Wir haben die Wie­der­ver­ei­ni­gung vergeigt

Ja, wir haben die Wie­der­ver­ei­ni­gung ver­geigt. Und zwar wir alle, der nor­male Ossi, der nor­male Wessi, die Poli­ti­ker und auch die Medien. Weil, sind wir ehr­lich, eine sol­che Sache kann man nicht ordent­lich hän­deln, dafür war sie zu ungewöhnlich.

Fast nie­mand hatte daran geglaubt, zu sei­nen Leb­zei­ten noch vor eine sol­che Her­aus­for­de­rung, dem Zusam­men­fü­gen zweier gänz­lich ver­schie­de­ner Gesell­schaf­ten, beruf­lich oder per­sön­lich gestellt zu wer­den. Auch nicht die muti­gen Men­schen in Leip­zig, die vor 30 Jah­ren auf die Straße gegan­gen sind und unter Ein­satz ihres Lebens für eine andere DDR gekämpft hat­ten. Erst spä­ter wurde aus „Wir sind das Volk“, „Wir sind ein Volk“.

Und der Wes­ten? Die meis­ten hat­ten die DDR längst abge­schrie­ben. Die DDR erschien mir, bei den weni­gen Rei­sen, die ich in den „real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus“ machen konnte, ein exo­ti­sches, fast unwirk­li­ches Land. Zwei Jahre vor dem Fall der Mauer hatte ich mei­nen aller­ers­ten Arti­kel für eine Zei­tung geschrie­ben: „Leip­zig, eine Berüh­rung“. Die knat­tern­den bon­bon­far­bi­gen Autos fas­zi­nier­ten mich damals, fast wie ein unbe­kann­tes Naturphänomen.

Nein, die Wie­der­ver­ei­ni­gung war ein Betriebs­un­fall, eine Ver­ket­tung glück­li­cher Umstände, die gegen jede Erwar­tung zu einem neuen Deutsch­land geführt haben. Doch wer wollte denn schon ein neues Deutsch­land? Die Ossis woll­ten rei­sen, shop­pen und keine bon­bon­far­be­nen Autos mehr, aber der Rest war doch für viele okay. Und wir Wes­sis fühl­ten uns wohl als Sie­ger der Geschichte und der Rest sollte bitte blei­ben, wie er war.

Damals, direkt nach der Wende, bin ich in einem Anflug von fast gren­zen­lo­ser Begeis­te­rung in die Noch-DDR gefah­ren, um zu schauen, ob ich meine Gale­rie von Köln nach Leip­zig ver­le­gen könnte. Aber dann hat die öko­no­mi­sche Ver­nunft doch über mei­nen Ent­de­cker­geist gesiegt.

Öko­no­mi­sche Ver­nunft war auch das Ziel in der gro­ßen Poli­tik. Was nicht ren­ta­bel war in der Post-DDR, und das war vie­les, wurde zer­schla­gen. Der Wes­ten über­nahm die Füh­rung. „Blü­hende Land­schaf­ten“ waren ver­spro­chen. Da, wo es Sie­ger gibt, gibt es aber auch immer Besiegte.

Die Besieg­ten sind nicht in Armut gesto­ßen wor­den, aber sie haben oft ihre per­sön­li­che Geschichte ver­lo­ren. Das Schick­sal ist oft­mals ungnä­dig, am fal­schen Ort, zur fal­schen Zeit und aus! Aber die Geschichte gibt dann den wei­ten Blick, mit grö­ße­rem zeit­li­chem Abstand. Und dann wird im Rück­blick die Ver­schmel­zung von Ost und West zum neuen Deutsch­land doch ein Erfolg gewe­sen sein, obwohl wir es voll­stän­dig ver­geigt hatten.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2019.

Von |2019-11-05T11:02:12+01:00November 5th, 2019|Heimat|Kommentare deaktiviert für Wir haben die Wie­der­ver­ei­ni­gung vergeigt
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber von Politik & Kultur.