Außerhalb der Spielekultur werden digitale Spiele vor allem mit Unterhaltung assoziiert. Ihre Potenziale als Impulsgeber und Diskursmedium werden hingegen unterschätzt, obwohl sie eine immer größere Rolle in unserem Alltag einnehmen. In Deutschland werden Computerspiele laut dem Branchenverband game von rund 35,4 Millionen Menschen über Altersgrenzen hinweg gespielt. Dieses Potenzial kann genutzt werden, um die Vergangenheit auch digital lebendig zu halten – insbesondere im Angesicht der zunehmenden gesellschaftlichen Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen und des Verschwindens der letzten Zeitzeuginnen des Holocaust. Mit der Initiative »Erinnern mit Games« widmet sich die Stiftung Digitale Spielekultur als Chancenbotschafterin der Stärkung von Computerspielen als digitales Erinnerungsmedium. In Form von Publikationen, Podcasts und Fachveranstaltungen schafft sie Orientierung, vermittelt Diskurse und vernetzt Akteure der Erinnerungskultur und der Spieleentwicklung.
Diese Vermittlungsarbeit erhält besondere Relevanz dadurch, dass antidemokratische Kräfte ihrerseits das Potenzial von Computerspielen für sich entdecken. Erst im September 2020 provozierten Spitzenkader der rechtsextremen Identitären Bewegung (IB), finanziert durch den vom Verfassungsschutz beobachteten Verein Ein Prozent, mit der Veröffentlichung eines vor antisemitischen Verschwörungsmythen strotzenden Computerspiels. Nicht im Verborgenen, sondern mit aufwendiger Werbekampagne und aggressiver Social-Media-Strategie.
Für Philip Stein, den Betreiber von Ein Prozent, »der nächste logische Schritt in unserer Strategie der Gegenkultur«, wie er auf dem YouTube-Kanal des Vereins verkündet. IB-Galionsfigur Martin Sellner und der identitäre Spielentwickler Roland Moritz sprechen im Interview auf dem Videoportal BitChute in gleicher Weise von einem »riesen Markt«, mit dem sich »extrem viele junge Leute« und »vor allem junge Männer« politisch erreichen lassen.
Leerstellen der Erinnerungskultur
Computerspiele sind längst zum erinnerungskulturellen Diskursfeld geworden. Und wenn auch in digitalen Spielen die deutsche Erinnerungskultur als »Schuldkult« diffamiert wird, besteht dringender Handlungsbedarf. Die Stiftung Digitale Spielekultur möchte mit ihrer Initiative daher konstruktive Schlaglichter auf das Erinnern mit Games richten. Denn im Kontext der Frage, was und wie wir unsere Vergangenheit erinnern wollen, lassen Computerspiele häufig noch Leerstellen. Besonders im Kontext der Zeit des Nationalsozialismus liegt der Fokus von Ego-Shootern wie »Call of Duty: WWII« (2017) oder Strategiespielen wie »Hearts of Iron IV« (2016) eher auf militärischen Konflikten und reibungsloser Unterhaltung. Wie der Spielentwickler Jörg Friedrich pointiert in einem Interview zusammenfasst, gäbe es in einer rein durch Computerspiele vermittelten Geschichte wohl »(…) keinen Holocaust und Nazis wären die Fraktion, die zwar niemand mag, die aber die schicksten Uniformen und die besten Panzer hat.«
Diese erinnerungskulturellen Leerstellen werden gefüllt, nicht immer jedoch in wünschenswerter Weise. Bereits in den 1990er Jahren sorgt der in rechtsradikalen Kreisen entwickelte und verbreitete »KZ-Manager« – die zynische Wirtschaftssimulation eines Konzentrationslagers – für internationale Aufregung. Aber auch abseits extremistischer Gesinnungen werden historische Lücken kompensiert. Im Jahr 2010 veröffentlicht etwa israelische Entwickler den Ego-Shooter »Sonderkommando Revolt«, der in kruder und blutiger Weise einen KZ-Aufstand darstellt. In jüngster Zeit machen von Spielenden selbst produzierte Modifikationen für das Strategiespiel »Civilization VI« (2016) das Deutsche Reich unter Adolf Hitler zur spielbaren Fraktion – durchaus aus historischem Interesse. Ebenso lassen sich auf dem Videoportal YouTube diverse Touren durch ein im Spiel »Minecraft« (2011) nachgebautes KZ Auschwitz finden. Erinnerungskultur mit Games findet aus individueller Initiative heraus also bereits punktuell statt, muss jedoch aufmerksam und kritisch betrachtet sowie in historische Kontexte eingebunden werden.
