt dazu, Ihnen etwas über Israelis in Berlin erzählen zu können? Nun, ich bin selbst im Sommer 2009 mit meiner Familie nach Berlin gezogen. Vorher habe ich in Tel Aviv als Redakteurin und Journalistin gearbeitet und die Nachrichtenredaktionen bei zwei großen Zeitungen geleitet. Nach unserem Umzug begann ich, einen Blog mit dem Titel „Berlinerit“, Berlinerin auf Hebräisch, zu schreiben, um unsere Erlebnisse als neu ankommende Familie zu dokumentieren. Es dauerte nicht lange, bis ich verstand, dass unsere Geschichte über unsere persönlichen Erfahrungen hinausging. Dass wir tatsächlich Teil einer Welle waren, einem Phänomen, das aus vielen Israelis bestand, die den gleichen Schritt wagten. Und so gründete ich 2012 eine hebräischsprachige Zeitschrift namens SPITZ, hebräischer Slang für „spitze“, dem ersten hebräischen Magazin in Deutschland seit dem Holocaust.
Anfangs reizte mich vor allem die Möglichkeit, die Entstehung einer neuen Community begleiten zu können, die einzigartige und spannende politische und kulturelle Merkmale zu haben schien. Zu Beginn beschäftigten auch wir uns mit Fragen nach Identität und Geschichte; Fragen, die seitdem unzählbar häufig gestellt und thematisiert wurden – auch und insbesondere in den deutschen Medien – unter verschiedenen Abwandlungen der Überschrift: „Ausgerechnet Berlin“.
Neben der Faszination für diese neu entstehende Gemeinschaft behandelte das Magazin von Anfang an ganz praktische Themen und vermittelte deutsche Nachrichten an diejenigen, die kein Deutsch lesen konnten. Im Laufe der Jahre wurden die Identitätsfragen weniger zentral, und die Funktion des Magazins als Brückenbauer wurde immer wichtiger. Das fand in der Pandemie seinen Höhepunkt: Unsere täglichen Updates auf Hebräisch sind für viele Israelis in Berlin und Deutschland eine Hauptinformationsquelle.
Ich bin es also eher gewohnt, für und mit Israelis in Berlin zu schreiben, als über sie. Und so erschien es mir nur folgerichtig, mich an eine der vielen Facebook-Gruppen für Israelis in Berlin zu wenden und nachzufragen, welche Themen ihnen besonders am Herzen liegen, und was ich in diesem Artikel ansprechen sollte. Die Resonanz war überwältigend. In leidenschaftlichen Kommentaren wurden viele Themen angesprochen, von denen ich einige selbst im Kopf hatte, während mir andere nicht in den Sinn gekommen wären. Wenn Sie nur eine Information aus diesem Text mitnehmen, dann bitte diese: „Israelis in Berlin“ bilden keine Einheit, sondern sind unglaublich vielfältig, heterogen und dynamisch.
„Sag ihnen, dass nicht alle Israelis jüdisch sind oder sich so definieren, und diejenigen, die es tun, sind meistens nicht religiös. Dass es eine größere Bandbreite gibt, als sie vielleicht wissen.“ „Sag ihnen, dass wir Israel nicht zwangsläufig repräsentieren, nur weil wir Israelis sind.“ „Sag ihnen, dass die meisten von uns nicht bei der jüdischen Gemeinde registriert sind.“ „Dass einige von uns Nachkommen von Jüdinnen und Juden aus Nordafrika und Asien sind und wir daher auch eine Verbindung zur arabischen Kultur und Sprache haben.“ „Dass nicht alle von uns dunkle Augen und Haare haben.“ „Dass viele Israelis hier LGBTQ sind.“ „Dass sie bessere Wege finden sollten, um mit Antisemitismus umzugehen, insbesondere in Schulen.“ „Dass wir dankbar sind, dass wir unsere israelische Staatsbürgerschaft behalten können, wenn wir eine deutsche beantragen.“ „Dass es unter uns BDS-Unterstützerinnen gibt, die nicht antisemitisch sind.“ „Dass sie aufhören sollten, christliche Symbole und Feiertage so zu behandeln, als wären sie neutral.“ „Dass es jüdische Menschen und Israelis in Lehrbüchern geben sollte.“ „Dass die Tatsache, dass wir Israelis sind, nicht unbedingt bedeutet, dass wir wissen wollen, was ihre Großeltern getan oder nicht getan haben.“ „Im Gegenteil – für mich ist es wichtig, darüber zu sprechen!“ „Dass nicht alle von uns Einsteins / Freuds / Rothschilds sind.“ „Dass wir neben dem Holocaust auch noch andere Interessen haben.