Wis­sen wir noch, wer wir sind?

Zivil­ge­sell­schaft in Europa anno 2020

Die Zivil­ge­sell­schaft, wie sie bis­her in Europa ver­stan­den wurde, ist Teil eines Demo­kra­tie­ver­ständ­nis­ses, das nicht mehr selbst­ver­ständ­lich ist. Das Europa, das nach dem Zwei­ten Welt­krieg auf­ge­baut wurde, bewegte sich im Gra­vi­ta­ti­ons­feld eines gut­mü­ti­gen Hege­mo­nen, der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­rika. Von den atlan­ti­schen Revo­lu­tio­nen über Wil­sons Idea­lis­mus bis zur Atlan­tik-Charta und Roo­se­velts Ver­ein­ten Natio­nen: Ohne es hin­sicht­lich sei­ner tat­säch­li­chen Ver­wirk­li­chung in der ame­ri­ka­ni­schen Innen- und Außen­po­li­tik ver­klä­ren zu wol­len, war das Ideal einer offe­nen Gesell­schaft für die Her­aus­bil­dung zivil­ge­sell­schaft­li­cher Struk­tu­ren im Nach­kriegs­eu­ropa prä­gend und der ame­ri­ka­ni­sche Ein­fluss ent­spre­chend groß.

Die USA hat­ten nach 1945 maß­geb­li­chen Anteil am demo­kra­ti­schen Wie­der­auf­bau, an der Durch­set­zung einer offe­nen Gesell­schaft und an der För­de­rung demo­kra­ti­scher Par­teien und zivil­ge­sell­schaft­li­cher Struk­tu­ren in West­eu­ropa. Heute spre­chen selbst Ver­tei­di­ger der frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung nur noch ungern und eigen­tüm­lich ver­schämt von den west­li­chen Wer­ten, die dem ame­ri­ka­ni­schen Ein­satz in und für Europa neben legi­ti­men Sicher­heits- und Wirt­schafts­in­ter­es­sen zugrunde lagen.

Spä­tes­tens seit 9/11 ist das west­li­che Gra­vi­ta­ti­ons­feld immer schwä­cher gewor­den, und die nach 1990 erheb­li­che ame­ri­ka­ni­sche Unter­stüt­zung der jun­gen Demo­kra­tien in Mit­tel­ost­eu­ropa und der für deren Bestand unver­zicht­ba­ren zivil­ge­sell­schaft­li­chen Struk­tu­ren hat seit der Welt­fi­nanz­krise immer mehr nach­ge­las­sen. Es gibt eine frap­pie­rend hohe Kor­re­la­tion zwi­schen der Abkehr der USA von Europa, das im asia­ti­schen Jahr­hun­dert an die Peri­phe­rie eines neuen glo­ba­len Rin­gens rückt, und der auf dem alten Kon­ti­nent und in sei­nem Nah­feld um sich grei­fen­den Insta­bi­li­tät. Die gesamt­eu­ro­päi­sche Zivil­ge­sell­schaft bleibt von die­sem säku­la­ren Gesche­hen nicht unbe­rührt, zumal ein revi­sio­nis­ti­sches Russ­land und das zu impe­ria­ler Größe auf­stei­gende China sowie auf dem Bal­kan auch die Tür­kei das in Europa ent­stan­dene Vakuum bereits mit den ihnen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln und gänz­lich ande­ren Gesell­schafts­ent­wür­fen füllen.

Die Kri­sen­wel­len, die Europa seit der Jahr­hun­dert­wende tref­fen, haben das Wer­te­fun­da­ment auf­ge­weicht, auf dem die Euro­päi­sche Union errich­tet wurde, und es wird immer deut­li­cher, dass es Alter­na­tiv­an­ge­bote für die poli­ti­sche und die gesell­schaft­li­che Ord­nung gibt, die teils alt­be­kann­ten Mus­tern fol­gen, teils und unter den Bedin­gun­gen einer digi­ta­li­sier­ten Welt etwas Neues darstellen.

Das Bewusst­sein, dass das frei­heit­li­che Gesell­schafts­mo­dell alles andere als selbst­ver­ständ­lich ist, dringt nur all­mäh­lich durch. Die Kräfte der Ver­nei­nung sind vie­ler­orts bereits an der Macht. Sie haben damit begon­nen, die Werte umzu­wer­ten, auf denen die EU errich­tet wurde und deren Aner­ken­nung auch Vor­aus­set­zung zum Bei­tritt in diese west­li­che Wer­te­ge­mein­schaft war.

