Glas­nost und Perestroika

Gor­bat­schow schaffte einst den poli­ti­schen Klimawechsel

Inner­halb der SED, der ost­deut­schen Ein­heits­par­tei, bewegte sich auch Mitte der 1980er Jahre nach wie vor nichts, obwohl es in der Zwei-Mil­lio­nen-Par­tei immer wie­der stil­len Wider­spruch und Unzu­frie­den­heit gab. Jähr­lich stell­ten etwa 1.000 SED-Mit­glie­der einen Aus­rei­se­an­trag, eini­gen Hun­dert soll die Aus­reise gelun­gen sein. In die­ser Zeit begann die sowje­ti­sche Füh­rung, sich ernst­haft um die Sta­bi­li­tät und Wehr­be­reit­schaft der DDR zu sor­gen. Unter die­sem Druck war es der SED-Füh­rung beson­ders wich­tig, innen­po­li­ti­sche Sta­bi­li­tät vor­zu­wei­sen. Seit 1983 hoffte sie, durch die Gewäh­rung von Tau­sen­den Aus­rei­se­an­trä­gen die poli­ti­sche Oppo­si­tion zu schwä­chen bzw. auszuschalten.

Einige west­deut­sche Poli­ti­ker besuch­ten in den 1980er Jah­ren die Füh­rungs­spitze der SED, unter ihnen Oskar Lafon­taine, Franz Josef Strauß, der jah­re­lang Haupt­feind der SED-Pro­pa­ganda war, und der ehe­ma­lige Bun­des­kanz­ler Willy Brandt. Um der Ent­span­nungs­po­li­tik wil­len wur­den die innen­po­li­ti­schen Kon­flikte in der DDR durch sie über­se­hen und verdrängt.

In sei­ner Rede auf der 1. Ber­li­ner Begeg­nung 1981 mit west­deut­schen Schrift­stel­le­rin­nen und Schrift­stel­lern hatte Franz Füh­mann – und damit sprach er für viele – die Frie­dens­be­we­gung der 1980er Jahre als „Ansatz zu dem, was man Welt­in­nen­po­li­tik von unten nen­nen könnte“, bezeich­net: „das Auf­spren­gen eines Teu­fels­krei­ses, darin Miss­trauen und ver­mehrte Rüs­tung ver­mehr­tes Miss­trauen zeugen.“

Durch die Wahl Michail Gor­bat­schows zum Gene­ral­se­kre­tär der KPdSU im März 1985 kam ein uner­war­te­ter Pro­zess von oben in Gang, der auf die glei­chen For­de­run­gen hin­aus­lief: Auf­spren­gung des Teu­fels­krei­ses, Abbau von Miss­trauen und Rüs­tung, also ver­suchte Weltinnenpolitik.

Sicher war es ver­mes­sen, die Ber­li­ner Begeg­nung, auf der zum ers­ten Mal in der Geschichte der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik ost­deut­sche Künst­ler und Wis­sen­schaft­ler offen und öffent­lich Kri­tik an ihrem Staat und ihrer Staats­par­tei übten, als ein bewusst­seins­bil­den­des Vor­spiel zur Gor­bat­schows Initia­ti­ven zu sehen. War die Dul­dung der Kri­tik Kal­kül oder Hoch­mut der Polit-Spitze der DDR?

Erich Hon­ecker, der sich von der west­deut­schen Poli­tik auf­ge­wer­tet glaubte, igno­rierte ver­mut­lich aus die­sem Grund auf dem XI. Par­tei­tag der SED wesent­li­che Punkte der sich anbah­nen­den Ver­än­de­run­gen unter Michail Gor­bat­schow, der seit einem Jahr im Amt war. Obwohl Gor­bat­schow auf dem XI. Par­tei­tag der SED im April 1986 anwe­send war, ging Hon­ecker auf die Ent­wick­lung in der UdSSR nicht ein.