“ „Dass ich aus Neugier hierhergezogen bin, aber wegen meiner tiefen Wertschätzung für die Kultur, die Demokratie, die individuellen Rechte, die Kunst, die Sprache, den konstruktiven und respektvollen Diskurs und vor allem die Freiheit geblieben bin.“ „Dass ich wünschte, sie würden nicht so viel meckern und ständig versuchen, mich in der Öffentlichkeit zurechtzuweisen.“ „Dass es ein paar Lieder gibt, die etwas cooler sind als ‚Hava Nagila‘ und ‚Hevenu Shalom Alechem‘.“ „Dass es so viele Minderheiten gibt, die vor uns die Unterstützung von Entscheidungsträgern brauchen.“ „Wenn man sich den Einsatz von Technologien auf Ämtern, in Behörden und im Gesundheitswesen ansieht, fühlt sich der Umzug von Israel nach Deutschland so an, als käme man aus der Zukunft.“ „Wenn ihre Verteidigung von Jüdinnen und Juden zu Islamfeindlichkeit führt, dann danke, aber nein danke.“ Und mein persönlicher Favorit: „Dass ich nur ein einziges Mal gerne sagen würde, dass ich eine palästinensisch-israelische säkulare Christin bin, ohne im Verdacht zu stehen, eine Identität zu erfinden, die es überhaupt nicht gibt.“
Einige von Ihnen denken nun vielleicht: „Natürlich weiß ich, dass nicht alle Israelis jüdisch und nicht alle Jüdinnen und Juden religiös sind.“ Warum wurden dann aber so viele Berichte über die israelische Impfkampagne mit Bildern von orthodoxen jüdischen Männern illustriert, wenn sie doch nur 5 Prozent der Bevölkerung ausmachen? Und warum findet sich neben Nachrichten über Israelis in Berlin regelmäßig ein Bild eines jüdischen Mannes, der auf das Brandenburger Tor blickt, so dass die Kamera seine Kippa einfangen kann – während sich laut einer Studie von 2015 knapp 85 Prozent aller Israelis in Berlin als komplett säkular verstehen?
Die oben zitierten Aussagen bilden nur einen Bruchteil ab. Ich hätte 1.700 Dinge aufzählen können, die Sie über Israelis in Berlin wissen sollten. Stattdessen werde ich die verbleibenden Zeilen einer Frage widmen, die häufig gestellt wird:
Warum fällt es so vielen Israelis schwer, sich hier der Jüdischen Gemeinde anzuschließen? Hier kommen mehrere Faktoren zusammen, die ich versuche, kurz zusammenzufassen. Erstens: Wie bereits erwähnt, sind die meisten Israelis, die nach Berlin kommen, überhaupt nicht religiös. Viele von ihnen bringen aufgrund ihrer Erfahrungen in Israel sogar eine Art Ressentiment gegen das religiöse Establishment mit. Zweitens: Diejenigen, die in Verbindung zum Judentum bleiben wollen, werden dies am liebsten auf Hebräisch tun, was für viele den natürlichsten und tiefsten Teil ihrer jüdischen Identität ausmacht. Es gibt außerhalb der Jüdischen Gemeinde mehrere hebräischsprachige Initiativen für Familien und Erwachsene, die entsprechende Angebote machen. Und drittens: In Bezug auf den öffentlichen Diskurs über Israel und das jüdische Leben in Deutschland werden Israelis oft dafür kritisiert, die lokalen sensiblen Komplexitäten nicht zu verstehen. Dies wiederum könnte sie weiter davon abhalten, sich dem religiösen Establishment anzuschließen oder sich von ihm vertreten zu lassen.
Aber es gibt positive Entwicklungen: SPITZ hat sich ERUV angeschlossen, dem ersten jüdischen Social Hub in Berlin, das eine wunderbare Plattform für Austausch und Zusammenarbeit zwischen liberalen israelischen und jüdischen Organisationen bietet.
Und damit kommen wir wieder zu unserem Ausgangspunkt: Warum zeigen Israelis in Berlin kein besonderes Interesse am 1.700-jährigen Jubiläum jüdischen Lebens in Deutschland? Weil sie sich, wie der Rest der Welt auch, mitten in einer globalen Krise befinden. Viele haben ihre Familien in Israel schon lange nicht mehr besucht – Social-Media-Beiträge zu Reisebestimmungen und gestrichenen Flügen sind derzeit weitverbreitet –, sind besorgt über ihre finanzielle Situation und über ihre Möglichkeiten, in naher Zukunft geimpft zu werden. Sorgen bereitet auch vielen, wie schwierig es geworden ist, eine Wohnung zu finden, insbesondere seit in Berlin der Mietendeckel in Kraft getreten ist. Mit anderen Worten: Bevor sie jüdisch oder Israelis sind, sind sie Zugewanderte, die versuchen, ihren Weg zu finden.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2021.