„Sei Du im Dunkeln nah. Mir wird so bang. Ich habe Vaterland und Heim verlassen. Es wartet so viel Weh auf fremden Gassen. Gib Du mir deine Hand. Der Weg ist lang.“ Mascha Kaléko, die 1938 Deutschland verlassen musste, schrieb diese erschütternden, anrührenden Zeilen im Exil. Als Jüdin verfolgt und ihrer Wurzeln beraubt, gelang es ihr nie, in den USA und in Palästina heimisch zu werden und an frühere Erfolge anzuknüpfen.
Sie teilte mit zahllosen anderen in den Zeiten des Nationalsozialismus Vertriebenen die existenzielle Erfahrung des Verlusts der Heimat, des Verlusts geliebter Menschen, von Beruf, Sprache und Kultur. Und diese bittere Erfahrung müssen auch heute zahlreiche Schicksalsgenossinnen und -genossen aus anderen Ländern teilen. Wer von uns, die wir das Glück haben, seit über siebzig Jahren hier in Frieden zu leben, vermag wirklich zu ermessen, was der Verlust der Heimat bedeutet, wie man es erträgt, wenn man den Zeitpunkt der Rückkehr nicht kennt?
Der Wind weht mittlerweile weltweit schärfer. Angriffe auf demokratische Freiheiten gibt es auch in Demokratien. Man denke nur an die ermordeten Journalisten Daphne Caruana Galizia aus Malta und Ján Kuciak aus der Slowakei. Sogar hierzulande häufen sich Versuche einzelner gesellschaftlicher Gruppierungen, Künstlerinnen und Künstler einzuschüchtern und unabhängige Journalistinnen und Journalisten zu diffamieren. Das Bewusstsein für den Wert der Freiheit der Medien schwindet. Umso wichtiger ist es, daran zu erinnern, dass demokratische Freiheiten kein Besitz sind, sondern Errungenschaften, die dauerhaft das Engagement überzeugter Demokratinnen und Demokraten brauchen. Als den europäischen Werten sowie den Menschenrechten verpflichteter demokratischer Rechtsstaat erfordert nicht zuletzt unsere historische Verantwortung ein politisches und humanitäres Engagement für die Menschen, die gezwungen wurden, ins Exil zu gehen – das ist meine tiefste Überzeugung. Wir müssen ihnen eine Stimme geben – in Deutschland, in ihren Heimatländern und weltweit.
Auch deshalb bleibt es mir ein Anliegen, die Arbeits- und Lebensbedingungen ausländischer Künstlerinnen und Künstler im Exilland Deutschland stärker ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken – zumal Berlin sich in den vergangenen Jahren zur Exilhauptstadt für arabische Intellektuelle, zu einem, wie es einer von ihnen formuliert, neuen „kulturellen Damaskus“ entwickelt hat. Das geht aus einer Studie des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück mit dem Titel „Exil in der Bundesrepublik Deutschland“ hervor, die ich im vergangenen Jahr mit Blick auf den Zuzug Hunderttausender geflüchteter Menschen 2015 und 2016 angeregt habe. Darunter waren auch zahlreiche Künstlerinnen und Künstler. Die Studie ist auf der BKM-Homepage www.kulturstaatsministerin.de öffentlich zugänglich. Für ihre akribische Vermessung des Exillands Deutschland danke ich den Autoren der Studie, Laura Lotte Lemmer und Jochen Oltmer sehr, haben sie doch echte Pionierarbeit geleistet. Über deutsche Künstlerinnen und Künstler, die zur Zeit des Nationalsozialismus ins Exil gingen, ist viel publiziert worden, zur aktuellen Situation exilierter ausländischer Künstlerinnen und Künstler im deutschen Sprachraum gibt es jedoch nicht eine Monographie. Interviews mit Betroffenen und Expertinnen und Experten aus der Kulturszene, Workshops und Recherchen zu Fördersystemen und Förderstrukturen beleuchten jedoch nun hochinteressante Aspekte zum Thema.
Die Studie zeigt, dass die künstlerische Freiheit im Exilland Deutschland von Künstlerinnen und Künstlern wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Der Fortsetzung künstlerischer Arbeit in Deutschland stellen sich jedoch – das ist wenig überraschend – zahlreiche Hindernisse entgegen: Die Künstlerinnen und Künstler haben ihr Netzwerk im Heimatland verloren, ein neues müssen sie erst mühsam knüpfen. Die Anerkennung im Heimatland zählt nicht mehr, eine neue Reputation muss aufgebaut werden. Was als qualitativ hochwertige Kunst gilt, unterscheidet sich in verschiedenen Regionen der Welt. So hat z. B. die Lyrik im arabischsprachigen Raum einen höheren literarischen Stellenwert als in Deutschland. Ausbildungen werden vielfach nicht anerkannt, künstlerisches Schaffen oft nicht als professionelle Beschäftigung gewertet, und die Sprachbarriere erschwert insbesondere Autoren, Film- und Theaterschaffenden den Neuanfang. Hinzu kommen Sorgen um die Sicherung des Lebensunterhaltes. Künstlerinnen und Künstlern fehlt das explizite und implizite Wissen über Strukturen des deutschen Kunst- und Kulturbetriebes. Schließlich hängen vom Aufenthaltsstatus meist eingeschränkte Reisemöglichkeiten und die Arbeitserlaubnis ab. Und dies alles in einem Berufsfeld, das auch für Künstlerinnen und Künstler aus dem Inland in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht Herausforderungen birgt.
Ein positives Ergebnis der Studie ist zweifellos, dass es eine hohe Anzahl an Fördermöglichkeiten gibt: So konnten ungefähr 100 Programme, Projekte und Institutionen identifiziert werden, die auch Künstlerinnen und Künstler im Exil offenstehen, 65 richten sich speziell an diesen Personenkreis. Die Programme sind hochwillkommen, wenn auch der große Wunsch nach Förderkontinuität, nach Anschlussmöglichkeiten bestehen bleibt. So wünschen sich die Künstlerinnen und Künstler z. B. eine stärkere Einbeziehung in Entscheidungsprozesse, etwa bei der Konzeption neuer Künstler-Förderprogramme. Sie empfehlen verbesserte Informations- und Anlaufstellen, die auch bei Antragstellungen und Übersetzungen hilfreich sein können, außerdem die Möglichkeit, Projektförderanträge auch in anderen Sprachen zu verfassen sowie mehr Diversität, beispielsweise bei der Besetzung der Jurys für Künstlerförderprogramme und eine damit einhergehende Öffnung etablierter Kunst- und Kulturbetriebe.
Welche Schlüsse sind nun aus der Studie zu ziehen? Generell lässt sich feststellen, dass zur Verbesserung der Situation der Exilierten Bund, Länder, Kommunen und Zivilgesellschaft nur in enger Zusammenarbeit etwas bewirken können. Dabei müssen sich die Ziele an der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes orientieren. So liegt beispielsweise die individuelle Künstlerförderung in erster Linie in der Verantwortung der Länder und Kommunen.
Ich habe daher beim letzten Zusammentreffen mit den Kulturministerinnen und -ministern der Länder die Gelegenheit wahrgenommen, für die Studie zu werben und auf den daraus ersichtlichen Handlungsbedarf hinzuweisen.
Ich bin froh, dass die BKM bereits vieles auf den Weg bringen und erreichen konnte: Erst kürzlich haben wir das 20. Jubiläum des „Writers in Exile“-Programms gefeiert, das aus meinem Kulturetat finanziert wird. Verfolgte Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die oft Erschütterndes erlebt haben, erhalten bis zu drei Jahre Zuflucht in Deutschland. Das Programm „Writers in Exile“ bietet ihnen ein Dach über dem Kopf, finanzielle Hilfe und künstlerische Freiheit, Orientierungshilfe in der Fremde und Unterstützung im Alltag, Kontakte zu anderen Autorinnen und Autoren und auch menschliche Nähe, die das Leid des Entwurzeltseins hoffentlich ein wenig erträglicher machen – dank des engagierten Einsatzes des PEN-Zentrums, dem ich dafür herzlich danke. Darüber hinaus fördert mein Haus – und darin bestärkt uns nicht zuletzt der Erfolg des PEN-Programms – neuerdings auch das European Center for Press and Media Freedom, damit auch verfolgte Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit haben, im deutschen Exil zu leben und zu arbeiten. Hinsichtlich einer Öffnung für mehr Vielfalt hat die Bundesregierung bereits umfassende Maßnahmen ergriffen. Z. B. haben wir im Rahmen des »Nationalen Aktionsplans Integration« einen breit angelegten Dialog mit den bundesgeförderten Kultureinrichtungen begonnen. Außerdem haben wir das BKM-Förderprogramm „Kulturelle Vermittlung“ seit 2018 stärker auf Maßnahmen für mehr Vielfalt ausgerichtet. Auf diesem Weg müssen wir kulturpolitisch weiter vorangehen.
Das muss aber auch für den etablierten Kunst- und Kulturbetrieb gelten, dem die Studie weiterhin ein gravierendes Diversitätsproblem bescheinigt. Grundsätzlich steht eine Vielzahl an Institutionen der Problemlösung auf einer abstrakten Ebene zwar aufgeschlossen gegenüber, in der Praxis aber werden vergleichsweise wenig konkrete Maßnahmen vorangetrieben. So fehlt es beispielsweise vielerorts an Zukunftsperspektiven, weil es anderslautenden Bekenntnissen zum Trotz um die Aufgeschlossenheit für Vielfalt im Alltag des deutschen Kunst- und Kulturbetriebs noch nicht zum Besten bestellt ist. Schwarz auf weiß dokumentiert zu sehen, wo die gesellschaftliche Wirklichkeit den hehren Ansprüchen hinterherhinkt, hilft allen Beteiligten bei notwendigen Veränderungen.
Im Exil lebende Künstlerinnen und Künstler möchten in aller Regel nicht auf ihre Exilerfahrung reduziert werden. Viele von ihnen haben in der Zwischenzeit Erfolge aufzuweisen, sie haben Bücher herausgegeben, Konzerte gegeben, Preise gewonnen. Wenn sie sich dennoch wünschen, dass für ihre Belange die Lobbyarbeit verstärkt und damit ihre Interessen vermehrt in die Öffentlichkeit getragen werden sollten, dann bildet die Studie einen wichtigen Baustein zur Weiterentwicklung einer der Freiheit der Kunst verpflichteten Kulturpolitik. Dieser sollten wir uns alle verpflichtet fühlen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2019-01/2020.