Was bedeu­tet es heute, jüdisch zu sein?

Die neue Direk­to­rin des Jüdi­schen Muse­ums Ber­lin, Hetty Berg, im Porträt

Seit den 1990er Jah­ren gibt es den Begriff „Gene­ra­tion Prak­ti­kum“, und seit damals steht das Prak­ti­kum als Lebens­phase der beruf­li­chen Ori­en­tie­rung in einem schlech­ten Ruf. Das war nicht immer so: In den 1980er Jah­ren konn­ten Prak­tika der Ein­stieg in eine steile Kar­riere sein. Ein gera­dezu arche­ty­pi­sches Bei­spiel dafür ist der Lebens­lauf von Hetty Berg, seit April 2020 Direk­to­rin des Jüdi­schen Muse­ums Berlin.

Nach dem Abitur wollte die junge Hol­län­de­rin zuerst Tanz­leh­re­rin wer­den und stu­dierte zwei Jahre in Lon­don Bal­lett und noch­mals zwei an der Tanz­aka­de­mie in Ams­ter­dam. An eine Lauf­bahn im Museum dachte sie damals nicht im Traum. Doch das Tan­zen allein war ihr zu wenig, sie fühlte sich intel­lek­tu­ell nicht genug gefor­dert und plante daher, ent­we­der Geschichte oder Hebrä­isch zu stu­die­ren. 2Doch dann dachte ich“, erin­nert sie sich, „jetzt habe ich vier Jahre Tanz stu­diert, es wäre schade, das ein­fach weg­zu­wer­fen. Viel­leicht sollte ich Bal­lett­kri­ti­ke­rin wer­den.“ Und so belegte sie Thea­ter­wis­sen­schaft als Haupt­fach sowie Hebrä­isch und Jid­disch als Neben­fä­cher. Nun galt es ein Archiv-Prak­ti­kum zu machen: Sie fragte den Kura­tor des Jüdi­schen His­to­ri­schen Muse­ums Ams­ter­dam, Joel Cahen, wo sie denn ein sol­ches Prak­ti­kum machen könnte und schon hatte er sie als Prak­ti­kan­tin ange­stellt mit der Auf­gabe „in ver­schie­de­nen Archi­ven zur Geschichte der Juden in den Nie­der­lan­den zu recher­chie­ren, um Mate­rial für die neue Dau­er­aus­stel­lung des Ams­ter­da­mer Muse­ums zusam­men­zu­stel­len“. Das war 1986. Obwohl Hetty Berg bis dahin nie­mals die Absicht hatte in einem Museum zu arbei­ten, ist sie im Joods His­to­risch Museum geblie­ben – bis April die­ses Jahres.

1989 wurde aus der Kul­tur­his­to­ri­ke­rin dann selbst eine Kura­to­rin des Muse­ums. 2002 über­nahm sie die Funk­tio­nen der Mana­ge­rin und Chef­ku­ra­to­rin am Jüdi­schen His­to­ri­schen Museum in Ams­ter­dam, das 2012 expan­dierte und zum Jüdi­schen Kul­tur­vier­tel wurde. Bis zu ihrem Weg­gang ans Jüdi­sche Museum Ber­lin 2020 war Hetty Berg dort Chef­ku­ra­to­rin. Gefragt, was es für sie bedeu­tet, nach drei Jahr­zehn­ten an einem Haus noch ein­mal etwas ganz Neues anzu­fan­gen, meint sie: „Es ist eine wun­der­bare Chance, um all meine Erfah­run­gen und Exper­tise, die ich in die­sen 30 Jah­ren gewon­nen habe, auf einem gro­ßen Podium ein­set­zen zu kön­nen. Das Jüdi­sche Museum Ber­lin gehört zu den wich­tigs­ten jüdi­schen Museen Euro­pas und über­haupt ist es ein beson­de­res Haus in Europa. Seit ich im April ange­fan­gen habe, habe ich es noch kei­nen Moment bedau­ert, dass ich nach Ber­lin gekom­men bin.“

Das Museum in Ber­lin ist ein inter­na­tio­na­les Haus mit Deutsch als Amts­spra­che. Kein Hin­der­nis für Hetty Berg, die Deutsch bereits in der Schule hatte, und so geht nach sechs Mona­ten in Ber­lin das Zurecht­fin­den in der deut­schen Spra­che, die vom Hol­län­di­schen ja nicht so weit ent­fernt ist, ziem­lich schnell. Eine der attrak­ti­ven Sei­ten des Orts­wech­sels sind für Berg neben dem schö­nen Haus auch das jüdi­sche Leben und des­sen Viel­falt in Ber­lin: „Dass es nicht nur die Jüdi­sche Gemeinde, son­dern ver­schie­dene jüdi­sche Initia­ti­ven in ganz uner­war­te­ten Kulis­sen gibt, das ist span­nend und beson­ders. Hier beschäf­ti­gen sich sehr viele Men­schen mit sehr ver­schie­de­nen Hin­ter­grün­den mit der Frage ‚Was bedeu­tet es heute in Ber­lin oder in Deutsch­land, jüdisch zu sein?‘ Ich hoffe, dass wir die­ser Fra­ge­stel­lung im Museum auch ein Podium bie­ten können.“

