„Werte-Enga­ge­ment“

Bür­ger­schaft­li­ches Enga­ge­ment in den Bundesländern

Seit Beginn der Corona-Pan­de­mie geht mir ein Satz immer wie­der im Kopf herum. Die­ser Satz lau­tet: „Men­schen sind nicht hilfs­be­dürf­tig. Men­schen sind hel­fens­be­dürf­tig.“ Der Aus­spruch stammt vom Arzt und Schrift­stel­ler Klaus Dör­ner. Der­zeit erle­ben wir viele Men­schen, die ande­ren hel­fen wol­len, nicht, weil es eine Pflicht für sie wäre, son­dern weil sie es gern tun. Ganz so, als ob es ein tie­fes, sehr mensch­li­ches Grund­be­dürf­nis zum Hel­fen und zum Enga­ge­ment gibt.

Im Sep­tem­ber wid­mete sich die 3. Jah­res­ta­gung der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion dem bür­ger­schaft­li­chen Enga­ge­ment als gelebte Demo­kra­tie. Im Jahr der Pan­de­mie ein hoch­ak­tu­el­les und über­aus wich­ti­ges Thema. Die Kul­tur-Minis­ter­kon­fe­renz ist der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion im letz­ten Jahr mit ein­stim­mi­gen Beschluss bei­getre­ten, dass ermög­licht mir als Kul­tur­mi­nis­te­rin des Lan­des Bran­den­burg das Thema Enga­ge­ment und kul­tu­relle Inte­gra­tion über die Län­der­gren­zen hin­weg zu betrach­ten. Und ich würde gern begin­nen mit dem Begriff „Ehren­amt“. Ehren­amt – das klingt nicht nur unsexy, nie­mand der sich heute enga­giert, ver­steht sein Enga­ge­ment als Amt oder Ehre. Den­ken sie an die Akti­vis­tin­nen und Akti­vis­ten von Fri­days For Future. Sie spre­chen von zwin­gen­den Not­wen­dig­kei­ten der Unter­stüt­zung und des Enga­ge­ments. Als Sozi­al­de­mo­kra­tin würde ich hin­zu­fü­gen: Sie reden von Solidarität.

Wir sehen also, dass sich das Enga­ge­ment ver­än­dert – hin zu neuen For­men und Struk­tu­ren. Es erobert neue The­men, neue Ziel­grup­pen, ent­wi­ckelt andere Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­näle und Aus­drucks­for­mate. Enga­ge­ment funk­tio­niert nur noch ein­ge­schränkt über Mit­glied­schaf­ten in Ver­ei­nen, Ver­bän­den oder Par­teien. Gerade meine Par­tei kann ein Lied davon singen.

Fest steht jeden­falls, dass der Rück­gang der Anzahl an Ver­ei­nen in länd­li­chen Regio­nen und der Mit­glie­der­schwund in tra­di­ti­ons­rei­chen Orga­ni­sa­tio­nen keine Rück­schlüsse mehr auf die grund­sätz­li­che Enga­ge­ment­be­reit­schaft in der Gesell­schaft zulässt. Heu­ti­ges Enga­ge­ment ist ver­mehrt spo­ra­disch, pro­jekt- und the­men­be­zo­gen und drückt sich in neuen inno­va­ti­ven For­men aus. Das kön­nen digi­tale, künst­le­ri­sche, sehr krea­tive For­men sein. Es ist weni­ger ori­en­tiert an der Ehre und am Amt – aber dabei nicht weni­ger an einem star­ken per­sön­li­chen Wer­te­ho­ri­zont ori­en­tiert. Und ihr Enga­ge­ment ist auch nicht weni­ger enga­giert. Viel­leicht soll­ten wir lie­ber vom Werte-Enga­ge­ment als vom Ehren­amt sprechen.

