Ein kul­tur­po­li­ti­scher Kraftakt

30 Jahre wie­der­ver­ei­nigte Orches­ter­land­schaft Deutschland

„Gesell­schaft­li­che Rele­vanz ist erreicht, wenn man seine Arbeit nicht recht­fer­ti­gen muss, weil sie als unver­zicht­ba­rer Teil des Zusam­men­le­bens ver­stan­den und gelebt wird“. Mit die­sen Wor­ten bringt Mar­tin Eif­ler im Inter­view auf den Punkt, wel­che Daseins­be­rech­ti­gung Kul­tur­ein­rich­tun­gen – nament­lich Orches­ter und Thea­ter – 30 Jahre nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung bean­spru­chen könn­ten. Es ist gleich­zei­tig eine kluge Aus­sage dazu, warum die seit dem ers­ten Corona-Lock­down sehr robust vor­ge­tra­gene Behaup­tung der „Sys­tem­re­le­vanz“ von Kul­tur am Kern der Sache vor­bei­geht. Mar­tin Eif­ler kennt sich aus, schließ­lich ist er seit 2010 Refe­rats­lei­ter für Musik und dar­stel­lende Künste bei der Beauf­trag­ten der Bun­des­kanz­le­rin für Kul­tur und Medien. Seine Erfah­rung speist sich aus über 30 Jah­ren Berufs­tä­tig­keit in der Kul­tur­ver­wal­tung, auch aus der End­zeit des Kul­tur­mi­nis­te­ri­ums der DDR.

Das Jubi­läum 30 Jahre Deut­sche Ein­heit im Okto­ber 2020 war und ist ein ange­mes­se­ner Anlass, für einen Moment inne­zu­hal­ten. Inne­zu­hal­ten und zu reflek­tie­ren wie, warum und wohin sich die deut­sche Orches­ter- und Musik­land­schaft in drei Jahr­zehn­ten ent­wi­ckelt hat; und dar­über nach­zu­den­ken, was die nahe Zukunft an neuen Her­aus­for­de­run­gen bringt. Gerade die Zukunfts­pro­gnose hat eine begrenzte Halb­wert­zeit. Wie begrenzt sie sein kann, lehrt uns gegen­wär­tig die seit zwölf Mona­ten andau­ernde Corona-Pandemie.

Im Januar 2020 war die (Kultur-)Welt noch halb­wegs intakt: die kom­mende Kon­zert­sai­son fer­tig geplant, som­mer­li­che Open-Air-Kon­zerte mit meh­re­ren Zehn­tau­send Besu­chern in Mün­chen, Nürn­berg, Leip­zig oder Ber­lin in Vor­be­rei­tung, Orches­ter natio­nal und inter­na­tio­nal auf Rei­sen, vie­ler­orts gestie­gene Besu­cher- und Abon­nen­ten­zah­len, aus­ge­gli­chene Bud­gets. Im Herbst 2020 ein völ­lig ande­res Bild. Nach Mona­ten mit geschlos­se­nen Opern- und Kon­zert­häu­sern, mit abge­sag­ten oder stark abge­speck­ten Musik­fes­ti­vals haben Orches­ter und Thea­ter die ers­ten Monate der neuen Sai­son umge­plant: klei­nere Werke und Beset­zun­gen, grö­ßere Abstände auf der Bühne, stark limi­tierte Besu­cher­ka­pa­zi­tä­ten, ver­un­si­cherte Abon­nen­ten. Pri­vate Kon­zert­ver­an­stal­ter und -agen­tu­ren kämp­fen um ihre Exis­tenz. Der Tour­nee­be­trieb ist zusam­men­ge­bro­chen, inter­na­tio­nal sowieso – die Bud­get­fol­gen sind kaum abseh­bar. Die­ser krasse Sze­nen­wech­sel inner­halb weni­ger Monate beein­druckt. Aber darf er auch ver­un­si­chern? Er darf, sollte es aber nicht.

Umbruch­si­tua­tion

Auch 1990 waren die Men­schen ver­un­si­chert; zuge­ge­ben, im Osten mehr als im Wes­ten. Was ist von der Eupho­rie über die staat­li­che Ein­heit geblie­ben? Wel­che Hoff­nun­gen haben sich erfüllt, wel­che Erwar­tun­gen wur­den ent­täuscht? Hel­mut Kohls Vision von „blü­hen­den Land­schaf­ten“ im Osten wich bekannt­lich ziem­lich bald einer gro­ßen Ernüch­te­rung. Der Kul­tur­be­reich, nament­lich Thea­ter, Orches­ter und Rund­funk­klang­kör­per, wurde mit gra­vie­ren­den Ver­än­de­run­gen kon­fron­tiert. Auf­lö­sung alter, Bil­dung neuer Rund­funk­struk­tu­ren in Ber­lin und Leip­zig, aber auch Ver­än­de­run­gen im Wes­ten, z. B. mit Fusion von SWF und SDR zum SWR, Ver­än­de­run­gen der Lan­des- und Kom­mu­nal­struk­tu­ren sowie der Besu­cher- und Abon­nen­ten­si­tua­tion im Osten.

