Kunst und Kul­tur für alle?

Kul­tu­relle Teil­habe und Kul­tur­ver­mitt­lung in der DDR 

Im Jahr 1990 mit der Wie­der­ver­ei­ni­gung wurde sehr schnell ver­sucht, das wirt­schaft­li­che, gesell­schaft­li­che und kul­tu­relle Leben der DDR den Bedin­gun­gen in der BRD anzu­glei­chen. Zugleich wurde erst­ma­lig im Ver­trag zur Deut­schen Ein­heit ein eige­ner Kul­tur­för­der­pa­ra­graf instal­liert, dem­zu­folge die reich­hal­tige kul­tu­relle Infra­struk­tur der DDR erhal­ten wer­den sollte. Das führte dazu, dass kaum eines der vie­len Thea­ter, Museen und Orches­ter in der DDR geschlos­sen wurde. Was jedoch sehr schnell weg­brach und wor­über kaum gespro­chen wurde, war das breite Netz der DDR-spe­zi­fi­schen brei­ten­kul­tu­rel­len, sozio­kul­tu­rel­len, jugend­kul­tu­rel­len und betrieb­li­chen Ein­rich­tun­gen und Ver­mitt­lungs­in­stan­zen, mit denen der DDR-Staat auch auf kul­tu­rel­lem Gebiet ver­sucht hatte, par­tei­li­che, „sozia­lis­ti­sche Per­sön­lich­kei­ten“ her­aus­zu­bil­den, die krea­tiv schöp­fe­risch, initia­tiv und umfas­send gebil­det die sozia­lis­ti­sche Gesell­schaft vor­an­brin­gen soll­ten. Dafür gab der Staat im Ver­hält­nis weit mehr aus als die Bun­des­re­pu­blik und weit mehr, als er sich eigent­lich leis­ten konnte, so Gerd Diet­rich in sei­ner „Kul­tur­ge­schichte der DDR“ (2018).

„Erstürmt die Höhen der Kul­tur!“ – mit die­sem Anspruch an die Arbei­ter­schaft wur­den in der DDR sowohl die klas­si­sche Kunst und ihre Ver­mitt­lung inten­siv geför­dert wie die sozia­lis­ti­sche Gegen­warts­kunst, ebenso wie die Volks­kunst und ab den 1970er Jah­ren auch die Unterhaltungskünste.

Kul­tu­relle Arbeit und Kul­tur­ver­mitt­lung waren ver­bind­lich ver­an­kert in den Kitas, den Schu­len, den Jugend­or­ga­ni­sa­tio­nen, dem Wohn­um­feld und vor allem in den Betrie­ben. Im Zuge des soge­nann­ten „Bit­ter­fel­der Weges“ wur­den alle Betriebe seit den 1950er Jah­ren ver­pflich­tet, kul­tu­relle Ange­bote bereit­zu­stel­len sowohl in Form rezep­ti­ver Akti­vi­tä­ten wie gemein­same Thea­ter­be­su­che oder Lesun­gen wie auch in Form von Zir­keln für das künst­le­risch-kul­tu­relle oder hand­werk­li­che Lai­en­schaf­fen. Künst­le­rin­nen und Künst­ler wur­den in die betrieb­li­che Kul­tur­ar­beit integriert.

Das „künst­le­ri­sche Volks­schaf­fen“ wurde als Mas­sen­be­we­gung aus­ge­baut, anfäng­lich sogar mit der Per­spek­tive, die Gren­zen zwi­schen Lai­en­kunst­schaf­fen und pro­fes­sio­nel­lem Kunst­schaf­fen zuneh­mend auf­zu­lö­sen. Die Ergeb­nisse des Lai­en­kunst­schaf­fens wur­den in den Betrie­ben, in Wett­be­wer­ben und Fes­ti­vals und auf den Arbei­ter­fest­spie­len pro­mi­nent präsentiert.

Damit ver­bun­den war die Eta­blie­rung von Kul­tur­häu­sern, auch in länd­li­chen Regio­nen, die ein brei­tes Spek­trum kul­tu­rel­ler Akti­vi­tä­ten anboten.

