Die Verschiebung des Ramadans aufgrund der Corona-Pandemie war eine Diskussion, die es einigen Medien durchaus wert war, zu verbreiten. Ich fand diese Diskussion ein Stück weit belustigend. Es zeigt einmal mehr, wie wenig manche bereit sind, die Dinge zu Ende zu denken. Aber es eröffnete auch uns Muslimen, sich über den Heiligen Monat Ramadan in Corona-Zeiten hinaus, der Gaben dieses Monats nochmals bewusster zu werden. Dabei spielt der Verzicht auf Essen und Trinken für eine bestimmte Zeit am Tag eine eher untergeordnete Rolle, sprich eine mittlere und vor allem vermittelnde Rolle. Denn das Fasten soll den Weg zum spirituellen Schatz des Ramadans weisen: dem Heiligen Monat, an dem der Koran herangesandt worden ist, dem Monat der Barmherzigkeit und Vergebung, dem Monat des Gebets, des Koranlesens, des innigen Gespräches mit Gott. Selbstverständlich wollen Muslime dies vorzugsweise in der Moschee ausüben, aber in Corona-Zeiten machten wir unsere Wohnzimmer zu Moscheen innerhalb unserer Familien, nachdem wir gemeinsam das Fasten mit ihnen gebrochen haben.
Kein Muslim, gerade jene, die aufgrund der islamischen Bestimmungen nicht zu fasten brauchen bzw. dürfen – das sind z. B. Kranke, Wöchnerinnen oder Schwangere – würde freiwillig auf diesen wesentlichen Teil des Ramadans verzichten, in Corona-Zeiten erst recht nicht. Sie wissen genau, auch wenn sie aus gesundheitlichen Gründen nicht fasten können bzw. dürfen, der Heilige Monat Ramadan ist mit seinen Gaben, mit dem Geschenk Gottes vollends da und sie mittendrin. Und warum ausgerechnet in diesen schweren Zeiten darauf verzichten? Das klingt in der Tat wie ein schlechter Witz. Man würde ja auch nicht eine Verschiebung des Sommers anmahnen, nur weil die Sonnenschirme ausverkauft sind, oder den Juden die Verschiebung ihres Pessach-Festes nahelegen, nur weil sie nicht in die Synagoge gehen können, oder schließlich die Christen anweisen, Karfreitag und Ostern auf Weihnachten zusammenzulegen, weil – so hoffen wir alle – bis dahin die Gotteshäuser wieder geöffnet sein könnten?
Und ja, die Entscheidung des Vorstandes des Zentralrates der Muslime in Deutschland (ZMD) in Abstimmung mit Verwaltung und Politik, die Moscheen in der Pandemie erst mal zu schließen, war eine schwere Entscheidung. Sie erfolgte aber nach Absprache mit den Islam-Gelehrten – noch bevor übrigens die meisten Bundesländer dazu Verordnungen erlassen hatten. Später leiteten wir dann eine vorsichtige Öffnung ein, die mit einem strikten Hygiene- und Abstandskonzept einhergeht. So ist es bis heute.
Und die Religion stand uns auch hier immer Pate. Denn unser Prophet sagte schon: „Wenn Sie von einem Ausbruch der Pest in einem Land hören, betreten Sie es nicht; aber wenn die Pest an einem Ort ausbricht, während Sie sich dort befinden, verlassen Sie diesen Ort nicht.“ Kann also die Kraft des Gebetes allein eine Pandemie stoppen? Der Prophet Muhammad macht damit deutlich, dass Gebet und physische Eindämmung zusammengehören und zusammengedacht werden müssen. Die Aussetzung der Gottesdienste in den Moscheen bedeutet einen ungeheuren Eingriff in die Religionsfreiheit – ein Grundrecht. Es geht um eine temporäre Hinnahme von gewaltigen Einschnitten in der religionsgemeinschaftlichen Praxis und Ausübung. So ist das bis heute, so war das im Ramadan, der in diesem Jahr vom 23. April bis zum 24. Mai ging, und so ist dabei vieles anders geworden: Gemeinschaftliche Iftare, das Fastenbrechen im großen Kreis, die Koranlesungen in der Moschee, die Pflicht- und Freitagsgebete in der Moschee bleiben aus oder werden nur unter strengen, dem Gesundheitsschutz dienenden Vorgaben umgesetzt.
