Deut­sche Mus­lime leben Verantwortung

Ein­satz aus reli­giö­ser Über­zeu­gung gegen jeg­li­che grup­pen­spe­zi­fi­sche Menschenfeindlichkeit

Als Ende 2016, also vor gut drei Jah­ren, die Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion vom dama­li­gen Innen­mi­nis­ter Tho­mas de Mai­zière, von Arbeits­mi­nis­te­rin Andrea Nah­les, von Kul­tur­staats­mi­nis­te­rin Monika Grüt­ters, der Inte­gra­ti­ons­be­auf­trag­ten Aydan Özoğuz und dem Geschäfts­füh­rer des Deut­schen Kul­tur­ra­tes, Olaf Zim­mer­mann, ins Leben geru­fen wurde, gab es für mich kein Zögern. Ich war sofort bereit, darin mit­zu­wir­ken und den Koor­di­na­ti­ons­rat der Mus­lime in die­sem brei­ten Bünd­nis von ins­ge­samt 28 Orga­ni­sa­tio­nen zu ver­tre­ten. Die Mus­lime arbei­ten in der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion genauso selbst­ver­ständ­lich mit wie die bei­den christ­li­chen Kir­chen und der Zen­tral­rat der Juden in Deutsch­land. Diese Selbst­ver­ständ­lich­keit in der Zusam­men­ar­beit, keine „Extra­wurst“, aber auch kein „Kat­zen­tisch“ zeich­net die Zusam­men­ar­beit und den Geist der 15 The­sen „Zusam­men­halt in Viel­falt“ aus.

Hier wurde nicht nur reflek­tiert, ob in den jewei­li­gen Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten auch Rück­wärts­ge­wandte zu fin­den sind, son­dern es wurde auf den Dia­log gesetzt und jedem der Betei­lig­ten war klar, dass jeweils eine „bunte Truppe“ ver­tre­ten wurde, denn alle drei Buch­re­li­gio­nen, Juden­tum, Chris­ten­tum und Islam, zeich­nen sich durch eine hohe inner­re­li­giöse Viel­falt aus. Wer sich die­ser Viel­falt inner­halb der eige­nen Reli­gi­ons­ge­mein­schaft bewusst ist, ist auch offen für und neu­gie­rig auf andere.

Beson­ders gerun­gen wurde in der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion um die These, dass Reli­gion auch in den öffent­li­chen Raum gehört. Die Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­ter der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten haben ein­mü­tig hier­für plä­diert und an die Bedeu­tung des inter­re­li­giö­sen Dia­logs sowie die frie­dens­stif­tende Chance von Reli­gio­nen erin­nert. Für mich per­sön­lich ist es eine Selbst­ver­ständ­lich­keit, dass jeder sei­nen Glau­ben auch öffent­lich zei­gen und leben kann. Dazu gehö­ren Kir­chen, ebenso wie Syn­ago­gen und Moscheen. Ordens­ha­bits, Kreuze, Kip­pas oder Perü­cken kön­nen ebenso wie Kopf­tü­cher Aus­druck des Glau­bens sein.

Es sollte ebenso eine Selbst­ver­ständ­lich­keit sein, dass Jüdin­nen und Juden, so wie andere Gläu­bige auch, an ihren Fei­er­ta­gen und Gebets­ta­gen, also Juden am Shabat, Mus­lime am Frei­tag und Chris­ten am Sonn­tag, ihre jewei­li­gen Gebets­häu­ser auf­su­chen und mit­ein­an­der Got­tes­dienst fei­ern. Es ist in mei­nen Augen beschä­mend, dass in Deutsch­land Syn­ago­gen poli­zei­lich bewacht wer­den müs­sen und dass, wenn dies nicht aus­rei­chend geschieht, wie bei dem Anschlag auf die Syn­agoge in Halle/Saale an Jom Kip­pur im Sep­tem­ber die­ses Jah­res, sie um ihr Leben fürch­ten müs­sen. Ebenso ver­ur­teile ich in aller Schärfe Anschläge auf Moscheen in Deutsch­land oder wenn Frauen, nur weil sie ein Kopf­tuch tra­gen, auf offe­ner Straße belei­digt wer­den. Reli­giöse Tole­ranz sollte das Leben in Deutsch­land aus­zeich­nen. Ich jeden­falls mache mich dafür stark.

Die Ver­ant­wor­tung endet aber nicht mit der Reli­gi­ons­frei­heit. Alle in Deutsch­land leben­den Men­schen haben, wie ich finde, die Pflicht, sich mit der Geschichte des Lan­des aus­ein­an­der­zu­set­zen, in dem sie leben – ganz unab­hän­gig davon, ob sie deut­sche Staats­bür­ger sind oder nicht.
In den letz­ten Wochen hat­ten wir die Gele­gen­heit, 30 Jahre Fall der Mauer zu fei­ern. Ich hätte mir als jun­ger Rhein­län­der aus Aachen damals nie träu­men las­sen, dass ich den Fall der Mauer und die Ver­ei­ni­gung der bei­den deut­schen Staa­ten erlebe. Im kom­men­den Jahr steht die Feier zu 30 Jah­ren Wie­der­ver­ei­ni­gung an und trotz aller Unzu­läng­lich­kei­ten kön­nen wir mei­nes Erach­tens stolz auf das Erreichte sein.

Der Jah­res­tag des Mau­er­falls, der 9. Novem­ber, ver­deckt als Tag der Freude schnell ein ande­res Ereig­nis der deut­schen Geschichte, die Reichs­po­grom­nacht. Am 9. Novem­ber 1938 wur­den Syn­ago­gen in Deutsch­land ange­zün­det, die Schau­fens­ter von jüdi­schen Geschäfts­leu­ten ein­ge­wor­fen und ihre Waren geraubt oder zer­stört. Die Reichs­po­grom­nacht war nach den Nürn­ber­ger Geset­zen, in denen die Ent­rech­tung der jüdi­schen Bevöl­ke­rung juris­tisch erfolgte, Aus­druck der phy­si­schen Bedro­hung, die in den Kon­zen­tra­ti­ons- und Ver­nich­tungs­la­gern ihr grau­sa­mes Ende fand.

Als Zen­tral­rat der Mus­lime neh­men wir seit eini­gen Jah­ren in unse­ren ver­schie­de­nen Pro­gram­men die Ver­ant­wor­tung an, ins­be­son­dere junge Men­schen mit der deut­schen Geschichte, und hier beson­ders der Shoah, ver­traut zu machen. Zusam­men mit jun­gen Jüdin­nen und Juden set­zen sich junge Mus­li­min­nen und Mus­lime mit der deut­schen Geschichte aus­ein­an­der. In gemein­sa­men Semi­na­ren erfah­ren sie dar­über, set­zen sich mit dem Pro­zess der Ent­rech­tung von Jüdin­nen und Juden wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus aus­ein­an­der und gemein­sam besu­chen sie die Erin­ne­rungs­orte in Deutsch­land und in Polen. Gerade der Vor­be­rei­tung in gemein­sa­men Semi­na­ren, dem Spre­chen, dem Essen und dem Aus­tausch unter­ein­an­der mes­sen wir bei die­sen Vor­ha­ben große Bedeu­tung bei. Es geht um mehr als den Besuch einer KZ-Gedenk­stätte. Es geht um das Ken­nen­ler­nen und um gemein­same For­men der Erin­ne­rung. Junge Mus­lime und junge Juden stel­len dabei viele Gemein­sam­kei­ten fest. Beide gehö­ren sie in Deutsch­land Min­der­hei­ten an. Bei­den wird oft mit Vor­be­hal­ten und Vor­ur­tei­len begeg­net. Fast jeder von ihnen hat irgend­wie schon mal im All­tag mit Anti­se­mi­tis­mus, Mus­lim­feind­lich­keit, grup­pen­ge­zo­ge­ner Men­schen­feind­lich­keit zu tun gehabt. Aber auch die so ähn­li­chen Spei­se­vor­schrif­ten, halal und koscher, bie­ten zahl­rei­che Anknüp­fungs­punkte für Gemein­sam­kei­ten, ohne dabei auch The­men aus­zu­spa­ren und ohne die durch­aus vor­han­de­nen gegen­sei­ti­gen Vor­ur­teile zu ver­schlei­ern oder bei der Poli­ti­sie­rung der Reli­gio­nen im Nah­ost­kon­flikt oder auch Juden­feind­lich­keit unter Mus­li­men weg­zu­schauen. Sol­che Gesprä­che, sol­che Begeg­nun­gen wir­ken wie ein Abkling­be­cken und schär­fen den Blick auf das Wesent­li­che und auf die gemein­same Zukunft.

Ich konnte zusam­men unter ande­rem mit Rab­bi­ner Wal­ter Homolka im ver­gan­ge­nen Jahr eine Fahrt am Ende eines Semi­nars in das Kon­zen­tra­ti­ons- und Ver­nich­tungs­la­ger Ausch­witz beglei­ten. Für mich war es die erste Reise dort­hin, an den Ort des Schre­ckens, des unbe­schreib­li­chen mensch­li­chen Leids. Er ist ein furcht­erre­gen­des Sym­bol für die Ent­rech­tung, Ent­mensch­li­chung und Ver­fol­gung von Mil­lio­nen Men­schen, für den von Deut­schen began­ge­nen Zivi­li­sa­ti­ons­bruch, der Shoah. Man kann eigent­lich nicht wol­len, die­sen Ort zu besu­chen, weil er den Schre­cken vor Augen führt und den­noch als Erin­ne­rungs­ort nur einen Hauch des Unfass­ba­ren ver­mit­teln kann. Wir haben uns als Mus­lime auf­ge­macht – zusam­men mit unse­ren jüdi­schen Freun­den – ihn zu besu­chen, weil man die­sen Ort besu­chen muss, um wenigs­tens zu ver­su­chen zu ver­ste­hen, wel­che Ver­ant­wor­tung wir heute und in der Zukunft zu tra­gen haben.

