Alles andere als normal

Jüdi­sches Leben in Deutschland

Jüdi­scher All­tag in Deutsch­land, so lau­tete der Titel des Foto­wett­be­werbs, den die Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion zusam­men mit Der Beauf­trag­ten der Bun­des­re­gie­rung für Kul­tur und Medien, dem Beauf­trag­ten der Bun­des­re­gie­rung für jüdi­sches Leben und den Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus und dem Zen­tral­rat der Juden in Deutsch­land aus­ge­lobt hatte. Am 8. Okto­ber letz­ten Jah­res wurde der Start­schuss gege­ben, bis zum 20. Dezem­ber konn­ten Fotos ein­ge­reicht wer­den, die bes­ten zehn wur­den von einer hoch­ka­rä­tig besetz­ten Jury aus­ge­wählt. Sie sind hier im Schwer­punkt dokumentiert.

Ziel war es, das nor­male Leben, den jüdi­schen All­tag in Deutsch­land zu zei­gen und damit ein Zei­chen gegen Anti­se­mi­tis­mus zu set­zen. Doch ist das Leben von Jüdin­nen und Juden in Deutsch­land nor­mal? Vie­ler­orts lei­der nicht. Das zeigt auch ein­drück­lich das Sie­ger­foto des Wett­be­wer­bes „Ein Schutz­mann für Kafka“ von Det­lef Sey­del (Seite 20).

Es ist nicht nor­mal, wenn jüdi­sche Buch­hand­lun­gen von Poli­zis­ten geschützt wer­den müs­sen. Es ist empö­rend, wenn Kin­der­gär­ten bewacht wer­den müs­sen, weil die Sorge vor anti­se­mi­ti­schen Anschlä­gen besteht. Es ist kei­nes­wegs nor­mal, wenn Schü­le­rin­nen und Schü­ler auf dem Weg von der Schule zum Hort von bewaff­ne­ten Wach­män­nern beglei­tet wer­den. Es ist über­haupt nicht nor­mal, wenn hoch­ran­gige Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­ter des Zen­tral­rats der Juden Per­so­nen­schutz benö­ti­gen. Es ist alles andere als nor­mal, wenn Jüdin­nen und Juden, weil sie reli­giöse Sym­bole tra­gen, ver­bal oder sogar tät­lich ange­grif­fen wer­den. Und es ist ganz und gar nicht nor­mal, dass Syn­ago­gen bewacht wer­den müs­sen. Ich will und werde mich mit die­ser Form von „Nor­ma­li­tät“ nicht abfin­den. Wir, die gesamte Gesell­schaft, dür­fen uns nicht an diese „Nor­ma­li­tät“ gewöhnen.

Auf dem Gebiet, das heute Deutsch­land ist, leben, wie das Fest­jahr „1.700 Jahre jüdi­sches Leben in Deutsch­land“ zeigt, seit 1.700 Jah­ren Jüdin­nen und Juden. Das Rhein­land, die SchUM-Städte Mainz, Worms, Speyer, aber auch Köln, Frankfurt/Main und viele andere Orte waren über Jahr­hun­derte hin­weg Zen­tren jüdi­schen Lebens in Deutsch­land. Sie waren lei­der ebenso Orte von Anti­se­mi­tis­mus, Ver­fol­gung und Pogro­men. Ganze Ort­schaf­ten, wie auch in der unmit­tel­ba­ren Nach­bar­schaft mei­nes Hei­mat­or­tes im Tau­nus, wur­den schon vor der Shoah von den dort ansäs­si­gen Jüdin­nen und Juden ver­las­sen, weil sie Anti­se­mi­tis­mus und Ver­fol­gun­gen aus­ge­setzt waren. Der jahr­hun­der­te­alte, auch durch die Kir­chen beför­derte Anti­se­mi­tis­mus gip­felte in der indus­tri­el­len Ver­nich­tung der euro­päi­schen Jüdin­nen und Juden, der Shoah. Sie ist singulär.

Heute zählt der Zen­tral­rat der Juden in Deutsch­land rund 100.000 in Deutsch­land lebende Juden und Jüdin­nen. Selbst wenn die­je­ni­gen hin­zu­ge­zählt wer­den, die kei­ner Gemeinde ange­hö­ren, blei­ben Juden und Jüdin­nen mit Blick auf eine Gesamt­be­völ­ke­rung von 83 Mil­lio­nen Men­schen in Deutsch­land eine kleine Gruppe. Eigent­lich kein Grund, sich die­ser Gruppe beson­ders zu widmen.