Völ­lig anders sahen das große Teile der ost­deut­schen Bevöl­ke­rung. Kei­ner wurde in der DDR so sehr als Hoff­nungs­trä­ger begrüßt von wei­ten Krei­sen der Künst­ler, ja der Intel­li­genz all­ge­mein wie Gor­bat­schow. Glas­nost (Offen­heit) und Pere­stroika (Umge­stal­tung) waren seit 1985 die Zau­ber­worte der Zeit, von denen sich die Men­schen mehr ver­spra­chen als von Par­tei­pro­gram­men und Ver­spre­chun­gen. Auf­fäl­lig war, dass die­ser sowje­ti­sche Poli­ti­ker in der Presse der DDR weni­ger empha­tisch geprie­sen wurde als in ande­ren Län­dern. Das hing offen­sicht­lich damit zusam­men, dass die Par­tei­füh­rung der DDR aus Grün­den der eige­nen Macht­er­hal­tung ver­suchte, einen Gegen­kurs zu dem Gor­bat­schows zu steu­ern. Die Sym­pa­thie der Bevöl­ke­rung aller­dings für Glas­nost und Pere­stroika war unge­bro­chen. Gor­bat­schow pro­pa­gierte ein „neues Den­ken“ und damit die „Pra­xis der sozia­len Eman­zi­pa­tion“. Fast konnte man von einer zwei­ten Rus­si­schen Revo­lu­tion spre­chen, die tat­säch­lich nicht nur in die­sem gro­ßen euro­pä­isch-asia­ti­schen Land zu einem Kli­ma­wech­sel führte. In einem US-Maga­zin berich­tete man vom Gorbi-Fie­ber. Mei­nungs­um­fra­gen in West­eu­ropa beschei­nig­ten ihm auch dort eine beein­dru­ckende Popu­la­ri­tät. Zu sei­nen ers­ten, auf­se­hen­er­re­gen­den poli­ti­schen Schrit­ten gehör­ten seine dra­ma­ti­schen Abrüs­tungs­ap­pelle, etwa der ver­trag­lich ver­ein­barte Test­stopp mit Kern­waf­fen vom 6. August 1985 und das Ange­bot an den Wes­ten, die gegen­sei­ti­gen Bezie­hun­gen auf eine neue Grund­lage zu stel­len. Seine Denk­an­sätze rich­tete er gegen „den Teu­fels­kreis des Schü­rens von Span­nun­gen“ und gegen „die alten Vor­stel­lun­gen vom Krieg als Mit­tel zum Errei­chen poli­ti­scher Ziele. (…) Ein neues Den­ken, das die Welt von heute braucht, ist mit der Vor­stel­lung unver­ein­bar, dass die Welt irgend­je­man­des Eigen­tum ist. Es ist unver­ein­bar mit Ver­su­chen, sich als Wohl­tä­ter auf­zu­spie­len und andere zu bevor­mun­den, unver­ein­bar mit Beleh­run­gen, wie sich jemand zu ver­hal­ten und wel­chen Weg er zu wäh­len hat – den sozia­lis­ti­schen, den kapi­ta­lis­ti­schen oder einen anderen.“

Das war die Steil­vor­lage für eine breite Demo­kra­tie­dis­kus­sion inner­halb der DDR-Oppo­si­tion. Dabei waren die Dif­fe­ren­zen etwa zwi­schen den Basis-Demo­kra­ten und den Men­schen­recht­lern nicht nur Vari­an­ten unter­schied­li­cher Ori­en­tie­run­gen, son­dern auch Kon­zepte ver­schie­de­ner poli­tisch-stra­te­gi­scher Vor­ge­hens­wei­sen für die Ein­lei­tung eines Demo­kra­ti­sie­rungs­pro­zes­ses bzw. den Anschluss an die Reform­be­we­gung in der UdSSR. Dabei sollte weni­ger das sowje­ti­sche Sys­tem kopiert, son­dern viel­mehr die poli­ti­sche Erstar­rung in der DDR über­wun­den werden.

