Bürgerschaftliches Engagement ist für eine demokratische Gesellschaft unverzichtbar. Eine demokratische Gesellschaft lebt vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger, das sich keineswegs im Helfen und Unterstützen erschöpft. Zu dem das Helfen und Unterstützen aber grundlegend dazugehört.
Spätestens Ende der 1990er Jahre rückte erneut das Bürgerschaftliche Engagement in den Mittelpunkt des politischen und gesellschaftlichen Interesses. Das Jahr 2001 war als „Internationales Jahr der Freiwilligen“ ausgerufen und allerorts begannen die Vorarbeiten für dieses Jahr. Der Deutsche Kulturrat hatte bereits 1997 die Studie „Ehrenamt in der Kultur“ vorgelegt, in der zum einen das Engagement in den Mitgliedsverbänden des Deutschen Kulturrates quantitativ ausgewertet wurde und zum anderen exemplarisch in Beiträgen die Spezifika des Engagements im Kulturbereich aufgezeigt wurden. Die Beiträge machten deutlich, dass zum bürgerschaftlichen Engagement selbstverständlich die Amateurmusik gehört, das Engagement aber weit darüber hinausgeht. Angesprochen wird ebenso die Bibliotheksarbeit, das Engagement in Berufsverbänden versus der Verwirklichung der eigenen freiberuflichen, künstlerischen Tätigkeit, die Tragfähigkeit bürgerschaftlichen Engagements in Kulturinstitutionen und anderes mehr. Ebenso zur Sprache kam die Vereinsentwicklung, ein Ost-West-Vergleich in Sachen Engagement, die Frage der statistischen Erfassung bürgerschaftlichen Engagements sowie ein Vergleich des Engagements in Deutschland mit dem in anderen EU-Mitgliedstaaten. Der Deutsche Kulturrat bildete mit dieser Studie die Avantgarde der Untersuchung bürgerschaftlichen Engagements im Kulturbereich; andere Verbände folgten.
Die Themen, die seinerzeit angeschnitten wurden, waren auch bestimmend in der im Dezember 1999 eingesetzten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“, der ich als Sachverständiges Mitglied angehören durfte. Drei Themen haben uns seinerzeit besonders bewegt: Die Veränderung des bürgerschaftlichen Engagements weg vom Engagement in Vereinen und anderen Organisationen hin zum frei flottierenden, volatilen Engagement. Teilweise wurde das Ende der Vereine und Verbände an die Wand gemalt und das andere, projektbezogene Engagement, als „Allheilmittel“ präsentiert. Von Vereinen und Verbänden wurde eine Veränderung ihrer Strukturen eingefordert. Zum anderen wurde engagiert diskutiert, ob sich tatsächlich in Deutschland weniger Menschen engagieren als in anderen europäischen Ländern und wenn ja, woran das liegen könnte. Und schließlich drittens, wie das freiwillige Engagement bezeichnet werden soll, als Ehrenamt, als freiwilliges Engagement, als bürgerschaftliches Engagement, als ziviles Engagement usw. Das letztgenannte Thema wurde zu aller Zufriedenheit gelöst, in dem nur noch vom bürgerschaftlichen Engagement die Rede war, welches selbstverständlich die Spende von Zeit und die Spende von Geld sowie die unterschiedlichen Ausdrucksformen und Ausprägungen beinhaltete. Die diversen nationalen Freiwilligenberichte sind der Frage nach der Zahl der Engagierten, den Engagementfeldern, dem zeitlichen Engagement, dem Engagement der Angehörigen der verschiedenen Altersgruppen und anderem mehr nachgegangen. Sie förderten zutage, dass Deutschland in Sachen bürgerschaftliches Engagement gut dasteht und den Vergleich zu anderen Staaten nicht zu scheuen braucht. Im Gegenteil, das bürgerschaftliche Engagement ist weit verbreitet und stark. Unter dem Motto „Totgesagte leben länger“ kann das traditionelle Engagement in Vereinen beschrieben werden. Sie erweisen sich zum großen Teil als widerstands- und vor allem anpassungsfähig. Neue Engagements wurden entwickelt, zeitlich befristete Angebote sind in wesentlich stärkerem Umfang möglich und auch üblich, als es vor mehr als zwei Jahrzehnten verbreitet war. Insbesondere in Krisenzeiten zeigt sich, dass Vereine, aber auch Kirchengemeinden, Gewerkschaften und andere – sonst so oft als Dinosaurier gescholtene – Großorganisationen verlässliche Partner sind. Das wurde während der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 deutlich und es zeigt sich auch jetzt in der Corona-Pandemie. Die gemeinschaftsstiftende Funktion des bürgerschaftlichen Engagements kann gar nicht hoch genug geschätzt werden.