Doch und gerade, ist es mei­nes Erach­tens not­wen­dig und uner­läss­lich, sich mit dem jüdi­schen Leben in Deutsch­land zu beschäf­ti­gen. Wie leben, lie­ben, fei­ern, strei­ten, tan­zen, hüp­fen, beten, dan­ken, kochen und was auch immer Jüdin­nen und Juden in unse­rer Nach­bar­schaft? Gerade diese Nor­ma­li­tät kommt in vie­len der Bil­der des Foto­wett­be­werbs zum Aus­druck. Z. B. wenn jüdi­sche Kin­der, wie auf dem Foto von Evge­nia Lisow­ski „Auf dem Weg zur Schule“, das im Wett­be­werb den zwei­ten Preis erhielt, auf die Stra­ßen­bahn war­ten (Seite 29). Oder wie auf ande­ren aus­ge­zeich­ne­ten Foto­gra­fien, wenn sie auf dem Geh­weg hüp­fen, wenn junge Men­schen sich an Demons­tra­tio­nen betei­li­gen, wenn, wenn, wenn … Es geht darum, das Leben zu zei­gen und sich daran zu erfreuen.

Die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem aktu­el­len jüdi­schen Leben ist ein Weg, dem sich stär­ker ver­brei­ten­den Anti­se­mi­tis­mus etwas ent­ge­gen­zu­set­zen. Begeg­nun­gen kön­nen dazu bei­tra­gen, Vor­be­halte und Ängste aus­zu­räu­men. Den ande­ren als das zu sehen, was er oder sie ist, ein Mensch wie man selbst. Und vor allem kön­nen sie die Viel­falt und den Reich­tum jüdi­schen Lebens erfahr­bar machen.

Jüdisch­sein in Deutsch­land ist sehr unter­schied­lich: Es reicht von ortho­dox zu säku­lar, es ist rus­sisch, deutsch oder israe­lisch geprägt, es ist jung, auf­müp­fig und leben­dig. Die­ses viel­fäl­tige jüdi­sche Leben in Deutsch­land zei­gen die aus­ge­zeich­ne­ten Foto­ar­bei­ten. Dabei wird auch deut­lich, dass der legen­däre jüdi­sche Humor eine starke Waffe gegen Aus­gren­zung ist. „Evge­niya And Other Kos­her Ber­li­ners“, das mit dem drit­ten Preis aus­ge­zeich­nete Foto von Sonia Alcaina Gall­ardo und Evge­niya Kar­tas­hova (Seite 28), ist dafür ein wun­der­ba­res Beispiel.

Die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Juden­tum in Deutsch­land ist geprägt von den Bil­dern der Shoah. Kaum jemand, der Bil­der aus den Ver­nich­tungs­la­gern gese­hen, Texte dar­über gele­sen oder die authen­ti­schen Orte besucht hat, ver­gisst dies. Die Bil­der bren­nen sich jedem Ein­zel­nen ein und sind Teil des kol­lek­ti­ven Gedächt­nis­ses. Doch jüdi­sches Leben in Deutsch­land ist mehr als die Zeit von 1933 bis 1945. Das nor­male jüdi­sche Leben vor 1933 gehört ebenso dazu wie der bereits zuvor bestehende Anti­se­mi­tis­mus. Das nach 1945 wie­der ent­stan­dene jüdi­sche Leben zählt dazu wie der gegen­wär­tige erschre­ckend wach­sende Antisemitismus.

Beschäf­ti­gung mit dem aktu­el­len jüdi­schen Leben muss mehr sein als Aus­ein­an­der­set­zung mit der Ver­gan­gen­heit. Jüdi­sches Leben ist inte­gra­ler Bestand­teil der deut­schen Gesell­schaft und zugleich bestehen Beson­der­hei­ten, wie bei­spiels­weise die Spei­se­ge­bote oder auch andere Fei­er­tage. Dies als Berei­che­rung und nicht als Bedro­hung zu ver­mit­teln und zu ver­ste­hen, ist das Gebot der Stunde.

So wie das Leben von Jüdin­nen und Juden in Deutsch­land lei­der alles andere als nor­mal ist, ist die Aus­ein­an­der­set­zung der Mehr­heits­ge­sell­schaft mit dem jüdi­schen Leben in Deutsch­land alles andere als normal.

Der Foto­wett­be­werb und andere Akti­vi­tä­ten der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion sol­len einen Bei­trag zu mehr Nor­ma­li­tät leis­ten. Denn Nor­ma­li­tät kann auch etwas sehr Schö­nes sein.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 04/2021.

Von |2021-04-01T12:21:41+02:00April 1st, 2021|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

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