Fünf Jahre lang wurde die Carlebach-Synagoge in Lübeck sorgsam renoviert. Fünf Jahre, in denen das gesellschaftliche Klima sich merklich verändert hat. Wir haben in ganz Europa erlebt, wie Antisemitismus und Populismus auf dem Vormarsch sind. Wir haben erlebt, wie rechte Kräfte versuchen, Zusammenhalt durch Abgrenzung und Ausgrenzung herzustellen und damit genau das Gegenteil erreichen: die gesellschaftliche Spaltung.
Der furchtbare Anschlag auf die Synagoge in Halle an dem Tag, an dem die Juden ihren höchsten Feiertag Jom Kippur feiern, war auch ein Angriff auf unsere freie und offene Gesellschaft. Dieser Tag war eine Zäsur.
Zu lange haben manche fälschlich geglaubt – und auch ein wenig gehofft – Antisemitismus sei nur ein Problem weniger verstörter Menschen. Offensichtlich haben wir aus der Vergangenheit nicht gelernt und auch nicht genau genug hingehört. Denn Antisemitismus war immer da. Seine hässliche Fratze zeigt er unverhohlen in einer sich radikalisierenden Gesellschaft. Aber was hilft? Welche Strategien sind wirksam?
75 Jahre nach dem Ende der Shoah ist jüdisches Leben und jüdische Kultur in unserem Alltag noch immer viel zu wenig sichtbar. Das müssen wir ändern. Wir müssen viel mehr über das Judentum in Deutschland – auch abseits der Zeit von 1933-1945 – wissen und vermitteln. Natürlich gehört die Shoah zur deutsch-jüdischen Geschichte dazu – für immer. Aber jüdisches Leben in Deutschland ist so viel mehr als das, unsere gemeinsame Geschichte ist viel älter und vor allem reichhaltiger.
Jüdische Bürgerinnen und Bürger, Künstlerinnen und Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben seit jeher unser Land geprägt und überragende Leistungen vollbracht. Heinrich Heine, Albert Einstein, Max Liebermann, Hannah Arendt – um nur einige Namen zu nennen. Sie sind Teil unserer Gesellschaft. Den Juden in Köln wurde erstmals im Jahre 321 urkundlich gestattet, für die Verwaltung der römischen Provinz zu arbeiten. Wir sind das, was wir sind, weil das Jüdische Teil von uns ist.
Die öffentliche Wahrnehmung der deutsch-jüdischen Geschichte darf sich nicht auf Verfolgung und Vernichtung beschränken. Juden dürfen nicht ausschließlich als Opfer und Verfolgte dargestellt werden. Das jüdische Leben, die jüdische Religion und Kultur, positive Aspekte unserer gemeinsamen Geschichte, all das muss in unserer Wahrnehmung und in unserem Alltag eine größere Rolle spielen.
Den Schulen kommt hier eine zentrale Rolle zu. Wir müssen im Unterricht antisemitische, antijüdische und antiisraelische Mythen und Ressentiments entlarven. Aber zugleich müssen wir Wissen über die jüdische Religion, Kultur und die jüdische Geschichte vermitteln. Dazu gehört auch mehr Jugendaustausch mit Israel, damit modernes jüdisches Leben in Israel in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler präsenter wird. Die Gründung des Deutsch-Israelischen Jugendwerks muss dringend vorangebracht werden.
Unwissenheit führt oft zu Vorurteilen und von dort ist der Schritt zu Intoleranz und Hass nicht mehr weit. Bildung ist ein entscheidender Teil der Prävention gegen Antisemitismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Nur sie packt das Problem an der Wurzel. Das gilt für den Geschichts-, Geografie-, Religions- und Wirtschaft- und Politikunterricht (WiPo), aber auch für Philosophie, Deutsch, Kunst und die Naturwissenschaften.
Aber auch außerhalb unserer Schulen müssen wir jüdisches Leben sichtbarer machen.
Deshalb bin ich sehr dankbar, dass wir mit der Carlebach-Synagoge ein geschichtsträchtiges und prachtvolles jüdisches Gotteshaus mitten in der Lübecker Altstadt wiedereröffnen können. Diese Synagoge zählt zu den schönsten in ganz Deutschland. Ihre Schönheit führt uns vor Augen, welchen kulturellen Wert wir dem Judentum verdanken. Aber die Carlebach-Synagoge ist auch ein Mahnmal dafür, dass wir in jeder Generation aufs Neue gegen Antisemitismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit kämpfen müssen.
In der Pogromnacht am 9. November 1938 wurde die Lübecker Synagoge überfallen, geplündert und in ihrem Inneren zerstört. Aus dem stolzen Gotteshaus wurde unter nationalsozialistischer Herrschaft eine Turn- und Versammlungshalle. Die prächtigen maurischen Stilelemente sowie die Kuppel wurden entfernt.
Jüdisches Leben in Lübeck war fortan nicht mehr möglich. Wir alle kennen die grausame Geschichte. Am 1. Juni 1945 erfolgte dann zwar die Rückerstattung an die jüdische Gemeinde und die erneute Weihung, aber bis in die 1990er Jahre war die Nutzung der Synagoge sehr eingeschränkt, denn es gab nur sehr wenige Juden in Lübeck.
Kurz nachdem sich eine erste kleine jüdische Gemeinde wieder in Lübeck etabliert hatte und kurz nachdem die Synagoge unter Denkmalschutz gestellt wurde, erfolgte die nächste Bewährungsprobe: ein Brandanschlag mit einem Molotowcocktail am 25. März 1994 – der erste Brandanschlag auf eine Synagoge in Deutschland seit der Pogromnacht im Jahr 1938. Schon im Mai 1995 kam es zu einem weiteren Brandanschlag. Das zeigt: Antisemitismus war und ist immer da gewesen.
Deshalb darf es uns auch nicht überraschen, dass es sie heute wieder gibt: Menschen, Gruppierungen und leider auch Parteien, die andere Menschen wegen ihrer Herkunft oder Religion selektieren. Die ausgrenzen und hetzen.
Wir brauchen eine lebendige Form der Erinnerung. Eine Form, die unserer historischen Verantwortung gerecht wird, aber die nachfolgenden Generationen vor Schuldverstrickungen bewahrt. Eine Form, die Mut macht, Empathie schafft und Neugier weckt: auf ein neues Miteinander, auf den kulturellen Reichtum in unserem Land, auf Vielfalt.
Die Carlebach-Synagoge ist ein Ort, der uns diese Form des Erinnerns ermöglicht. Sie ist mit ihren prunkvollen Malereien Zeugnis der jüdischen Kultur des 19. Jahrhunderts. Sie ist Erinnerungsort an Gewalt und Zerstörung im 20. Jahrhundert. Aber sie ist auch ein Ort der Hoffnung für eine neu erblühende jüdische Kultur in Schleswig-Holstein im 21. Jahrhundert.
Am 2. April 2020 sollte die Fertigstellung der Synagoge mit einem großen Festakt gefeiert werden. Ein historischer Tag – für Schleswig-Holstein und auch über unsere Landesgrenzen hinaus.
Durch die Corona-Pandemie musste dieser Festakt verschoben werden – wie so vieles in den letzten Monaten. Der gesellschaftliche Shutdown hat uns neben vielen verschobenen oder ausgefallenen Veranstaltungen aber auch einen Moment des Innehaltens geschenkt. Wir konnten uns wieder auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben besinnen: Zusammenhalt, im Kleinen wie im Großen. Wir haben für unsere älteren Nachbarn eingekauft und unsere Kliniken haben schwer kranke Patienten aus Italien und Frankreich aufgenommen.
Empathie, Solidarität, Respekt und Mitgefühl sind die Werte, die uns durch diese schwere Zeit getragen haben und uns auch noch weiterhin tragen werden.
Die Populisten in der ganzen Welt konnten in der Krise außer Verschwörungstheorien nichts beitragen. Sie haben keine Antworten gegeben. Gleichzeitig haben in Deutschland viele Politikerinnen und Politiker auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene Verantwortung übernommen – und damit Vertrauen geschaffen. Auch wenn jede Entscheidung in der Regel eine Gegenmeinung hervorruft, können wir feststellen, dass Deutschland bisher gut durch diese Pandemie gekommen ist.
Das verdanken wir auch unseren hervorragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die nicht nur exzellente Forschung betreiben, sondern die Bevölkerung auf unaufgeregte und sachliche Weise aufgeklärt haben. Die Wissenschaft hat in den letzten Monaten auf die öffentliche Meinung erheblich an Einfluss gewonnen. Wenn es um die wirklich wichtigen Fragen geht, brauchen wir keine Hetze, sondern Verlässlichkeit.
Nutzen wir diese Chance für mehr Sachlichkeit, für mehr Zusammenhalt und weniger Spaltung. Das Miteinander sollte wieder in den Fokus rücken.
Wir wissen, dass es Antisemitismus immer geben wird. Aber wenn wir zusammenhalten und gemeinsam unsere Stimme gegen jede Art von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit erheben, sind wir stärker – und lauter.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.