Kul­tur ver­sus Religion?

Jetzt keine unnö­ti­gen Kon­flikte ausfechten!

Gegen Kir­chen­kri­tik habe ich nichts ein­zu­wen­den, häu­fig ver­su­che ich mich selbst darin. Doch vor Kur­zem hat mich ein zor­ni­ger Pro­test wirk­lich ver­stört. Denn er kam aus einer Rich­tung, mit der ich jetzt gar nicht gerech­net hätte. Kaum hatte die Regie­rung die neuen Restrik­tio­nen zur Ein­däm­mung der Corona-Pan­de­mie beschlos­sen, for­der­ten einige Jour­na­lis­ten, aber auch eine Schrift­stel­le­rin – und in ihrem Gefolge viele Freunde der kräf­ti­gen Mei­nungs­kund­gabe in Kom­men­tar­spal­ten und sozia­len Netz­wer­ken –, dass die Kir­chen sofort auf ihre Got­tes­dienste ver­zich­ten müsse. Alles andere wäre unso­li­da­risch und ungerecht.

Die zweite Welle der Pan­de­mie ver­setzt viele Men­schen in Angst, die Maß­nah­men dage­gen sto­ßen auf erheb­li­che Kri­tik. Das kann ich nach­voll­zie­hen. Dass gerade Kul­tur­ein­rich­tun­gen schlie­ßen müs­sen, tut mir und vie­len in mei­ner Kir­che weh. Wir sind ja auch selbst betrof­fen: Unsere gesamte Kul­tur- und Bil­dungs­ar­beit ist nicht mehr mög­lich. Dabei gehört sie zum Kern unse­res Selbst­ver­ständ­nis­ses. Froh war ich immer­hin zu lesen, dass wir zumin­dest Got­tes­dienste fei­ern kön­nen. Vor einem hal­ben Jahr war es für uns anders­herum: Wir durf­ten keine Got­tes­dienste fei­ern, aber Bau- und Geträn­ke­märkte waren offen. Damals hat­ten wir auf ele­men­tare Rechte ver­zich­tet, um – nach damals bes­tem Wis­sen und Gewis­sen – unse­ren Bei­trag zu leis­ten. Dafür haben wir jedoch hef­tige Kri­tik erfah­ren. Jetzt fin­den wir uns ohne eige­nes Zutun auf der ande­ren Seite wie­der: Wir blei­ben offen, Kul­tur­ein­rich­tun­gen aber nicht. Wir fei­ern Got­tes­dienste und wer­den nun dafür kri­ti­siert: Wie man es macht, macht man es falsch.

Ich habe diese neue Kri­tik als unfair emp­fun­den. Befrem­det hat mich vor allem eine seman­ti­sche Ver­schie­bung: Für mich ist Reli­gi­ons­frei­heit ein Men­schen- und ein Grund­recht, für man­che Kri­ti­ker aber ein „kirch­li­ches Pri­vi­leg“, das sich über­lebt habe. Ist das nicht ein gefähr­li­ches „Framing“? Man macht aus einem Grund­recht ein Pri­vi­leg für wenige selt­same Leute – z. B. Chris­ten, also einen unge­rech­ten Luxus, den man nach Belie­ben abschaf­fen kann oder viel­leicht sogar muss? Was geschieht, wenn man andere Grund­rechte einem sol­chen „Framing“ unterzieht?

Gegen­wär­tig erle­ben wir, wie bedroht die Reli­gi­ons­frei­heit ist. Wir sehen das in Deutsch­land beson­ders bei den bedroh­ten Syn­ago­gen. In Europa ist zudem eine deut­li­che Zunahme an Angrif­fen auf Kir­chen zu beob­ach­ten, vor allem in Frank­reich. Der isla­mis­ti­sche Ter­ror­akt in der Kathe­drale von Nizza sollte nicht zu schnell ver­ges­sen wer­den. Das Recht, seine Reli­gion frei – unter Ein­hal­tung aller Hygie­ne­re­geln – aus­zu­üben, ist ein Indi­ka­tor für die Huma­ni­tät einer Gesell­schaft. Dazu gehört nicht nur der Got­tes­dienst im enge­ren Sinn, son­dern genauso die Seel­sorge, also der Zugang von Seel­sor­ge­rin­nen und Seel­sor­gern zu Alten­hei­men, Kran­ken­häu­sern oder Behin­der­ten­ein­rich­tun­gen. Die Grund­rechte – dazu gehö­ren auch die Kunst­frei­heit, die Ver­samm­lungs­frei­heit – sind ele­men­tare Säu­len unse­rer Ver­fas­sung, die sich ver­än­dern, aber ihre hohe Gel­tung nicht ver­lie­ren dür­fen. Wir Kir­chen­leute dür­fen uns auf dem Grund­recht der Reli­gi­ons­frei­heit aller­dings nicht aus­ru­hen. Wir müs­sen mit unse­rer Arbeit zei­gen, warum es die­ses Grund­recht gibt, z. B. durch unsere Seelsorge.

Sich selbst und andere zu stär­ken, ist eine zen­trale Auf­gabe der Got­tes­dienste gerade im Advent. Er wird ja ganz anders sein als in den ver­gan­ge­nen Jah­ren: stil­ler, erns­ter, viel­leicht auch inni­ger. Er würde damit zurück­keh­ren zu sei­nen Anfän­gen. Denn ursprüng­lich ist der Advent eine Zeit der Fokus­sie­rung und Kon­zen­tra­tion, des War­tens, bis dar­aus irgend­wann die Vor­weih­nachts­zeit wurde, Wochen einer atem­lo­sen Zer­streu­ung. Jetzt könn­ten unsere Advents­got­tes­dienste eine kost­bare Gele­gen­heit sein, zur Besin­nung zu kommen.

Zum Schluss: Der christ­li­che Kult hat viel mehr mit Kul­tur zu tun, als man­che mei­nen. Das zeigt sich gerade jetzt. Wir bemü­hen uns, den Küns­ten in unse­ren Got­tes­diens­ten einen Ort zu bie­ten. Das ist kein Ersatz für aus­ge­fal­lene Ver­an­stal­tun­gen, das lin­dert auch die wirt­schaft­li­che Not nicht, selbst wenn wir ange­mes­sene Hono­rare zah­len. Aber ein wich­ti­ges Zei­chen der Ver­bun­den­heit ist es doch. Gerade jetzt soll­ten wir keine unnö­ti­gen Kon­flikte aus­fech­ten. Viel­mehr soll­ten wir – die Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, die Künste, die Gesell­schaft ins­ge­samt – ver­su­chen, diese Krise gemein­sam zu über­win­den. Denn wir durch­le­ben harte, und beson­ders für viele Künst­le­rin­nen und Künst­ler schlimme Zeiten.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2020-01/2021.

Von |2021-01-08T09:59:06+01:00Dezember 8th, 2020|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

Kul­tur ver­sus Religion?

Jetzt keine unnö­ti­gen Kon­flikte ausfechten!

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.