Der jüngst ver­öf­fent­lichte erste Rechts­staats­be­richt der Euro­päi­schen Kom­mis­sion deckt sich mit den Befun­den des Euro­päi­schen Wirt­schafts- und Sozi­al­aus­schus­ses (EWSA), in dem eine unter erheb­li­chem Druck ste­hende Gruppe in den ver­gan­ge­nen zwei Jah­ren Län­der­be­richte zur Lage von Grund­rech­ten und Rechts­staat­lich­keit anfer­tigte. Inzwi­schen arbei­tet aber auch im EWSA eine grö­ßer wer­dende Min­der­heit „zivil­ge­sell­schaft­li­cher“ Ver­tre­ter an einer Umwer­tung bis­her unstrit­ti­ger euro­päi­scher Werte. Diese Ent­wick­lung ist das Spie­gel­bild einer neuen Wirk­lich­keit: In wei­ten Tei­len Euro­pas gibt es den Wes­ten als poli­ti­sches Wer­te­sys­tem bereits nicht mehr.

Statt­des­sen gibt es heute im EWSA hoch­ran­gige Reprä­sen­tan­ten der orga­ni­sier­ten Zivil­ge­sell­schaft etwa aus Polen, die das Rechts­staats­ver­ständ­nis der regie­ren­den Par­tei für Recht und Gerech­tig­keit selbst­be­wusst ver­tei­di­gen. Der bür­ger­schaft­li­che Ein­satz für öko­no­misch benach­tei­ligte Men­schen oder kari­ta­ti­ves Enga­ge­ment kann durch­aus mit einer Vor­liebe für auto­ri­täre Herr­schaft und patri­ar­cha­li­sche Struk­tu­ren ver­ein­bar sein, wie die neue Wirk­lich­keit in Europa beweist.

Die Über­nahme von Insti­tu­tio­nen durch illi­be­rale Demo­kra­ten und ihre zivil­ge­sell­schaft­li­che Gefolg­schaft ist eine Spät­phase im Ster­ben der west­li­chen Demo­kra­tie. Ein weit ver­brei­te­tes Virus, das die Abwehr­kräfte nach­hal­tig schwächt, ist die Kor­rup­tion, die Staa­ten wie etwa Bul­ga­rien längst zu „fai­led sta­tes“ macht. In der EU, so die bit­tere Erkennt­nis, gibt es geschei­terte Staaten.

Die Umwer­tung der Werte ist das eigent­li­che Ein­falls­tor, die Vor­aus­set­zung für die Unter­wan­de­rung und schließ­lich Über­nahme der Insti­tu­tio­nen. Diese Umwer­tung der Werte fin­det auch in Kon­tex­ten statt, die ihrer äuße­ren Form nach dem ähneln, was nach west­li­chem Ver­ständ­nis Zivil­ge­sell­schaft sein sollte, in Wahr­heit aber nicht ist. Aus Sicht der­je­ni­gen, die noch am west­li­chen Kon­zept der „civil society“ fest­hal­ten, muss diese Form bür­ger­schaft­li­chen Enga­ge­ments als „unci­vil society“ bezeich­net werden.

Bür­ger­schaft­li­ches Enga­ge­ment in Europa ist also längst nicht mehr per se als gut anzu­se­hen. Die Werte der EU, wie sie in den Ver­trä­gen ver­an­kert sind, Men­schen­würde, Demo­kra­tie, Frei­heit, Rechts­staat­lich­keit, Men­schen­rechte und der Schutz von Min­der­hei­ten, sie gel­ten nur noch in Tei­len die­ser aus­ein­an­der­drif­ten­den Union. Das macht sich nicht nur an der Unfä­hig­keit fest, eine gemein­same Asyl- und Migra­ti­ons­po­li­tik im Ein­klang mit dem inter­na­tio­na­len Recht zu vereinbaren.

Die EU fin­det bis dato keine adäquate Ant­wort auf diese Ent­wick­lun­gen. Viel­leicht sind sie schon zu weit fort­ge­schrit­ten, weil es eben längst nicht mehr nur um Ungarn geht. Dies zeigt sich exem­pla­risch am Unver­mö­gen, die För­der­mit­tel der künf­ti­gen EU-Haus­halte an die Ein­hal­tung der Rechts­staat­lich­keit, nach Grund­sät­zen, wie sie im poli­ti­schen Wes­ten fest­ge­legt wur­den, zu bin­den und auch ent­spre­chende Auf­la­gen für den Corona-Auf­bau­fonds vor­zu­se­hen. Das Aus­blei­ben wirk­sa­mer Anreize und Sank­tio­nen wird die zivil­ge­sell­schaft­li­chen Struk­tu­ren in den betrof­fe­nen Staa­ten immer mehr aushöhlen.

Diese weit fort­ge­schrit­te­nen Ent­wick­lun­gen sind aufs Engste mit Fra­gen der geschicht­li­chen Erfah­rung und der poli­ti­schen Kul­tur ver­bun­den, sie sind pfad- und kon­text­ab­hän­gig. Dass Ungarn mit sei­nem unver­ar­bei­te­ten Tria­non-Trauma unter dem Stress des Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­ses als Ers­tes fiel, ver­wun­dert nicht.

Die Tat­sa­che, dass Groß­bri­tan­nien von einem popu­lis­ti­schen Dem­ago­gen regiert wird und aus der EU geführt wurde und die USA kein Leucht­feuer der Frei­heit mehr sind, aber auch die gesell­schaft­li­che Unruhe in Deutsch­land, Frank­reich und Ita­lien zei­gen, dass die auto­ri­täre Ver­su­chung gewiss kein auf Ost­eu­ropa beschränk­tes Phä­no­men ist. Es gärt über­all in Europa.

Wie sollte die Zivil­ge­sell­schaft von alle­dem unbe­rührt blei­ben? Die beschrie­bene Ent­wick­lung in Europa und die Zukunft der euro­päi­schen Zivil­ge­sell­schaft sind in grö­ßere poli­ti­sche Ord­nungs­zu­sam­men­hänge ein­ge­bet­tet wie etwa den der sich in atem­be­rau­ben­dem Tempo auf­lö­sen­den Pax Ame­ri­cana. Wenn sich euro­päi­sche Staats- und Regie­rungs­chefs fas­zi­niert vom chi­ne­si­schen Ent­wick­lungs­mo­dell zei­gen und die Metho­den der rus­si­schen Füh­rung als nach­ah­mens­wert anse­hen, kann es nicht aus­blei­ben, dass auch bür­ger­schaft­li­ches Enga­ge­ment in den Sog einer neuen Zeit gerät, eine gänz­lich neue Ori­en­tie­rung erfährt.

Die Anhän­ger des unga­ri­schen Fidesz oder der pol­ni­schen PiS argu­men­tie­ren, sie ver­trä­ten die euro­päi­sche Kul­tur gegen eine deka­dente Zivi­li­sa­tion, als deren Ver­tre­ter sie Ver­fech­ter von Femi­nis­mus und Chan­cen­gleich­heit für sexu­elle Min­der­hei­ten, bedarfs­weise aber auch die deut­sche Bun­des­kanz­le­rin oder das „inter­na­tio­nale Juden­tum“ aus­ma­chen. Wäh­rend des Euro­pa­wahl­kampfs 2019 konnte Vik­tor Orbáns Par­tei unge­straft Pla­kate mit ein­deu­tig anti­se­mi­ti­schen Moti­ven auf­stel­len, die den Kom­mis­si­ons­prä­si­den­ten Jean-Claude Jun­cker und den ame­ri­ka­ni­schen Inves­tor und Phil­an­thro­pen George Soros verunglimpften.

Gibt es noch Hoff­nung? Nicht wenig wird vom Aus­gang der Prä­si­dent­schafts­wah­len in den USA abhän­gen und der Frage, ob eine neue trans­at­lan­ti­sche Part­ner­schaft mög­lich wird. Eine wie­der grö­ßere Hin­wen­dung Ame­ri­kas zu Europa wäre über­le­bens­wich­tig. Aller­dings müsste das zutiefst gespal­tene Ame­rika sich zunächst selbst wie­der­fin­den. Unab­hän­gig vom Ergeb­nis der Prä­si­dent­schafts­wah­len macht eine stär­kere Ver­bin­dung der frei­heit­lich aus­ge­rich­te­ten Zivil­ge­sell­schaft bei­der­seits des Atlan­tiks Sinn, um die Resi­li­enz wider den Auto­ri­ta­ris­mus zu stär­ken. Dass die Eli­ten die­ser Zivil­ge­sell­schaft dabei wie­der mehr Nähe zu den ein­fa­chen Men­schen fin­den müs­sen, ist eine wei­tere essen­zi­elle Vor­aus­set­zung für das Über­le­ben der offe­nen Gesellschaft.

Die Euro­päer allein kön­nen es ange­sichts der Viel­zahl bereits aus der Balance gera­te­ner Gesell­schaf­ten und der tek­to­ni­schen Ver­schie­bun­gen in der Welt des 21. Jahr­hun­derts kaum noch schaf­fen. Es sei denn, den west­li­chen Wer­ten ver­bun­dene zivil­ge­sell­schaft­li­che Kräfte sam­mel­ten sich und errich­te­ten durch ihr Enga­ge­ment in Ver­ei­nen und Ver­bän­den, aber auch in den demo­kra­ti­schen Par­teien, in Gewerk­schaf­ten und sons­ti­gen Struk­tu­ren der orga­ni­sier­ten Zivil­ge­sell­schaft bei­der­seits des Atlan­tiks einen Damm gegen die Kräfte der Ver­nei­nung. Vor­aus­set­zung dafür ist gewiss, dass die Zivil­ge­sell­schaft sich zunächst selbst erkennt, dass sie noch weiß, wer sie über­haupt ist, wo ihre Wur­zeln lie­gen und dass sie ihr Sosein nicht als selbst­ver­ständ­lich annimmt. Denn das wäre ein fata­ler Irrtum.

Die­ser Bei­trag ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2020.

Von |2020-11-04T11:22:41+01:00November 4th, 2020|Bürgerschaftliches Engagement|Kommentare deaktiviert für

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Zivil­ge­sell­schaft in Europa anno 2020

Christian Moos ist Generalsekretär der überparteilichen Europa-Union Deutschland, hauptamtlich Leiter der Stabsstelle Europa und Internationales des dbb beamtenbund und tarifunion und Mitglied des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses.