Mit­ge­stal­ten!

Was kann und muss die Zivil­ge­sell­schaft tun?

Unsere Regie­run­gen haben wir beauf­tragt und bezah­len wir dafür, für Not­fälle vor­zu­sor­gen und Ent­schei­dun­gen zu tref­fen. Was das Letz­tere anbe­langt, haben wir ihnen in der Krise vor­der­grün­dig nicht viel vor­zu­wer­fen – selbst dann nicht, wenn sich im Rück­blick her­aus­stellt, dass diese falsch waren. Koor­di­nie­rungs­auf­wand und gele­gent­lich abwei­chende Ent­schei­dun­gen ein­zel­ner Län­der sind letzt­lich auch nicht zu bean­stan­den. Unsere Ver­fas­sungs­ord­nung weist das Man­dat für sol­che Ent­schei­dun­gen pri­mär den Lan­des­re­gie­run­gen zu.

Anders sieht es mit der Vor­sorge aus. Expo­nen­ten der Zivil­ge­sell­schaft haben ebenso wie staat­li­che Exper­ten über viele Jahre ein­dring­lich und öffent­lich davor gewarnt, dass eine Pan­de­mie kom­men kann und Vor­sorge für die­sen Not­fall ein­ge­for­dert. Gesche­hen ist nichts. Schon in den 1990er Jah­ren wurde der bei zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen vor­ge­hal­tene, vom Bund finan­zierte zivile Bevöl­ke­rungs­schutz gegen deren mas­sive Ein­wen­dun­gen auf null gefah­ren; es folg­ten die Über­ant­wor­tung der Kran­ken­häu­ser an den Markt und vie­les mehr. Im Ergeb­nis war Deutsch­land schuld­haft auf die Pan­de­mie man­gel­haft vor­be­rei­tet. Dass es in ande­ren Län­dern nicht bes­ser aus­sah, ist keine Ent­schul­di­gung. Die täg­li­chen Auf­tritte der zahl­rei­chen Poli­ti­ker in den Medien, die die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger zur­zeit ertra­gen müs­sen, wir­ken gro­tesk und peinlich.

Das heißt: Wir müs­sen der Regie­rung viel genauer auf die Fin­ger sehen, sie viel inten­si­ver an ihre Pflich­ten erin­nern, als dies Par­la­mente und Medien getan haben. Die Ana­lyse, wonach die Zivil­ge­sell­schaft die Rolle des Wäch­ters über­neh­men muss, weil die Par­la­mente diese unge­nü­gend wahr­neh­men, erweist sich auf tra­gi­sche Weise als rich­tig. Eine war­nende Stu­die des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums blieb schon 2012 im Bun­des­tag unbeachtet.

Etwas viel Gra­vie­ren­de­res kommt hinzu: Schon seit eini­ger Zeit muss die Zivil­ge­sell­schaft auf­pas­sen, dass der bür­ger­schaft­li­che Raum nicht auf aller­lei Weise – von der Ver­nied­li­chung über das Zucker­brot-und-Peit­sche-Spiel, Dif­fa­mie­rung und Regu­lie­rung bis zum Hin­aus­drän­gen – ver­klei­nert und beschränkt wird. Zur­zeit ist die Güter­ab­wä­gung in aller Munde: Bür­ger­rechte, die die Zivil­ge­sell­schaft emp­find­lich berüh­ren, etwa die Ver­samm­lungs­frei­heit, wer­den gegen Anste­ckungs­ge­fahr – oder müsste man sagen, die von den Regie­run­gen ver­schul­dete Über­las­tung des Gesund­heits­we­sens – abge­wo­gen. Das kann im Extrem­fall eine Not­wen­dig­keit dar­stel­len. Aber schon jetzt keimt das Miss­trauen! Immer mehr Bür­ge­rin­nen und Bür­ger hegen den Ver­dacht, mit die­sen Beschrän­kun­gen könnte es so gehen wie mit der berühm­ten Glüh­lampe, die in der neuen Woh­nung auf­ge­hängt wird, damit es Licht gibt, bis die schöne neue Lampe gekauft und auf­ge­hängt ist: Beim Aus­zug, zehn Jahre spä­ter, hängt sie immer noch, man hat sich an sie gewöhnt. Schon eine Dis­kus­sion um die Locke­rung der Bewe­gungs­be­schrän­kun­gen, immer­hin auch dies die Wie­der­her­stel­lung eines Grund­rechts, wird von der Che­fin der Bun­des-Exe­ku­tive, öffent­lich als „Öff­nungs­dis­kus­si­ons­or­gie“ dif­fa­miert. So klag­los, wie sie den Beschrän­kun­gen gefolgt sind, sol­len die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger jetzt auch alle wei­te­ren Maß­nah­men im Gehor­sam gegen­über der Obrig­keit hinnehmen.

Das aber ist nicht Demo­kra­tie! Diese besteht nicht in gele­gent­li­chen Wahl­übun­gen, son­dern in der akti­ven Mit­ge­stal­tung der öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten, auch durch Kri­tik und Dis­kurs. Im Lichte der Debatte um die poli­ti­sche Betä­ti­gung zivil­ge­sell­schaft­li­cher Orga­ni­sa­tio­nen, die bis zum Aus­bruch der Covid-19-Pan­de­mie geführt wurde, ist des­halb äußerste Vor­sicht gebo­ten. Was wäre denn, wenn sich das ganze Kon­zept der Pan­de­mie-Bekämp­fung als feh­ler­haft her­aus­stel­len würde? Dürf­ten dann die Bür­ger immer noch nicht die Stimme erhe­ben? Müss­ten sie die wei­te­ren Ver­tu­schungs- und Ver­drän­gungs­ver­su­che klag­los akzeptieren?

Dies ist des­we­gen ein sol­ches Hor­ror­sze­na­rio, weil immer mehr erkenn­bar wird, dass die Pan­de­mie nicht mehr ist als der Trop­fen, der ein Fass zum Über­lau­fen gebracht hat. Wir steck­ten doch schon vor­her in einer tie­fen Krise der Demo­kra­tie, des Kapi­ta­lis­mus, des Natio­nal­staa­tes. Die Pan­de­mie hat inso­fern sogar etwas Gutes: Sie zwingt uns, ernst­haft dar­über nach­zu­den­ken, was nach­her kommt! Die Spat­zen pfei­fen es von den Dächern: Es wird nach­her nichts mehr so sein wie vor­her! Es wird Elend und Not geben, bei Künst­lern ebenso wie bei Unter­neh­mern, bei Selb­stän­di­gen ebenso wie bei Arbeit­neh­mern – in Deutsch­land ebenso wie welt­weit, übri­gens in der Zivil­ge­sell­schaft genauso oder mehr noch als in der Wirt­schaft. Nur der Staat kann sei­nen Mit­ar­bei­tern Arbeits­platz und Gehalt garantieren.

Es wird aber auch ande­res anders sein – ob bes­ser oder schlech­ter, liegt an uns. Wir ste­hen jetzt vor der Her­aus­for­de­rung, haben aber auch die Chance, unsere Gesell­schaft neu zu ord­nen. Wir kön­nen mehr Bür­ger­rechte haben, mehr Gen­der­ge­rech­tig­keit, mehr Gemein­schaft, mehr Zivi­li­tät, weni­ger Wett­be­werb, weni­ger Natio­na­lis­mus, weni­ger Selbst­süch­tig­keit, weni­ger Unter­schiede zwi­schen arm und reich – wenn wir nur wollen.

Hier, vor allem hier, kommt die Zivil­ge­sell­schaft ins Spiel. Ja, sie braucht auch Geld, und ihre Ver­bände müs­sen für ihre Mit­glie­der darum kämp­fen. Aber es kann ihr nicht nur darum gehen, aus dem Füll­horn des Gel­des der Bür­ger bedient zu wer­den. Sie muss mit­ge­stal­ten! Sie ist nur glaub­haft, wenn ihre zahl­lo­sen, höchst hete­ro­ge­nen Akteure den Auf­trag anneh­men, jetzt – unver­züg­lich, wie jemand bekann­ter­ma­ßen und mit durch­schla­gen­dem Erfolg am 9. Novem­ber 1989 for­mu­liert hat – mit dem Nach­den­ken dar­über zu begin­nen und den Kampf dafür auf­zu­neh­men, die rich­ti­gen Leh­ren aus der Krise zu zie­hen. Es geht darum, Ver­säum­nisse und Resi­li­enz des Staa­tes nicht hin­zu­neh­men, son­dern des­sen Ver­tre­ter vor sich her­zu­trei­ben, um eine offene, plu­ra­lis­ti­sche, kos­mo­po­li­ti­sche und demo­kra­ti­sche Welt­ord­nung ent­ste­hen zu las­sen, in der Zivil­ge­sell­schaft, Markt und Staat koope­ra­tiv zusam­men­ar­bei­ten. Dafür gibt es jetzt ein Zeit­fens­ter. Wenn die Zivil­ge­sell­schaft zulässt, dass es sich wie­der schließt, ohne dass die­ses Ziel erreicht wurde, hat sie ihren Anspruch auf Teil­habe an der deli­be­ra­ti­ven Demo­kra­tie verwirkt.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 05/2020.

Von |2020-04-30T16:10:31+02:00April 30th, 2020|Bürgerschaftliches Engagement|Kommentare deaktiviert für

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Was kann und muss die Zivil­ge­sell­schaft tun?

Rupert Graf Strachwitz ist Politikwissenschaftler und leitet das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.