Trotz die­ser begriff­li­chen Ver­än­de­run­gen sind die deut­schen Bun­des­län­der sehr gut auf diese Ent­wick­lun­gen vor­be­rei­tet, bei­spiels­weise erar­bei­tet Schles­wig-Hol­stein seit die­sem Jahr eine poli­tik­feld­über­grei­fende Enga­ge­ment­stra­te­gie. Die Stra­te­gie nimmt sich der neuen Enga­ge­ment­for­men an. Neue Enga­ge­ment­for­men för­dert gleich­falls die Han­se­stadt Bre­men. Sie ver­gibt dezi­diert Pro­jekt­mit­tel zur För­de­rung von Diver­si­tät im Bereich des migran­ti­schen Ehren­amts und der Selbst­hil­fe­för­de­rung. Für mich ist damit klar, dass alle staat­li­chen Ebe­nen sich auf neue Part­ner in der Zivil­ge­sell­schaft und des akti­ven bür­ger­schaft­li­chen Enga­ge­ments ein­stel­len müs­sen. Doch gerade in länd­li­chen Regio­nen ist es wich­tig, dass sich tra­di­tio­nelle Enga­ge­ment­or­ga­ni­sa­tio­nen mit Blick auf die ver­än­der­ten Aus­drucks­for­men anpas­sen. Neue Orte des Enga­ge­ments müs­sen geschaf­fen und gestärkt wer­den. Es braucht Räume, in denen sich Enga­gierte ver­net­zen kön­nen. Das kön­nen Frei­wil­li­gen­agen­tu­ren, Mehr­ge­ne­ra­tio­nen­häu­ser, Begeg­nungs­stät­ten oder offene Gemein­de­räume sein. Oder soge­nannte Kul­tur­kno­ten­punkte wie in Schles­wig-Hol­stein. Oder spe­zi­elle För­der­pro­gramme, wie das des Minis­te­ri­ums für Kul­tur und Wis­sen­schaft des Lan­des Nord­rhein-West­fa­len. Es sieht „Dritte Orte“ vor. Das sind spe­zi­elle Häu­ser für Kul­tur und Begeg­nung in länd­li­chen Räumen.

Natür­lich fin­den wir Bun­des­län­der es auch super, wenn der Bund mit dabei ist. Aus Län­der­sicht ist da das im Januar gestar­tete Bun­des­pro­gramm „Haupt­amt stärkt Ehren­amt“ als gemein­sa­mes Pro­jekt des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Ernäh­rung und Land­wirt­schaft und des Deut­schen Land­kreis­ta­ges sehr will­kom­men. Viel­leicht hät­ten sie es nur anders nen­nen sol­len: „Haupt­amt stärkt Werteengagement“.

Wir dür­fen auch die neuen Mög­lich­kei­ten der Digi­ta­li­sie­rung nicht ver­nach­läs­si­gen. Dies muss bar­rie­re­frei gesche­hen. Viel­falt gestal­ten setzt die Teil­habe aller Gene­ra­tio­nen vor­aus, also auch älte­rer Men­schen. Und ganz wich­tig: Hel­fen gelingt nur gemein­sam. Das kön­nen sie gut in Bran­den­burg beob­ach­ten. Unser Minis­ter­prä­si­dent, Diet­mar Woidke, hat vor ein paar Jah­ren das „Bünd­nis für Bran­den­burg“ gegrün­det. Es bün­delt alle poli­ti­schen und zivil­ge­sell­schaft­li­chen Kräfte im Land. Unser Kul­tur­enga­ge­ment kommt also in Bran­den­burg nicht nur in Tagungs­bei­trä­gen, son­dern auch in Taten eine Schlüs­sel­rolle zu.

Vor die­sem Hin­ter­grund hat mein Haus bereits im Jahr 2016 erst­ma­lig in sei­ner Geschichte ein eige­nes Inte­gra­ti­ons­för­der­pro­gramm gestar­tet, um Geflüch­te­ten die Teil­habe an Kul­tur­ak­ti­vi­tä­ten zu erleich­tern und den Aus­tausch zwi­schen Flücht­lin­gen und Bran­den­bur­gern zu inten­si­vie­ren. Ins­ge­samt haben wir so mehr als 100 krea­tive, akti­ons­rei­che und inte­gra­tive Pro­jekte rea­li­siert, die vor allem durch nied­rig­schwel­lige Ange­bote gekenn­zeich­net waren.