Der lange Weg zur Sozialadäquanz
Besonders die letzten beiden Beispiele zeigen jedoch, dass unter den Spielenden ein ernst zu nehmendes Interesse existiert, sich mit der Zeit des Nationalsozialismus und insbesondere mit den Verbrechen des NS-Regimes auseinanderzusetzen. Dass dieses Interesse für die längste Zeit kaum von professionellen Produktionen aus Deutschland adäquat aufgegriffen wurde, lässt sich jedoch nicht allein durch einen vermeintlichen Fokus auf harmlosen Spielspaß erklären. Gerade hierzulande hat bis ins vergangene Jahr eine unklare Rechtslage nahezu jede Auseinandersetzung mit unserer nationalsozialistischen Vergangenheit in Games so gut wie unmöglich gemacht. Denn während etwa Filmen oder Comics schon seit vielen Jahren die notwendige Sozialadäquanz gesellschaftlich zuerkannt wird, um im Rahmen von Aufklärung, Bildung und Kunst die Akteure und Symbole des NS-Regimes darzustellen, war dies für Computerspiele für die längste Zeit nicht möglich – zumindest nicht ohne erhebliche rechtliche Risiken.
Erst 2019 kommt es zu einer neuen Spruchpraxis der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK), die im Rahmen einer Einzelfallprüfung nun auch die Sozialadäquanz von Computerspielen rechtssicher feststellt. Ausgerechnet der Ego-Shooter »Wolfenstein II: The New Colossus« (2017) hat durch inhaltliche Anpassungen eine konstruktive Diskussion darüber angeregt, dass die bisherigen Regelungen nicht mehr zeitgemäß sind. So wurde für den deutschen Markt etwa die jüdische Herkunft des Protagonisten sowie Bezüge zum Holocaust getilgt. Im selben Jahr konnte »Attentat 1942«, entwickelt unter anderem von Historikern der tschechischen Karls-Universität, nicht auf Vertriebsplattformen in Deutschland erscheinen, weil das Adventurespiel umfangreich auf historisches Archivmaterial mit einschlägigen Symbolen zurückgreift. Mit »Through the Darkest of Times« ist in diesem Jahr nun ein Strategiespiel erschienen, das erstmals von der neuen Spruchpraxis profitieren kann und weltweit positiv aufgenommen wurde.
Gemeinsam neue Konzepte entwickeln
Dass herausragende Beispiele wie »Through the Darkest of Times«, ein Spiel über den zivilen Widerstand gegen das NS-Regime, und »Attentat 1942«, ein Spiel über die nationalsozialistische Besetzung der ehemaligen Tschechoslowakei, überhaupt um Anerkennung als ernst zu nehmende Kulturgegenstände kämpfen mussten, zeigt, dass es noch viel Vermittlungsbedarf für das erinnerungskulturelle Potenzial von Computerspielen gibt. Die Stiftung Digitale Spielekultur hat es sich daher als Brückenbauerin zwischen Games-Branche und Zivilgesellschaft zur Aufgabe gemacht, einen überfälligen Dialog über die Rolle von Computerspielen für unsere Erinnerungskultur anzustoßen. Denn nur im gemeinsamen Gespräch können Vorurteile abgebaut und Synergien zwischen analoger Expertise und neuen digitalen Pfaden entdeckt werden. Zu diesem Zweck wurde, finanziert durch das Förderprogramm »digital//memory« der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft«, im Juni 2020 ein Pitch Jam veranstaltet.
Der dreitägige Ideenwettbewerb hat Akteure der Erinnerungskultur erfolgreich mit Akteuren der Spielekultur in Kontakt gebracht, um neue Zugänge zum Erinnern mit Games zu schaffen. Grundlage für die Bewertung der Ergebnisse des Pitch Jam sind zehn Leitfragen, die von einer hochkarätigen Jury aus Vertreterinnen und Vertretern der Gedenkstättenarbeit, Geschichtswissenschaft und Spielentwicklung gemeinsam entwickelt und im Handbuch »Erinnern mit Games« der Stiftung Digitale Spielekultur veröffentlicht sowie in einem gleichnamigen Podcast aufgearbeitet wurden. Die Leitfragen vermitteln Orientierung bei der sensiblen Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus im Rahmen von Computerspielen, formulieren qualitative Eckpunkte und regen dennoch zu einem kreativen und mutigen Umgang mit der Vergangenheit an. Die Ergebnisse der interdisziplinären Teams des Pitch Jam, sieben durchdachte und innovative Spielkonzepte, die ebenfalls im Handbuch vorgestellt werden, illustrieren deutlich das Potenzial von Games für die Erinnerungskultur.
Neue Zielgruppen erreichen
Laut einer Studie der Körber Stiftung aus dem Jahr 2017 weiß nur etwa die Hälfte der 14- bis 16-Jährigen, was Auschwitz-Birkenau war. Gleichzeitig können immer weniger Zeitzeugen persönlich an die Menschheitsverbrechen des NS-Regimes erinnern. Die Rolle von Computerspielen für die Erinnerungskultur zu stärken, ist so besonders für junge Generationen relevant. In Games kommen gerade Kinder und Jugendliche selbstbestimmt in Kontakt mit der Vergangenheit. Sie erleben historische Orte, setzen sich mit der Multiperspektivität von Geschichte aktiv auseinander und können die virtuellen Abbilder von Zeitzeugen treffen und befragen. Diese Chance gilt es zu nutzen, involvierende Angebote zu ermöglichen sowie vor allem auch für bestehende Leerstellen zu sensibilisieren, um der schleichenden Vereinnahmung von rechts außen souverän zu begegnen. Die Erinnerung an die Vergangenheit macht vor medienkulturellen Verschiebungen nicht halt, sondern muss stets in aktuelle Medienkontexte übersetzt werden.
Die Stiftung Digitale Spielekultur möchte diesen Prozess auch in Zukunft aktiv mitgestalten. Dazu ist für 2021 unter anderem eine eintägige Fachkonferenz geplant, die den Dialog von Erinnerungskultur und Spielentwicklung vertieft und die Chancen des Erinnerns mit Games weiter aktiv in die Gesellschaft hineinträgt. Eine wachsende Datenbank von Computerspielen, die erinnerungskulturelle Best Practices versammelt, soll ebenso aufgebaut werden. Digitale Spiele können selbstverständlich und wie andere Medien zuvor der zentralen Aufgabe gerecht werden, die Erinnerung an unsere Vergangenheit am Leben zu halten. Dazu benötigen sie sowohl die bereits etablierten Erfahrungswerte gesellschaftlichen Erinnerns als auch vorurteilsfreies Vertrauen in ihr Potenzial als involvierendes Kulturmedium. Für die längste Zeit wurde ihnen diese verantwortungsvolle Aufgabe nicht zugetraut. Damit die Erinnerungskultur auch weiterhin alle Gruppen der Gesellschaft erreicht, lohnt sich der offene Dialog mit Games.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2020-01/2021.