Es gab übrigens in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder Pandemien, bei denen Gebete, Freitagsgebete, ja selbst die Hadj, die Pilgerfahrt, ausgesetzt werden mussten, das gehört auch zu unserer Geschichte, aber nicht in diesem weltweiten Ausmaß. So sehr uns jeder Tag ohne den Gang zur Moschee schmerzt, ist jeder dieser Tage gleichsam ein gewonnener Tag im Kampf gegen die Ausbreitung der durch das Coronavirus verursachten lebensbedrohlichen Krankheit. Dies ist derzeit eine große Prüfung für die Gemeinde. Wir sehen diesen Kampf als unsere religiöse und zugleich bürgerliche Pflicht. Aber wir verzichten nicht auf den Gottesdienst und die Gebete als solches, wir machen unsere Wohnungen zu den Orten der Anbetung, zu Orten des Lernens und der Gebete, wenngleich es keine Substitution des Gottesdienstes in der Moschee darstellt, schon gar nicht das Gemeinschaftliche ersetzt. Viele Moscheen stehen zudem derzeit auch vor großen finanziellen Schwierigkeiten, weil sie stets auf Spendensammlungen zum Freitagsgebet und vor allem auch im Ramadan angewiesen sind. Diese Spenden fallen nun fast komplett aus. Moscheen und deren Verantwortliche haben sich besonders verantwortungsvoll in der Corona-Zeit erwiesen, sie sind in den Stadtteilen und für unsere Gesellschaft unverzichtbare Institutionen der Wohlfahrt, Seelsorge und sozialen Integration mit großer gesellschaftlicher Relevanz.
Für diese großartige Arbeit zollt die Gesellschaft ihnen großen Respekt und Anerkennung. Dies ist inzwischen auch in der Politik angekommen. So schreibt der Bundesinnenminister Horst Seehofer in einem Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: „Die Religionsgemeinschaften haben gute Konzepte, dass der Schutz des Lebens für alle die oberste Maxime ist. Wenn wir in allen Bereichen so verantwortlich, solidarisch und besonnen vorgehen, werden wir Erfolg haben.“
Christen an Ostern, Juden an Pessach und Muslime im Ramadan, alle mussten und müssen in diesen Tagen auf gemeinsame Gottesdienste und Feiern im Familien- und Freundeskreis verzichten. Trotzdem oder gerade deswegen haben die Religionen erkannt, dass die Einschränkungen in höchstem Maße sozial sind, weil sie aus der Barmherzigkeit und zum Schutz des Lebens geschehen.
Wissenschaft und Virologen bestätigen leider, dass die Entwicklungen und Zahlen der Corona-Pandemie in Deutschland weiterhin kritisch sind. Infizierte in geschlossenen Räumen ohne Luftzirkulation und -austausch können virushaltige Tröpfchen ansammeln, bis die Konzentration für eine Infektion ausreicht. Abstandhalten böte in solch einem Fall nur bedingt Schutz. Der ZMD empfiehlt deshalb, auch weiterhin die Gemeinschaftsgebete, mindestens aber die Freitagsgebete, und Festgebete auszusetzen oder unter den oben erwähnten strengen Hygiene- und Abstandsregelungen durchzuführen. Die Verhältnismäßigkeit der Gebote muss dabei stets geprüft werden im Kontext der Grundrechte, der religiösen Vorschriften und des aktuellen Pandemieverlaufes und dabei immer wieder aufs Neue abgewogen werden.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.