Um ein sol­ches Zuge­ständ­nis zu ver­mei­den, igno­rierte die DDR-Füh­rung in vol­ler Absicht die Leit­be­griffe der sowje­ti­schen Reform­po­li­tik. Doch beson­ders Künst­ler und Intel­lek­tu­elle for­der­ten gesell­schaft­li­che Trans­pa­renz. Damit ver­bun­den eine all­ge­meine Öffent­lich­keit, die frei dis­ku­tiert, dass ein ver­än­der­ba­res, offe­nes Gesell­schafts­sys­tem obers­tes Ziel sein muss. Anders gesagt, eine „Über­gangs­ge­sell­schaft“ nach Vol­ker Braun, in der das Wis­sen der weni­gen und das Ver­schwei­gen für die vie­len zu Ende geht. Doch die Frage stand im Raum: Über­gang wohin? Der Dra­ma­ti­ker Vol­ker Braun schrieb in einer Anmer­kung zu sei­nem Stück „Tran­sit Europa“, das im Früh­jahr 1988 im Deut­schen Thea­ter Ber­lin urauf­ge­führt wurde: „das exil kann nur modell sein für die heu­tige befind­lich­keit, für unser aller leben im über­gang: die wir den alten kon­ti­nent unse­rer gefähr­li­chen gewohn­heit und anma­ßen­den wün­sche ver­las­sen müs­sen, ohne doch das neue ufer zu erken­nen zwi­schen uns“.

Mit den neuen Schlag­wor­ten Glas­nost und Pere­stroika hat­ten sich in der UdSSR spür­bare inner­po­li­ti­sche Ver­än­de­run­gen ange­kün­digt. Die Zustim­mung der SED-Füh­rung dazu war jedoch geteilt: Wäh­rend die Abrüs­tungs­ap­pelle Gor­bat­schows pro­pa­gan­dis­tisch auf­ge­nom­men wur­den, igno­rierte man die ideo­lo­gi­schen und inner­ge­sell­schaft­li­chen Bezie­hun­gen. Klas­sen­kampf als Mit­tel zur Erhal­tung des Frie­dens blieb in der DDR wei­ter­hin die prä­gende Parole.

Für Künst­le­rin­nen und Künst­ler, Schrift­stel­le­rin­nen und Schrift­stel­ler in der DDR war am Umbau der sowje­ti­schen Gesell­schaft und ihrem neuen Den­ken am inter­es­san­tes­ten, wie sich das Kon­zept „Glas­nost“ ent­wi­ckeln würde, in der Hoff­nung, die ange­kün­digte Trans­pa­renz der gesell­schaft­li­chen Vor­gänge würde auch in dem ein­ge­mau­er­ten Land Aus­wir­kun­gen auf die Auto­no­mie der Kunst haben. Die offi­zi­elle Kul­tur­po­li­tik reagierte aller­dings mit Vor­sicht und Zurück­hal­tung. Der Slo­gan „Von der Sowjet­union ler­nen heißt sie­gen ler­nen“ trat deut­lich in den Hin­ter­grund. Auch war nicht mehr die Rede davon, dass die Kul­tur­po­li­tik der Sowjet­union Vor­bild und Men­tor sei und man ver­klei­nerte Gor­bat­schows „neues Den­ken“ zu einer inner­so­wje­ti­schen Ange­le­gen­heit. Diese Inter­pre­ta­tion war nicht auf­recht­zu­er­hal­ten. Eine spür­bare Folge sowje­ti­scher Glas­nost für alle Kul­tur­in­ter­es­sier­ten war, dass plötz­lich kri­ti­sche Bücher, Stü­cke und Filme, die sich mit den Wider­sprü­chen in der Sowjet­union und ebenso mit denen im eige­nen Land beschäf­tig­ten dem Publi­kum zugän­gig wur­den. Auch wenn in der DDR seit 1985 keine lineare Ent­wick­lung in Rich­tung auf mehr Trans­pa­renz statt­ge­fun­den hatte, waren Anzei­chen da, die ermu­tig­ten. So wies Christa Wolf im Mai 1987 bei einem Schrift­stel­ler­ge­spräch in Ber­lin dar­auf hin, dass z. B. 66 Zei­len, die 1983 aus ihren „Kassandra“-Vorlesungen weg­zen­siert wor­den waren, inzwi­schen zu Aus­sa­gen und For­de­run­gen der gro­ßen Poli­tik erho­ben wur­den und in den Zei­tun­gen stan­den. Die Romane von Gün­ter de Bruyn, Vol­ker Braun oder Chris­toph Hein erreich­ten leich­ter die DDR-Öffent­lich­keit. Ein deutsch-deut­sches Kul­tur­ab­kom­men kam zustande; infolge wech­sel­sei­tige Thea­ter­gast­spiele, eine Koope­ra­tion der bei­den deut­schen Natio­nal­bi­blio­the­ken Leip­zig und Frank­furt am Main, Christa Wolf bekam den Natio­nal­preis der DDR, 1. Klasse, Gün­ter Grass konnte gedruckt und Samuel Beckett gespielt werden.