Durch­grei­fen­der Strukturwandel

In Zah­len wird der Struk­tur­wan­del beson­ders deut­lich: Von 168 Orches­tern bei der ers­ten gesamt­deut­schen Erfas­sung 1992 exis­tie­ren heute noch 129. 39 Orches­ter sind durch Fusio­nen oder Abwick­lun­gen end­gül­tig von der Land­karte ver­schwun­den, ganz über­wie­gend im Osten, ver­ein­zelt im Wes­ten. Heu­tige Dop­pel­na­men von Orches­ter- und Thea­ter­stand­or­ten wie Gera-Alten­burg oder Gotha-Eisen­ach zeu­gen von Fusi­ons­ge­schich­ten, hin­ter denen auch immer mensch­li­che Schick­sale und Ängste um den Ver­lust des Arbeits­plat­zes stan­den. Fast 3.000 Musi­ker­stel­len sind seit 1990 ver­lo­ren gegan­gen. 1992 wur­den ins­ge­samt 12.159 Plan­stel­len in den Orches­tern gezählt, heute sind es noch 9.766. Im Osten betrug der Abbau 38 Pro­zent, im Wes­ten 7 Pro­zent der Orches­ter-Arbeits­plätze, unstrei­tig ein gra­vie­ren­der Kul­tur­ver­lust. Ob die Klau­sel des Eini­gungs­ver­tra­ges, wonach die „kul­tu­relle Sub­stanz im Bei­tritts­ge­biet“ kei­nen Scha­den neh­men dürfe, das Papier wert war, auf dem sie geschrie­ben wurde, kann heute rein zah­len­mä­ßig bezwei­felt wer­den. Aber wie sind die Ver­än­de­run­gen nach drei Jahr­zehn­ten inhalt­lich zu bewerten?

Der Köl­ner Musik­wis­sen­schaft­ler Arnold Jacob­sha­gen hat sich bereits in den 1990er Jah­ren inten­siv mit dem Struk­tur­wan­del in der Orches­ter­land­schaft befasst. Ver­se­hen mit die­ser Exper­tise kommt er nach 30 Jah­ren zu der Ein­schät­zung und Bewer­tung, dass es in den öst­li­chen Bun­des­län­dern zwar zah­len­mä­ßig Ein­bu­ßen an Orches­tern und Musi­ker­stel­len gege­ben hat. Ande­rer­seits fällt aber auf: 23 von ins­ge­samt 43 ost­deut­schen Orches­tern sind in Städ­ten mit weni­ger als 100.000 Ein­woh­nern ange­sie­delt. Dies sei, so Jacob­sha­gen, ein wesent­li­cher Unter­schied zu den west­deut­schen Län­dern, in denen Orches­ter ganz über­wie­gend eher in Groß­städ­ten zu fin­den seien. In die­sem Sinne sei also durch­aus die kul­tu­relle Sub­stanz im Osten und dort vor allem in Mit­tel­städ­ten erhal­ten geblieben.

Poli­ti­scher Handlungsdruck

Blickt man auf die Zeit der Ent­ste­hung des Eini­gungs­ver­tra­ges im Jahr 1990 zurück und kon­sul­tiert man poli­ti­sche Prot­ago­nis­ten von damals, so wird deut­lich, was für ein gewal­ti­ger Kraft­akt in kür­zes­ter Zeit zu leis­ten war. Hin­rich Enderlein, von 1990 bis 1994 ers­ter Minis­ter für Wis­sen­schaft, For­schung und Kul­tur des Lan­des Bran­den­burg, berich­tet rück­bli­ckend von einem immensen Hand­lungs­druck. Da das Land Bran­den­burg beschlos­sen hatte, die mitt­lere Ver­wal­tungs­ebene der ehe­ma­li­gen DDR-Bezirke abzu­schaf­fen, musste bis zum 31. Dezem­ber 1990 ent­schie­den wer­den, ob Ein­rich­tun­gen der Bezirke vom Land über­nom­men oder in kom­mu­nale Trä­ger­schaft über­ge­ben wer­den soll­ten. Die Lan­des­re­gie­rung war aber erst seit Ende Novem­ber 1990 im Amt. Da sei eine „sehr sport­li­che Ent­schei­dungs­fin­dung ange­sagt“ gewe­sen. Trotz man­cher Durst­stre­cken bei der Finan­zie­rung, auch durch das Land, sei inzwi­schen eine sta­bile Basis, zum Teil auch über den kom­mu­na­len Finanz­aus­gleich erreicht wor­den. Die heute gel­tende Bran­den­bur­ger For­mel der Orches­ter- und Thea­ter­fi­nan­zie­rung von 50-30-20 (50% Land, 30% Kom­mu­na­ler Finanz­aus­gleich, 20% Sitz­kom­mune) hat sich bewährt und zu einer ech­ten Kon­so­li­die­rung der ver­blie­be­nen Stand­orte geführt. Ein Vor­bild auch für andere Bundesländer?

