Anti­se­mi­tis­mus 2.0 und die Netz­kul­tur des Hasses

Juden­feind­schaft als kul­tu­relle Kon­stante und kol­lek­ti­ves Gefühl im digi­ta­len Zeitalter

In wel­chen Mani­fes­ta­tio­nen tritt Anti­se­mi­tis­mus im 21. Jahr­hun­dert in Erschei­nung? Wie, wo und von wem wer­den juden­feind­li­che Inhalte arti­ku­liert und ver­brei­tet? Wel­che Ste­reo­type wer­den kodiert, wel­che Argu­mente benutzt? Wel­che Rolle spie­len Emo­tio­nen und irra­tio­nale Affekt­lo­gik sowie Ver­schwö­rungs­fan­ta­sien beim aktu­el­len Ein­stel­lungs- und Ver­ba­l­an­ti­se­mi­tis­mus? Inwie­fern hat das Inter­net die Ver­brei­tung und Inten­si­vie­rung von Anti­se­mi­tis­men beschleu­nigt und inten­si­viert? Inwie­weit basie­ren die moder­nen Aus­prä­gun­gen des Juden­has­ses nach wie vor auf der kul­tu­rel­len Kon­stante des alten Anti-Juda­is­mus? Erst­ma­lig in der inter­na­tio­na­len For­schung hat sich ein von der Deut­schen For­schungs­ge­mein­schaft (DFG) geför­der­tes Pro­jekt zur Arti­ku­la­tion, Tra­die­rung, Ver­brei­tung und Mani­fes­ta­tion von Juden­hass im Inter­net im Rah­men der empi­ri­schen Anti­se­mi­tis­mus­for­schung mit die­sen Fra­gen beschäf­tigt und über sechs Jahre lang quan­ti­ta­tiv umfang­rei­che sowie inhalt­lich detail­lierte Unter­su­chun­gen vor­ge­nom­men – siehe For­de­run­gen von Schwarz-Frie­sel aus den Jah­ren 2019 und 2020.

Welt­weit nimmt die Kodie­rung und Ver­brei­tung von Anti­se­mi­tis­men, ins­be­son­dere über das Web 2.0, dra­ma­tisch zu. Diese Ent­wick­lung in der vir­tu­el­len Welt kor­re­liert in der rea­len Welt mit juden­feind­li­chen Über­grif­fen und Atta­cken, Dro­hun­gen und Belei­di­gun­gen sowie dem „neuen Unbe­ha­gen“, d. h. einem Gefühl von Furcht und Sorge in den jüdi­schen Gemein­den Deutsch­lands und Europas.

Die­ser gefühlte Ein­druck wird nun durch unsere auf brei­ter empi­ri­scher Evi­denz basie­rende Stu­die wis­sen­schaft­lich bestä­tigt. Sie erfolgte anhand von umfang­rei­chen Kor­pus­stu­dien, also gro­ßen Daten­men­gen authen­ti­scher Texte, da nur diese Methode Auf­schluss über den Ein­stel­lungs­an­ti­se­mi­tis­mus, seine kogni­ti­ven Mus­ter und Gefühle sowie seine kom­mu­ni­ka­ti­ven Tra­die­rungs­for­men geben kann. Unter­sucht wurde, wel­che anti­se­mi­ti­schen Inhalte in diver­sen Berei­chen des World Wide Web auf wel­che Weise zugäng­lich gemacht und ver­brei­tet wer­den. Dabei wur­den die Anti­se­mi­tis­men in den aktu­el­len Ver­ba­li­sie­run­gen den domi­nan­ten Ste­reo­ty­pen des klas­si­schen, des Post-Holo­caust und israel­be­zo­ge­nen Anti­se­mi­tis­mus zugeordnet.

Durch die Spe­zi­fika der Inter­net­kom­mu­ni­ka­tion wie aktive Netz­par­ti­zi­pa­tion, Schnel­lig­keit, freie Zugäng­lich­keit, Mul­ti­mo­da­li­tät, Anony­mi­tät, glo­bale Ver­knüp­fung und die stei­gende Rele­vanz der sozia­len Medien als mei­nungs­bil­dende Infor­ma­ti­ons­quelle in der Gesamt­ge­sell­schaft hat die schnelle, unge­fil­terte und nahezu gren­zen­lose Ver­brei­tung juden­feind­li­chen Gedan­ken­guts allein rein quan­ti­ta­tiv ein Aus­maß erreicht, das es nie zuvor in der Geschichte gab.

Die Digi­ta­li­sie­rung der Infor­ma­ti­ons- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gie hat „Anti­se­mi­tis­mus 2.0“ online schnell, multi-modal, dif­fus und rezi­pi­en­ten­un­spe­zi­fisch mul­ti­pli­zier­bar gemacht. Jeden Tag wer­den Tau­sende neue Anti­se­mi­tis­men gepos­tet und ergän­zen die seit Jah­ren im Netz gespei­cher­ten und ein­seh­ba­ren juden­feind­li­chen Texte, Bil­der und Videos. Im Zehn-Jah­res-Ver­gleich hat sich die Anzahl der anti­se­mi­ti­schen Online-Kom­men­tare zwi­schen 2007 und 2018 zum Teil ver­drei­facht. Es gibt zudem kaum noch einen Dis­kurs­be­reich im Web 2.0, in dem Nut­ze­rin­nen und Nut­zer nicht Gefahr lau­fen, auf anti­se­mi­ti­sche Texte zu sto­ßen, auch wenn sie nicht aktiv danach suchen. Das Inter­net fun­giert, ins­be­son­dere in den all­täg­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­rei­chen der sozia­len Medien, als Mul­ti­pli­ka­tor, da es Anti­se­mi­tis­men in gro­ßem Aus­maß zugäng­lich macht, sie auf allen Ebe­nen des Web 2.0 ver­brei­tet und damit der Nor­ma­li­sie­rung von Juden­hass Vor­schub leistet.

Unsere Ana­ly­sen zu Google-Suche und Rat­ge­ber-Por­ta­len zei­gen, dass oft mit nur einem Klick nach Ein­gabe eines Schlag­worts wie Jude(n), Juden­tum, Pes­sach­fest oder Israel Use­rin­nen und User unvor­be­rei­tet auf Anti­se­mi­tis­men tref­fen. Diese blei­ben zum Teil jah­re­lang unge­löscht, z. B. die Frage „Wieso sind Juden immer so böse“ bei Gutefrage.net, die seit 2011 ein­seh­bar ist. Anti­se­mi­tis­men fin­den sich also kei­nes­wegs nur in poli­tisch ori­en­tier­ten oder radi­ka­len Dis­kurs­be­rei­chen, son­dern vor allem in den viel benutz­ten All­tags­me­dien des Web. Auch unsere Kor­pus-Stu­dien zu den Kom­men­ta­ren bezüg­lich der Soli­da­ri­täts­ak­tio­nen gegen Anti­se­mi­tis­mus („Nie wie­der Juden­hass“ und „Ber­lin trägt Kippa“) bele­gen mit zum Teil über 37 Pro­zent Anti­se­mi­tis­men die Infil­tra­tion die­ser Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tu­ren. Dabei spie­len glo­bale Ver­knüp­fun­gen und mul­ti­mo­dale Ver­lin­kun­gen im Web eine beson­dere Rolle bei der Tra­die­rung von Anti­se­mi­tis­men. Dass Use­rin­nen und User statt Infor­ma­tion und Dis­kus­sion Indok­tri­na­tion erhal­ten, zeigt sich in allen wesent­li­chen sozia­len Medien, z. B. Twit­ter, You­Tube, Face­book, und auch in so unter­schied­li­chen Web­sei­ten der Unter­hal­tungs­bran­che wie Fan­fo­ren, Blogs und Online-Büchershops.

Die aktu­el­len Mani­fes­ta­tio­nen von Anti­se­mi­tis­mus im 21. Jahr­hun­dert basie­ren kogni­tiv auf tra­dier­ten, zum Teil uralten Ste­reo­ty­pen, und emo­tio­nal auf dem kol­lek­ti­ven Gefühls­wert des Has­ses und stel­len somit eine moderne Reak­ti­vie­rung des kul­tu­rell ver­an­ker­ten Res­sen­ti­ments dar. Der israel­be­zo­gene Anti­se­mi­tis­mus, eine domi­nante Mani­fes­ta­ti­ons­form von aktu­el­ler Juden­feind­schaft im Web 2.0, folgt dem uralten Adap­ti­ons­mus­ter von Juden­hass, die­je­nige Exis­tenz­form des Juden­tums – in die­sem Fall den Staat Israel – nega­tiv zu fokus­sie­ren, die oppor­tun dif­fa­miert wer­den kann. Anti­se­mi­tis­mus ist nicht bloß ein Vor­ur­teils­sys­tem, son­dern ein Welt­deu­tungs- und Glau­bens­sys­tem, das in den abend­län­di­schen Denk- und Gefühls­struk­tu­ren ver­an­kert ist.

Das Echo der Ver­gan­gen­heit zeigt sich im Inter­net beson­ders deut­lich: Der alte Anti-Juda­is­mus mit sei­ner destruk­ti­ven Seman­tik ist immer noch tief ein­ge­baut im kom­mu­ni­ka­ti­ven Gedächtnis.