Bereits seit Mitte der 1960er Jahre wur­den in der DDR umfas­sende empi­ri­sche Stu­dien zu den „Kul­tur­be­dürf­nis­sen und kul­tu­rel­len Akti­vi­tä­ten der Werk­tä­ti­gen“ durch­ge­führt, um deren Inter­es­sen und die Wir­kun­gen der kul­tu­rel­len Ange­bote zu ermit­teln. Auf Basis der ernüch­tern­den Ergeb­nisse, dass sich ein Groß­teil der Arbei­ter­schaft nur wenig für Thea­ter, Lite­ra­tur und noch weni­ger für poli­ti­sche Vor­träge inter­es­sierte, son­dern vor allem für gesel­lig­keits­ori­en­tierte, unter­halt­same Kul­tur­for­men wie Tanz­ver­an­stal­tun­gen, Schla­ger- und Beat­mu­sik, Spiele und Feste, wurde auch der unter­hal­ten­den Kunst und Kul­tur ein zuneh­mend hoher Stel­len­wert bei­gemes­sen. Auf­grund eines feh­len­den Mark­tes för­derte und orga­ni­sierte der Staat auch die Unter­hal­tungs­künste und auch Kunst­schaf­fende der „U-Musik“ hat­ten ein Stu­dium zu absol­vie­ren. Par­al­lel wur­den viel­fäl­tige Über­le­gun­gen ange­stellt, wie man auch bei den „Arbei­tern“ kom­ple­xere kul­tu­relle Bedürf­nisse aus­bil­den könnte – so z. B. von Erhard John (1973) und Lothar Parade 1974. Viele der Ori­gi­nal­texte der Kul­tur­wis­sen­schaft­ler der DDR for­mu­lie­ren dabei ähn­li­che Ansprü­che wie heu­tige Texte zur kul­tu­rel­len Bil­dung und kul­tu­rel­len Teilhabe.

In einem For­schungs­pro­jekt, in das auch Stu­die­rende der Hil­des­hei­mer Kul­tur­wis­sen­schaf­ten ein­ge­bun­den waren, wurde auf Basis von Ori­gi­nal­do­ku­men­ten der SED-Kul­tur­po­li­tik, Pra­xis­an­lei­tun­gen für Kul­tur­ar­bei­tende, Stu­dien von DDR-Kul­tur­so­zio­lo­gen unter­sucht, inwie­fern es in der DDR gelang, Ziele einer „Kul­tur für alle“ zu errei­chen. Zen­trale Erkennt­nisse konn­ten aus 65 Inter­views mit Zeit­zeu­gin­nen und -zeu­gen sowie aus 33 Inter­views mit Exper­tin­nen und Exper­ten aus Kul­tur­wis­sen­schaft, Kul­tur­ver­mitt­lung, Kul­tur­po­li­tik und Kunst­schaf­fen­den gewon­nen werden.

In den unter­schied­li­chen Quel­len und Inter­views wird die Dif­fe­renz zwi­schen den offi­zi­el­len Tätig­keits­be­rich­ten der Kul­tur­funk­tio­näre und den im Kul­tur­sek­tor tat­säch­lich statt­fin­den­den Akti­vi­tä­ten betont. Nicht nur gelang es den Men­schen unter Nut­zung der staat­li­chen Res­sour­cen zuneh­mend, ihre eige­nen kul­tu­rel­len Inter­es­sen durch­zu­set­zen, auch wur­den die kul­tu­rel­len Akti­vi­tä­ten für viele zum Frei­raum vor staat­li­cher Bevor­mun­dung. Trotz Zen­sur des pro­fes­sio­nel­len wie des Lai­en­kul­tur­schaf­fens gab es Nischen, die für alter­na­tive und zum Teil sub­kul­tu­relle künst­le­ri­sche und kul­tu­relle Akti­vi­tä­ten genutzt wur­den. Mit Ver­bo­ten und ideo­lo­gi­scher Ein­engung for­cier­ten Par­tei und Staats­funk­tio­näre unge­wollt das wider­stän­dige Poten­zial der Künste sowie die Fähig­keit in der brei­ten Bevöl­ke­rung, „zwi­schen den Zei­len zu lesen“, die Mehr­deu­tig­keit und viel­schich­ti­gen Bot­schaf­ten der Künste zu erken­nen und für sich zu nutzen.

Als Ergeb­nis ist fest­zu­hal­ten: Auch in der avi­sier­ten „klas­sen­lo­sen Gesell­schaft“ der DDR blie­ben Unter­schiede zwi­schen den Bil­dungs­schich­ten, zwi­schen der soge­nann­ten „Intel­li­genz“ und den „Arbei­tern und Bau­ern“ in Bezug auf kul­tu­relle Inter­es­sen und Akti­vi­tä­ten bestehen. Trotz viel­fäl­ti­ger Ver­mitt­lungs­maß­nah­men gelang es nicht, Men­schen aller sozia­len Schich­ten und vor allem die avi­sierte Arbei­ter­schaft für kom­plexe For­men zeit­ge­nös­si­scher Kunst sowie klas­si­scher Hoch­kul­tur nach­hal­tig zu inter­es­sie­ren, was dafür spricht, dass soziale Lebens­ver­hält­nisse immer auch unter­schied­li­che kul­tu­relle Inter­es­sen aus­bil­den und die Idee einer „Hoch­kul­tur für alle“ sich als unrea­lis­tisch erweist. Das führte in der DDR-Kul­tur­po­li­tik zur Erwei­te­rung des­sen, was als „legi­time Kul­tur geför­dert wird.

Zugleich kamen alle durch die sys­te­ma­ti­sche Ein­bin­dung in ihren All­tag mit viel­fäl­ti­gen Kunst- und Kul­tur­for­men in Berüh­rung und erhiel­ten erste Zugänge dazu. Kul­tur­ver­mitt­lung war als durch­gän­gige Folge vom Kin­der­gar­ten über Schule, Jugend­or­ga­ni­sa­tio­nen und Betriebe inte­griert und der Kon­takt zu unter­schied­li­chen Kunst- und Kul­tur­for­men brach damit auch im Erwach­se­nen­al­ter nicht ab.

Erkennt­nisse für den aktu­el­len Dis­kurs um kul­tu­relle Teilhabe

Für den aktu­el­len Dis­kurs, wie eine chan­cen­ge­rech­tere kul­tu­relle Bil­dung imple­men­tiert wer­den kann, sind Erfah­run­gen aus der DDR-Kul­tur­po­li­tik durch­aus inter­es­sant, auch wenn diese immer vor dem Hin­ter­grund eines auto­ri­tä­ren Sys­tems betrach­tet wer­den müs­sen: Inves­tiert wurde in ein flä­chen­de­cken­des Sys­tem von Ver­mitt­lung in den ver­schie­de­nen All­tags­be­rei­chen und nicht nur in tem­po­räre Pro­jekte. Es bestan­den struk­tu­rell ver­an­kerte Koope­ra­ti­ons­be­zie­hun­gen zwi­schen den unter­schied­li­chen Ver­mitt­lungs­in­stan­zen, zwi­schen Bil­dungs-, Frei­zeit-, Kul­tur­ein­rich­tun­gen, zwi­schen Betrie­ben und freien Kunst­schaf­fen­den und dau­er­hafte Paten­schaf­ten von Kin­der­gär­ten, Schu­len, Betrie­ben und Jugend­häu­sern mit Kul­tur­ein­rich­tun­gen wie Biblio­the­ken, Museen, Thea­ter- und Konzerthäusern.

Sys­te­ma­tisch und regel­mä­ßig wur­den die kul­tu­rel­len Inter­es­sen und die Kul­tur­nut­zung empi­risch erforscht, und es wur­den dar­aus kul­tur­po­li­ti­sche Kon­se­quen­zen gezogen.