Hans Joa­chim Meyer, von 1990 bis 2002 Säch­si­scher Staats­mi­nis­ter für Wis­sen­schaft und Kunst, ist der bis heute bun­des­weit ein­zig­ar­tige säch­si­sche Son­der­weg eines Kul­tur­raum­ge­set­zes zuzu­schrei­ben, des­sen Ent­ste­hung ohne die beson­dere Situa­tion nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung unvor­stell­bar gewe­sen wäre. Kul­tur per Gesetz zur Pflicht­auf­gabe der Kom­mu­nen zu machen – eine poli­ti­sche For­de­rung, die auch in ande­ren Bun­des­län­dern ganz aktu­ell immer häu­fi­ger erho­ben wird – und gleich­zei­tig den Frei­staat Sach­sen dau­er­haft zu ver­pflich­ten, die neu gegrün­de­ten Kul­tur­räume finan­zi­ell ver­läss­lich zu unter­stüt­zen, gilt unver­än­dert als Pio­nier­leis­tung. Bei allen Schwie­rig­kei­ten und Dis­kus­sio­nen zwi­schen Kom­mu­nen und Land um die finan­zi­elle Las­ten­ver­tei­lung der Finan­zie­rung von Orches­tern und Thea­tern, aber auch ande­rer Kul­tur­ein­rich­tun­gen haben sich inzwi­schen sta­bile Ent­schei­dungs- und För­der­struk­tu­ren ent­wi­ckelt und bewährt. Zeit­weise sach­fremde Ein­griffe des Frei­staa­tes und aus­blei­bende Dyna­mi­sie­run­gen der Lan­des­mit­tel gehö­ren hof­fent­lich der Ver­gan­gen­heit an.

Struk­tu­relle Schief­lage dau­ert an

Befragt man Musi­ke­rin­nen und Musi­ker, die bereits vor 1990 in einem Orches­ter in den öst­li­chen Bun­des­län­dern gespielt haben, heute nach ihren Ein­schät­zun­gen, wird einer­seits die befrei­ende Auf­bruch­stim­mung der Nach­wen­de­zeit her­vor­ge­ho­ben, ande­rer­seits aber auch auf die Sorge um immer wie­der dro­hende Ein­schnitte durch Stel­len­kür­zun­gen oder Fusi­ons­pläne mit benach­bar­ten Orches­tern hin­ge­wie­sen. Und bis heute besteht ein struk­tu­rel­les Gefälle zwi­schen Ost und West: Wäh­rend in den west­li­chen Bun­des­län­dern zwölf Orches­ter – meist auf der Grund­lage von Haus­ta­rif­ver­trä­gen – unter­halb der übli­chen tarif­li­chen Flä­chen­ver­gü­tung bezahlt wer­den, sind es im Osten 18, und das bei pro­por­tio­nal gerin­ge­rer Bevöl­ke­rungs­zahl. Der öffent­li­che Dienst hat inzwi­schen die voll­stän­dige Lohn­an­glei­chung zwi­schen Ost und West abge­schlos­sen. Für einige Orches­ter und ihre öffent­li­chen Rechts­trä­ger besteht hier also noch drin­gen­der Handlungsbedarf.

Fazit

Trotz aller Brü­che und Wider­sprü­che in 30 Jah­ren Ver­ei­ni­gungs­ge­schichte bleibt fest­zu­hal­ten, wel­ches Geschenk, aber auch wel­che Her­aus­for­de­run­gen die Wie­der­ver­ei­ni­gung der Orches­ter und Thea­ter zu einer gesamt­deut­schen Land­schaft mit sich gebracht hat. Gerade die aktu­el­len Beschrän­kun­gen unse­res All­tags durch die Corona-Pan­de­mie zei­gen, dass einer Gesell­schaft ohne ein akti­ves und viel­fäl­ti­ges Kul­tur­le­ben etwas Essen­zi­el­les fehlt. Und dass es sich lohnt, für den Erhalt und die Wei­ter­ent­wick­lung die­ser Viel­falt immer wie­der aufs Neue einzutreten.

Die­ser Bei­trag ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 03/2021.

Von |2021-03-25T14:39:36+01:00März 4th, 2021|Heimat|Kommentare deaktiviert für

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30 Jahre wie­der­ver­ei­nigte Orches­ter­land­schaft Deutschland

Gerald Mertens ist Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung.