Wie ist es denn da so?

Der Jour­na­list Mar­kus Decker schrieb nach der Wende aus Sachsen-Anhalt

Ich kann mich an meine Ankunft im Osten noch gut erin­nern. Ein Jahr nach mei­nem Examen und ein hal­bes Jahr nach mei­nem Vor­stel­lungs­ge­spräch bei der „Mit­tel­deut­schen Zei­tung“ packte ich im Spät­som­mer 1992 das Nötigste in mei­nen roten Opel Corsa und fuhr von mei­ner Stu­den­ten-WG in Müns­ter in West­fa­len nach Sach­sen-Anhalt. Eine der zahl­rei­chen Lokal­re­dak­tio­nen der ehe­ma­li­gen SED-Bezirks­zei­tung namens „Frei­heit“ hatte ihren Sitz in Bern­burg; das liegt zwi­schen Mag­de­burg und Halle. Die schöne Indus­trie­stadt an der Saale sollte nun für 24 Monate meine neue Hei­mat werden.
Ich weiß noch, wie ich mich freute, als ich an einem Sonn­tag­abend das Haus in Augen­schein nahm, in dem sich Redak­tion und Geschäfts­stelle des Blat­tes befan­den. Es stand in der Lin­den­straße, der zen­tra­len Ein­kaufs­straße der Stadt, die alle den „Bou­le­vard“ nann­ten. Die­ser von Bäu­men gesäumte Bou­le­vard war schön und erin­nerte mich an zu Hause, wo wir in einer ähn­li­chen Ein­kaufs­straße eine Bäcke­rei besa­ßen. Vom Bou­le­vard fuhr ich wei­ter zum Bern­bur­ger Salz­berg­werk. Es hielt in schmuck­lo­sen Pavil­lons kleine Werks­woh­nun­gen bereit, in denen es nach dem unver­wech­sel­ba­ren DDR-Putz­mit­tel Wofa­sept roch und in dem ich fürs Erste mein Lager aufschlug.

Tags dar­auf, es war ein Mon­tag, suchte ich meine neuen Kol­le­gen auf, die mich flugs mit einem klei­nen Auf­trag ver­sa­hen, obwohl es erst am Diens­tag offi­zi­ell los­ge­hen sollte. An jenem Diens­tag saß ich dann mit mei­nen Volon­ta­ri­ats-Novi­zen aus Ost und West beim Chef­re­dak­teur in Halle. Der nahm sogleich aner­ken­nend mei­nen ers­ten Text in Augen­schein. Mein Leben im Osten ließ sich gut an.
Der Schritt aus dem Wes­ten war groß damals. Von Mag­de­burg nach Bern­burg brauchte man für 40 Kilo­me­ter bis­wei­len drei Stun­den; eine Auto­bahn gab es noch nicht. Die Sanie­rung vie­ler Gebäude hatte gerade erst begon­nen. Im Win­ter roch es über­all nach Kohle. Und in der Redak­tion gab es zwar für jeden der acht Redak­teure und zwei Sekre­tä­rin­nen einen Tele­fon­ap­pa­rat – dafür aber ledig­lich zwei Lei­tun­gen. Wenn zwei Kol­le­gen tele­fo­nier­ten, muss­ten die ande­ren warten.

Wie groß der Sprung von West nach Ost tat­säch­lich war, merkte ich an den Reak­tio­nen der Daheim­ge­blie­be­nen. Die frag­ten meist recht all­ge­mein „Wie ist es denn da so?“, hat­ten aller­dings längst wie­der abge­schal­tet, wenn ich zur Ant­wort ansetzte. Weil ich im Osten freund­lich, aber eben doch als „Wessi“ wahr­ge­nom­men wurde, hatte ich das Gefühl, mich emo­tio­nal für eines der bei­den Deutsch­län­der ent­schei­den zu müs­sen. Ich ent­schied mich für den Osten.

In Bern­burg lernte ich eine andere Gesell­schaft ken­nen. Meine Kol­le­gen waren teil­weise in der SED gewe­sen oder hat­ten ihr nahe­ge­stan­den. Das ver­schaffte mir mehr jour­na­lis­ti­sche Frei­räume, als ich im Wes­ten als 28-Jäh­ri­ger gehabt hätte. Die Arbeits­lo­sen­quote lag sei­ner­zeit bei etwa 25 Pro­zent; unge­fähr gleich viele Men­schen waren in Arbeits­be­schaf­fungs­maß­nah­men „geparkt“. Die meis­ten Ost­deut­schen hat­ten ihre alten Plätze in der Gesell­schaft ver­las­sen müs­sen und waren auf der Suche nach einem neuen. Neu war für mich auch, dass die Kir­chen eine Nischen­exis­tenz führ­ten – wobei die evan­ge­li­sche Kir­che noch die bedeu­ten­dere war. Ich kam aus einem katho­li­schen Eltern­haus, und im Müns­ter­land war der Katho­li­zis­mus dominant.

Dabei war es kein Zufall, dass ich in Sach­sen-Anhalt gelan­det war. Denn eine Affi­ni­tät zu Ost­deutsch­land hatte ich schon früh. Ich hatte vor 1989 Mos­kau und Prag bereist und eher zufäl­lig an einem FDJ-Jugend­la­ger in der Nähe von Pots­dam teil­ge­nom­men, kannte Wolf Bier­manns Plat­ten teil­weise aus­wen­dig, hatte ein Inter­view mit Ste­phan Kraw­c­zyk geführt, noch bevor die Mauer fiel – und fuhr, als sie dann tat­säch­lich gefal­len war, umge­hend mit dem Auto nach Ber­lin, um mir das aus der Nähe anzu­se­hen. Ich mochte die Ost­deut­schen – nicht zuletzt weil ich erlebte, dass sie es nach 1989 zunächst erneut schwe­rer hatten.
Im Übri­gen hatte ich beruf­li­ches Glück. West­deut­sche Ver­lage hat­ten die ost­deut­schen Bezirks­zei­tun­gen auf­ge­kauft und woll­ten die Redak­tio­nen mit neuen Leu­ten durch­mi­schen, gern auch mit West­deut­schen. Sie such­ten junge, auf­ge­schlos­sene und an Ost­deutsch­land inter­es­sierte Jour­na­lis­ten. Sie such­ten Men­schen wie mich. 1994 zog ich also von Bern­burg nach Wit­ten­berg, von dort 1999 nach Halle und von Halle 2001 nach (Ost-)Berlin. Meine Liebste kommt schließ­lich aus Thü­rin­gen. Und so wurde das Ost-Thema für mich lebens­prä­gend und iden­ti­täts­stif­tend. Drei Bücher sind dar­aus erwachsen.

Der im Osten sehr viel stär­kere Rechts­extre­mis­mus hat mich stets befrem­det. Doch ich habe ihn lange ver­drängt. Als ich mit mei­nem Freund Gün­ter aus Köln mal in der Nähe von Bern­burg auf einem Dorf­fest war und er mich auf die vie­len Neo­na­zis ansprach, redete ich das klein. Ich wollte nicht, dass Gün­ter schlecht über den Osten denkt.

Seit der „Flücht­lings­krise“ und dem Erstar­ken der AfD hat sich das geän­dert. Meine Geduld hatte sich erschöpft, als ich sah, wie in Sach­sen und anderswo eine Flücht­lings­un­ter­kunft nach der ande­ren atta­ckiert wurde. In Hei­denau war ich im August 2015 Augen- und Ohren­zeuge, als Kanz­le­rin Angela Mer­kel ins Visier von Rechts­extre­mis­ten und ver­meint­lich „besorg­ten Bür­gern“ geriet. Die­ser Hass und diese Kälte haben mich scho­ckiert und mir Angst gemacht. Noch mehr hat mich scho­ckiert, dass rechts­extre­mes Gedan­ken­gut in die Mitte der Gesell­schaft einsickerte.

Als ich im März 2018 in der Wochen­zei­tung „Die Zeit“ einen Text über die­sen ande­ren Blick auf den Osten publi­zierte, bekam ich viel Zustim­mung, gerade von Ost­deut­schen mitt­le­rer Jahr­gänge, die in grö­ße­ren Städ­ten leben und mir sag­ten, sie ver­stün­den ihre Lands­leute selbst nicht mehr. Frei­lich gab es auch Angriffe. Ein Ost-Kol­lege schrieb: „Dann geh doch rüber.“ Das war bitter.

Meine Kol­le­gen in Bern­burg hie­ßen übri­gens Andreas, Cars­ten, Engel­bert, Harald, Paul, Rai­mund, Rita und Yvonne. Es war eine leben­dige, lus­tige, auch kom­pli­zierte Redak­tion. Drei von ihnen sind tot. Ich habe alle noch vor Augen, als wäre es ges­tern gewesen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 02/2020.

Von |2020-02-06T10:54:46+01:00Februar 6th, 2020|Heimat|Kommentare deaktiviert für

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Der Jour­na­list Mar­kus Decker schrieb nach der Wende aus Sachsen-Anhalt

Markus Decker ist Korrespondent des RedaktionsNetzwerk Deutschlands.