In der DDR wur­den nicht nur Kin­der und Jugend­li­che als Ziel­grup­pen kul­tu­rel­ler Bil­dung adres­siert, son­dern im Sinne eines lebens­lan­gen Ler­nens auch alle Werk­tä­ti­gen, die man über die Betriebe und Aus­bil­dungs­stät­ten erreichte. Dadurch, dass oft pro­fes­sio­nelle Künst­le­rin­nen und Künst­ler die Ver­mitt­lungs­ar­beit in den Zir­keln über­nah­men, hat­ten diese nicht nur ein zusätz­li­ches Ein­kom­men, son­dern es ent­stan­den Kon­takte zwi­schen Kunst­schaf­fen­den und Arbeit­neh­mern sowie wech­sel­sei­tige Ein­bli­cke in ihre Lebens- und Schaffenswelten.

Auch in der DDR war die Ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung mit Kunst und Kul­tur in länd­li­chen Räu­men schwä­cher ent­wi­ckelt als in den Groß­städ­ten. Den­noch wurde in allen länd­li­chen Regio­nen in Kul­tur­häu­ser inves­tiert, die ein brei­tes Ange­bot mit Gast­spie­len und Kul­tur­zir­keln boten, in vie­len Dör­fern gab es eine Biblio­thek und es wur­den gemein­same Bus­rei­sen zu Thea­ter-, Kon­zert- und Muse­ums­be­su­chen durchgeführt.

Im Erwach­se­nen­al­ter nicht kunst­af­fine Men­schen noch für Kunst- und Kul­tur­ange­bote zu inter­es­sie­ren und zu mobi­li­sie­ren, ist für Kul­tur­ein­rich­tun­gen auf­grund viel­fäl­ti­ger Bar­rie­ren nur schwer mög­lich, wie Erkennt­nisse der aktu­el­len Audi­ence-Deve­lo­p­ment-For­schung zei­gen. Auch in der DDR beschäf­tigte man sich mit Bar­rie­ren kul­tu­rel­ler Teil­habe und ver­suchte, diese abzu­bauen: Die kul­tu­rel­len Ange­bote waren kos­ten­los oder sehr kos­ten­güns­tig. Es gab aus­rei­chend Zeit, diese wahr­zu­neh­men, weil sie in den schu­li­schen Zeit­plan oder die Arbeits­zeit inte­griert waren. Die Ange­bote wur­den von Schu­len, Arbeit­ge­bern oder gesell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen vor­be­rei­tet, durch­ge­führt und nach­be­rei­tet. Man nahm daran in der Gruppe teil, also in ver­trau­ter Beglei­tung, wodurch Schwel­len­ängste abge­baut wer­den konn­ten. Die für die Mehr­heit sehr wich­tige soziale und gesel­lige Dimen­sion von Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen war meis­tens integriert.

Die soziale Her­kunft spielte eine weni­ger große Rolle für die Ent­wick­lung kul­tu­rel­ler Inter­es­sen auf­grund der viel­fäl­ti­gen Ver­mitt­lungs­struk­tu­ren, in die alle ein­ge­bun­den waren sowie auf­grund der sehr viel län­ge­ren Zeit, die für sol­che Maß­nah­men zur Ver­fü­gung stand in den Ganz­tags­schu­len und den staat­lich orga­ni­sier­ten Frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten. Die Ver­mitt­lungs­an­ge­bote bra­chen nicht weg nach Ende der Schul­zeit, son­dern wur­den in der Berufs­aus­bil­dung und den Betrie­ben fortgesetzt.
Die Publi­ka­tion der For­schungs­er­geb­nisse erscheint im Okto­ber 2020: Bir­git Mandel/Birgit Wolf „Staats­auf­trag: Kunst und Kul­tur für alle – Ziele, Pro­gramme und Wir­kun­gen von Kul­tur­ver­mitt­lung und kul­tu­rel­ler Teil­habe in der DDR“ bei transcript.

Die­ser Bei­trag ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2020.

Von |2020-11-05T13:11:48+01:00November 5th, 2020|Heimat|Kommentare deaktiviert für

Kunst und Kul­tur für alle?

Kul­tu­relle Teil­habe und Kul­tur­ver­mitt­lung in der DDR 

Birgit Mandel ist Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Dort leitet sie den Studienbereich Kulturvermittlung und Kulturmanagement.