Doch die gewünschte „weit geöff­nete Tür“ blieb ange­lehnt, wie fol­gende Geschichte beweist, die Gre­gor Gysi zu erzäh­len wusste: Gor­bat­schow, der sich anläss­lich der Fei­ern zum 40. Jah­res­tag der DDR am 7. Okto­ber 1989 mit der SED-Füh­rung traf, habe lange über Refor­men gespro­chen. Die Genos­sen im Kreis des Polit­bü­ros, im Anschluss nach ihrer Mei­nung dazu gefragt, hät­ten alle geschwie­gen. So hätte Hon­ecker das Wort wie­der ergrif­fen und von einer Reise nach Magni­to­gorsk berich­tet. Dort wären einige der ihn beglei­ten­den Genos­sen in ein „Magasin“, ein Lebens­mit­tel­ge­schäft, gegan­gen. In die­sem Geschäft hätte es kei­nen Zucker gege­ben. Das war Hon­eckers Erwi­de­rung auf Gor­bat­schows Reform­vor­schläge. Und im Raum stand wort­los die ver­nich­tende Kri­tik: Wenn du nicht mal Zucker besor­gen kannst, schreibe mir nicht vor, zu wel­chen Refor­men ich mich ent­schlie­ßen muss.

Trotz­dem wurde para­do­xer­weise gestat­tet, dass die aus­ge­such­ten FDJ­ler des Fackel­zu­ges Unter den Lin­den in Ber­lin an die­sem 40. DDR-Jah­res­tag hin­auf auf die Tri­büne, auf der Erich Hon­ecker mit Michail Gor­bat­schow und ande­ren Par­tei­chefs stand, „Gorbi, Gorbi“ rufen durften.

Dann der Sturz der tota­li­tä­ren kom­mu­nis­ti­schen Herr­schaft in der DDR. Dass er sich gewalt­los ereig­nete, wird ent­schei­dend auch Gor­bat­schow zuge­schrie­ben. Die punk­tu­ell auf­kom­mende Trauer im Osten Deutsch­lands um das unter­ge­gan­gene Sys­tem war wohl nach 1990 die Trauer um das Ende einer Zeit der Bewäh­rung und der Selbst­be­haup­tung, die im Herbst 1989 ihren Höhe­punkt hatte.

Was in den kom­men­den Wochen und Mona­ten geschah, ist umfäng­lich doku­men­tiert worden.

Der berühmte Satz von Michail Gor­bat­schow „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ galt dem SED-Regime, des­sen Zeit zu Ende gegan­gen war.

In sei­nem Buch „Das neue Russ­land. Der Umbruch und das Sys­tem Putin“ schreibt der geschei­terte Michail Gor­bat­schow über sein Schick­sals­jahr 1991: „Es war bit­ter, dass die Pere­stroika auf der Hälfte ihres Weges gestoppt wurde, ja eigent­lich sogar am Anfang ihres Weges. Und schon damals hatte ich das Gefühl, dass das Erbe des Tota­li­ta­ris­mus in den Tra­di­tio­nen, Köp­fen und Sit­ten äußerst tief ver­an­kert war, dass es wohl in allen Poren unse­res gesell­schaft­li­chen Orga­nis­mus sitzt. Daher kam auch die alar­mierte Stim­mung, die mich damals in all die­sen Tagen nicht ver­las­sen hat und die bis heute, 20 Jahre spä­ter, nicht ver­schwun­den ist.“

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2019.

Von |2019-11-05T11:04:02+01:00November 5th, 2019|Heimat|Kommentare deaktiviert für

Glas­nost und Perestroika

Gor­bat­schow schaffte einst den poli­ti­schen Klimawechsel

Regine Möbius ist stellvertretende Bundesvorsitzende des Verbandes deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) und Vizepräsidentin des Deutschen Kulturrates