Als neue Herausforderung wird aktuell das digitale Engagement ausgemacht. Der Dritte Engagementbericht der Bundesregierung, der im Juni dieses Jahres erschien, hat das digitale Engagement daher in den Fokus genommen. Ein besonderes Augenmerk wird auf das digitale Engagement junger Menschen gerichtet. Es ist verdienstvoll, dass im Dritten Engagementbericht diese aktuelle Fragestellung im Mittelpunkt steht, denn eine kritische Lektüre des Berichtes zeigt, dass das digitale Engagement sehr oft zwar eine sinnvolle Ergänzung des analogen Engagements ist und sich auch eigenständige Formen digitalen Engagements entwickeln, es aber hinter dem vertrauten analogen Engagement deutlich zurückbleibt.
Besonders eindrücklich ist in meinen Augen, dass beim digitalen Engagement die Spaltung der Engagierten noch deutlicher ist als beim analogen Engagement. So ist nach wie vor zu beobachten, dass Jugendliche, die das Abitur als höchsten Schulabschluss anstreben, sich häufiger engagieren als Jugendliche, die mit einem mittleren Schulabschluss die Schule verlassen. Ähnliches lässt sich bei den unterschiedlichen Angeboten der Freiwilligen Sozialen Jahre (FSJ) beobachten. Auch hier sind Abiturienten überdurchschnittlich vertreten. Beim digitalen Engagement ist der Unterschied noch stärker ausgeprägt. Hierdurch kann nicht nur eine Schieflage der Themen entstehen, noch gravierender ist meines Erachtens, dass die Expertise junger Menschen mit anderen Bildungsbiografien fehlt. Schade ist ebenfalls, dass das demokratiefördernde und -bildende Element der innerverbandlichen Demokratie so gut wie keine Erwähnung findet. Demokratie wird im Dritten Engagementbericht fast ausschließlich unter dem Blickwinkel von Wahlen in Kommunen, Ländern und dem Bund betrachtet und sich mit der Frage des Wahlalters befasst. Dass gerade in Vereinen, Kirchengemeinden und Religionsgemeinschaften, Hochschulen, Unternehmen und vielen anderen Orten auch Wahlen anstehen, in die sich Jugendliche einbringen können und sehr oft aktives und passives Wahlrecht haben, wird leider vernachlässigt. Damit wird eine „wichtige Schule der Demokratie“, ein Amt auf Zeit, außer Acht gelassen. Dieses Amt auf Zeit, ganz egal, ob als Klassen- oder Schulsprecherin, ob als Vereinsvorsitzender oder Jugendvertreterin im Betrieb, verlangt die Übernahme von Verantwortung und verdient daher Wertschätzung.
Im Übrigen stellte sich bei der ersten Vorstellungsrunde der Mitglieder der erwähnten Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ heraus, dass ausnahmslos alle bereits als Jugendliche Verantwortung übernommen und bei vielen der Grundstein für die politische bzw. Engagementkarriere mit dem Klassensprecheramt gelegt wurde.
Bedauerlich ist ferner am Dritten Engagementbericht der Bundesregierung, dass das Aufsetzen bzw. Unterzeichnen einer offenen Petition durch Einzelpersonen mit den gebündelten Positionen von Vereinen oder Verbänden gleichgesetzt wird. Hieraus entsteht eine echte Schieflage. Vereine und Verbände generieren über demokratische Entscheidungsprozesse ihre Positionen. Dem gehen teils mühsame Diskussions- und Abwägungsprozesse voraus, die in Kompromisse münden. Dieser Prozess als solcher ist bereits ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie, die eben vom Abwägen verschiedener Positionen und vom Kompromiss lebt. Demgegenüber kann eine Petition schnell aus einem Impuls heraus unterzeichnet werden.
Bürgerschaftliches Engagement kann helfen und unterstützen. Es kann ebenso der Stachel im Fleisch sein. Ich bin fest davon überzeugt, dass das bürgerschaftliche Engagement für die Demokratie konstitutiv ist.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.