Wir deut­schen Mus­lime – als Zen­tral­rat der Mus­lime in Deutsch­land alle­mal – haben uns an die­sem Ort zu unse­rer Ver­ant­wor­tung und damit für unsere Zukunft, unsere Gegen­wart und für unsere Geschichte unse­res Lan­des bekannt. Wir unter­strei­chen damit, uns für den Erhalt unse­res Rechts­staa­tes ein­zu­set­zen, für unsere frei­heit­li­che Demo­kra­tie, für unsere von Viel­falt geprägte, plu­rale Gemein­schaft in Deutsch­land ein­zu­tre­ten, die getra­gen sein soll von „Einig­keit und Recht und Frei­heit“, die „des Glü­ckes Unter­pfand“ sind, wie es so treff­lich in der Natio­nal­hymne beschrie­ben steht.

Die­ses Bekennt­nis bedeu­tet im isla­mi­schen Ver­ständ­nis, alles zu tun, alles zu unter­neh­men, damit sich eine der­ar­tige Kata­stro­phe wie die Shoah nie­mals wie­der­ho­len kann. Weder in unse­rem Land noch sonstwo auf die­ser Welt. Dies bedeu­tet, dass wir aus reli­giö­ser Über­zeu­gung gegen jeg­li­che grup­pen­spe­zi­fi­sche Men­schen­feind­lich­keit auf­ste­hen und unsere Stimme erhe­ben, uns dem Anti­se­mi­tis­mus wider­set­zen, allen Ras­sis­ten ent­schie­den die Stirn bie­ten. Jede Form von Anti­se­mi­tis­mus, grup­pen­spe­zi­fi­scher Men­schen­feind­lich­keit und Ras­sis­mus ist eine Sünde im Islam.

In sei­ner Abschluss­pre­digt sagte der Pro­phet des Islam: „Die gesamte Mensch­heit stammt von Adam und Eva ab. Ein Ara­ber hat weder einen Vor­rang vor einem Nicht-Ara­ber, noch hat ein Nicht-Ara­ber einen Vor­rang vor einem Ara­ber; Weiß hat kei­nen Vor­rang vor Schwarz, noch hat Schwarz irgend­ei­nen Vor­rang vor Weiß“. Dies ist das anti-ras­sis­ti­sche Mani­fest unse­res Pro­phe­ten, das anti-ras­sis­ti­sche Mani­fest des Islam. Und im edlen Koran heißt es „O ihr Men­schen, Wir haben euch von einem männ­li­chen und einem weib­li­chen Wesen erschaf­fen, und Wir haben euch zu Völ­kern und Stäm­men gemacht, damit ihr ein­an­der ken­nen­lernt. Der Ange­se­henste von euch bei Gott, das ist der Got­tes­fürch­tigste von euch. Gott ist gewiss all­wis­send und hat Kennt­nis von allem“ (Vers 49/Sure 13).

Die­ses Grund­ver­ständ­nis trägt uns, wenn wie Zeug­nis dar­über able­gen, was in Ausch­witz und in ande­ren Kon­zen­tra­ti­ons- und Ver­nich­tungs­la­gern an unfass­ba­rem Bösen gesche­hen ist. Wir ste­hen gegen das Ver­ges­sen. Wir wer­den uns mit unse­rer Kraft, mit der Kraft unse­res Glau­bens, gemein­sam für das „Nie wie­der Ausch­witz“ einsetzen.

Ich bin sehr gespannt, wie die Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion im kom­men­den Jahr einen beson­de­ren Akzent auf das Thema „Erin­ne­rung an die Shoah“ legen will, und werde mich an die­sen Dis­kus­sio­nen natür­lich gerne beteiligen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2019-01/2020.

Von |2019-12-20T11:58:58+01:00Dezember 20th, 2019|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

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Ein­satz aus reli­giö­ser Über­zeu­gung gegen jeg­li­che grup­pen­spe­zi­fi­sche Menschenfeindlichkeit

Aiman A. Mazyek ist deutscher Medienberater, Publizist und Vorsitzender des Zentralrates der Muslime in Deutschland.