Über die Sprach­ge­brauchs­mus­ter der Abgren­zung und Ent­wer­tung wer­den juden­feind­li­che Ste­reo­type stän­dig repro­du­ziert und blei­ben damit im kol­lek­ti­ven Bewusst­sein. Auch die Erfah­rung des Holo­caust hat diese Tra­di­tion nicht gebro­chen. Klas­si­sche Ste­reo­type der Juden­feind­schaft prä­gen mit über 54,02 Pro­zent maß­geb­lich den Anti­se­mi­tis­mus 2.0. Zu kon­sta­tie­ren ist, dass Juden- und Isra­el­hass dabei eine kon­zep­tu­elle Sym­biose bil­den, die maß­geb­lich vom Kol­lek­tiv-Kon­zept des „Ewi­gen Juden“ mit sei­nen über Jahr­hun­derte hin­weg kon­stru­ier­ten Merk­ma­len „Juden als Fremde/Andere/Böse, als Wuche­rer, Aus­beu­ter und Geld­men­schen, als rach­süch­tige Intri­gan­ten und Macht­men­schen, Mör­der, Ritual- und Blut­kult­prak­ti­zie­rer, Land­räu­ber, Zer­stö­rer und Ver­schwö­rer“ deter­mi­niert wird. Bis auf ober­fläch­li­che Varia­tio­nen gibt es dabei keine signi­fi­kan­ten Unter­schiede zwi­schen Anti­se­mi­tis­men von rech­ten, lin­ken, mus­li­mi­schen und Use­rin­nen und Usern der Mitte. Die Schrei­ben­den rekur­rie­ren auf klas­si­sche Ste­reo­type der Juden­feind­schaft und ver­wen­den homo­gen judeo­phobe Argu­mente, die ins­ge­samt von einer emo­tio­na­len Gesin­nung bestimmt wer­den. Es zei­gen sich zahl­rei­che Stra­te­gien der Abwehr, Leug­nung, Umdeu­tung und Mar­gi­na­li­sie­rung des gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Juden­has­ses. Die osten­ta­ti­ven Anti­se­mi­tis­men wer­den dabei im pseudo-poli­ti­schen Dis­kurs als „Isra­el­kri­tik“ und bei­spiels­weise im deutsch­spra­chi­gen Rap als „Kunst- oder Mei­nungs­frei­heit“ re-klas­si­fi­ziert, um in Ein­klang mit der offi­zi­el­len Bewer­tung im Post-Holo­caust-Bewusst­sein poli­tisch kor­rekt und sozial ange­mes­sen zu erscheinen.

Ent­spre­chend wer­den Anti­se­mi­tis­men viel­fach camou­fliert kodiert: Nicht die Lexeme „Juden“ und „Juden­tum“, son­dern Sub­sti­tu­tio­nen wie „Israe­lis“, „Zio­nis­mus“, Chif­fren wie „Roth­schild“, vage Para­phra­sen wie „jene ein­fluss­rei­chen Kreise“ oder rhe­to­ri­sche Fra­gen wie „Warum sind Zio­nis­ten böse?“ wer­den benutzt, um juden­feind­li­che Seman­tik zu ver­brei­ten. Die Zunahme der Arti­ku­la­tion von NS-Ver­glei­chen, bra­chia­len Pejo­ra­tiva – „Unrat, Pest, Krebs­ge­schwür“ – und Gewalt­fan­ta­sien im Sinne des eli­mi­na­to­ri­schen Anti­se­mi­tis­mus belegt zugleich aber auch die Ten­denz der ver­ba­len Radi­ka­li­sie­rung sowie eine deut­li­che Absen­kung der Tabuisierungsschwelle.

Die Auf­klä­rungs­be­mü­hun­gen der letz­ten Jahr­zehnte haben in der Gesell­schaft nicht flä­chen­de­ckend gewirkt, und die The­ma­ti­sie­rung der Gefahr von dif­fa­mie­ren­den und dämo­ni­sie­ren­den Sprach­ge­brauchs­mus­tern haben nicht über­all zu einer Sen­si­bi­li­sie­rung im Umgang mit Anti­se­mi­tis­men geführt.

Anti­se­mi­tis­mus ist heute in Deutsch­land immer noch und seit eini­gen Jah­ren wie­der zuneh­mend ein höchst besorg­nis­er­re­gen­des Phä­no­men. Poli­tik und Zivil­ge­sell­schaft sind gefor­dert, alles zu tun, diese Büchse der Pan­dora zu schließen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 04/2021.

Von |2021-04-01T11:42:07+02:00April 1st, 2021|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

Anti­se­mi­tis­mus 2.0 und die Netz­kul­tur des Hasses

Juden­feind­schaft als kul­tu­relle Kon­stante und kol­lek­ti­ves Gefühl im digi­ta­len Zeitalter

Monika Schwarz-Friesel ist Antisemitismusforscherin an der TU Berlin.