Auf der ande­ren Seite hat Bergs Umzug nach Ber­lin kom­plexe Gefühle in ihr aus­ge­löst. Ist doch Ber­lin der Ort, an dem Shoah und Holo­caust aus­ge­dacht und umge­setzt wur­den. Wie in allen jüdi­schen Fami­lien in den Nie­der­lan­den sind auch Mit­glie­der ihrer Fami­lie von den Nazis ermor­det wor­den. In einem Inter­view mit Radio Bran­den­burg-Ber­lin (rbb) brachte sie diese kom­plexe The­ma­tik auf den Punkt: „Es ist cha­rak­te­ris­tisch für meine Gene­ra­tion, sich für das Juden­tum und das damit ver­bun­dene Trauma zu inter­es­sie­ren. Auch ich wollte wis­sen, was damals pas­siert ist, für wel­che Kul­tur die Juden von den Nazis ermor­det wur­den. Des­we­gen habe ich als Teen­ager Hebrä­isch gelernt und bin dann Mit­glied der Jüdi­schen Gemeinde gewor­den. Ich war oft in Israel, weil wir dort Fami­lie haben. Für mich ist es eine Art Hei­lung und Auf­ar­bei­tung, für ein Jüdi­sches Museum zu arbeiten.“

Hetty Berg wurde 1961 in Den Haag gebo­ren. Ihr Eltern­haus war säku­lar, ihr Vater ein sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Abge­ord­ne­ter im nie­der­län­di­schen Par­la­ment. Die Liebe und Exper­tise für die Kul­tur wurde ihr in die Wiege gelegt. Vom Vater kam die Nei­gung zur Musik, von der Mut­ter, mit der sie spä­ter viel ins Thea­ter, ins Bal­lett und auch in Museen ging, das starke Inter­esse für Geschichte. Auch wenn dem Prak­ti­kum als Berufs­ein­stieg immer etwas „glück­lich Zufäl­li­ges“ anhaf­tet, mutet es im Fall Hetty Berg gera­dezu logisch und fol­ge­rich­tig an, dass die ehe­ma­lige Prak­ti­kan­tin viele Jahr­zehnte spä­ter das Thema jüdi­sche Geschichte an ein­fluss­rei­cher Stelle wei­ter und immer inten­si­ver verfolgt.

Für Berg steht das Jüdi­sche Museum Ber­lin in einem Span­nungs­feld zwi­schen der Ver­mitt­lung der Geschichte und Kul­tur der Juden in Deutsch­land und der Debatte um The­men der Gesell­schaft heute.

Hetty Berg star­tete am Jüdi­schen Museum Ber­lin am 1. April und kam somit unge­fähr gleich­zei­tig mit dem Coro­na­vi­rus in Deutsch­land an. Das hieß, das Museum war schon zwei Wochen geschlos­sen und es gab längst kei­nen Nor­mal­be­trieb mehr. Erst Ende August wurde es für die Besu­cher wie­der geöff­net. „Wir arbei­ten mit Zeit­fens­ter­ti­ckets und glück­li­cher­weise wer­den fast alle Tickets, die wir aus­ge­ben kön­nen, von den Besu­chern benutzt. Wir haben der­zeit etwa 600 Besu­cher pro Tag. Vor Corona waren es in den Som­mer­mo­na­ten zwi­schen 2.000 und 3.000 Besu­cher. Es ist aber sehr schön zu sehen, dass unsere Pfor­ten wie­der offen sind und dass es eine kleine Schlange beim Ein­gang gibt.“

Das Kon­zept der neuen Dau­er­aus­stel­lung und auch die ganze Rea­li­sie­rung war bereits fer­tig, als Berg in Ber­lin ankam. Daran war schon fünf Jahre mit einem sehr gro­ßen Team gear­bei­tet wor­den. Hetty Berg fasst die Unter­schiede zur vor­he­ri­gen Aus­stel­lung zusam­men: „Die neue Aus­stel­lung ist weni­ger über­la­den und die Gestal­tung wirkt sehr gut mit der Archi­tek­tur von Daniel Libes­kind zusam­men. Es gibt mehr jüdi­sche Kul­tur und Tra­di­tion sowie mehr Raum für die Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus und des Holo­caust. Aus­führ­li­cher als vor­her the­ma­ti­sie­ren wir auch die Nach­kriegs­zeit bis in die unmit­tel­bare Gegen­wart. Die alte Dau­er­aus­stel­lung wurde im Jahr 2001 eröff­net und seit­dem haben sich nicht nur die Erwar­tun­gen und Seh­ge­wohn­hei­ten der Muse­ums­be­su­cher enorm geän­dert, son­dern auch die tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten. Die neue Dau­er­aus­stel­lung ist daher auch ein ’state of the art‘ des Aus­stel­lungs­ma­chens. Durch Filme, Audio­in­stal­la­tio­nen, Spiele oder Vir­tual Rea­lity spre­chen wir Besu­cher auf sehr abwechs­lungs­rei­che Weise an. Und wer gerade keine Gele­gen­heit hat, zu uns ins Museum zu kom­men: Wir haben eine JMB App, die Men­schen auch zu Hause down­loa­den und mit der sie unsere neue Aus­stel­lung erle­ben können.“

Die­ser Bei­trag ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 10/2020.

Von |2020-10-26T15:23:34+01:00Oktober 6th, 2020|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

Was bedeu­tet es heute, jüdisch zu sein?

Die neue Direk­to­rin des Jüdi­schen Muse­ums Ber­lin, Hetty Berg, im Porträt

Andreas Kolb ist Redakteur von Politik & Kultur.