Aktiv wur­den hier nicht die „übli­chen Ver­däch­ti­gen“, die gro­ßen Kul­tur­ein­rich­tun­gen, son­dern vor allem sozio­kul­tu­relle Ver­eine, solo­selb­stän­dige Künst­ler und Kul­tur­schaf­fende und zivil­ge­sell­schaft­li­che Akteure. Die­ses Bei­spiel macht im Klei­nen deut­lich, was die Ent­wick­lung im Gro­ßen schon lange aus­zeich­net: Es ist eben kein Rück­gang an Enga­ge­ment zu ver­zeich­nen und auch nicht zu erwar­ten. Viel­mehr gewin­nen neue Hand­lungs­fel­der an Bedeu­tung: Fra­gen der Soli­da­ri­tät, des Kli­ma­schut­zes oder der poli­ti­schen Bildung.

Hal­ten wir fest: Enga­ge­ment wächst und es wan­delt seine Aus­drucks­for­men. Gleich­zei­tig bleibt die öffent­li­che Wür­di­gung des ehren­amt­li­chen Ein­sat­zes wei­ter­hin wich­tig für Moti­va­tion und das wei­tere Enga­ge­ment. Bran­den­burg und Ber­lin nut­zen hier­für die Ehren­amts­karte. Unsere Part­ner sind Museen, Gas­tro­no­mie­be­triebe, Kul­tur­ein­rich­tun­gen und viele wei­tere mehr. Dort erhal­ten die Kar­ten­in­ha­be­rin­nen dann viele Vorteile.

Auch die Frei­wil­li­gen­dienste wie das Frei­wil­lige Soziale Jahr (FSJ) sind in den Län­dern eta­blierte For­mate zur Stär­kung und Akti­vie­rung des bür­ger­schaft­li­chen Enga­ge­ments. Und wir sind auf diese Akti­vie­rung ange­wie­sen. Viel­leicht drin­gen­der als jemals zuvor.

Enga­ge­ment stärkt unsere Demo­kra­tie. Und wir stär­ken sie nur, wenn wir alle Poten­ziale – beson­ders die in der Flä­che und in den Regio­nen, berück­sich­ti­gen. Ich weiß: Kom­mu­nen füh­len sich mit der Auf­gabe der Enga­ge­ment­för­de­rung häu­fig finan­zi­ell über­for­dert. Des­halb müs­sen wir den Weg der Infra­struk­tur­för­de­rung bestrei­ten. Ganz im Sinne des Modell­pro­jek­tes „Haupt­amt stärkt Ehren­amt“. Schließ­lich kön­nen haupt­amt­li­che Stel­len hel­fen, den digi­ta­len Wan­del vor Ort zu gestal­ten, z. B. durch Qua­li­fi­zie­rungs­maß­nah­men und tech­ni­sche Ausrüstung.

Ein ande­rer Weg ist der Aus­tausch mit Ver­ei­nen, Ehren­amt­li­chen und Insti­tu­tio­nen über gelun­gene Pra­xis im Bereich der För­de­rung von bür­ger­schaft­li­chem Enga­ge­ment. Auch hier pas­siert bereits viel, wenn sie an das Bun­des­netz­werk bür­ger­schaft­li­ches Enga­ge­ment den­ken. Denn nicht alle Pro­bleme kann Poli­tik mit Geld lösen. Manch­mal braucht es eine krea­tive Idee, die ein­fach vor­schlägt, etwas anders zu machen. Unter­schied­li­che Leute kom­men zusam­men, brin­gen ihre Exper­tise mit und reden über kon­krete Lösun­gen. Sie bewei­sen heute, dass Klaus Dör­ner mit sei­nem gol­de­nen Satz recht hatte.

Die­ser Bei­trag ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2020.

Von |2020-11-04T11:08:58+01:00November 4th, 2020|Bürgerschaftliches Engagement|Kommentare deaktiviert für

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Manja Schüle ist Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg.